13. Kapitel

Nicoles Nervosität vor ihrem zweiten Date mit Jairus unterschied sich von der bei ihrer ersten Verabredung. Damals hatte sie sich generell Gedanken über Dating gemacht. Es war zu lange her. Die Regeln hatten sich geändert. Sie war außer Übung. Sie war noch nicht bereit. All solche Sachen. Ihre Nervosität hatte tausend Gründe gehabt, aber keiner davon war der Mann an sich gewesen.

Dieses Mal war es anders. Die Schmetterlinge im Bauch, die leichte Anspannung, das Schwindelgefühl – das hatte alles einzig mit Jairus zu tun. Was ihr überhaupt nicht gefiel.

Sie wollte ihn nicht mögen. Der Mann war für das Grauen namens Brad der Drache verantwortlich. Aber nachdem sie ihn nun kennengelernt hatte, wie konnte sie ihn da nicht mögen? Er war ein sehr netter Mann, der außerdem lustig und sexy war. Und wenn er lächelte, kribbelte ihr ganzer Körper.

Sie war dem Untergang geweiht. Schlimmer noch, sie hatte nichts anzuziehen.

Nicole starrte den Inhalt ihres Kleiderschranks an und stöhnte. Da war nichts Neues, nichts Süßes, und sie wollte sich nicht schon wieder etwas von Shannon leihen. Einmal war verständlich. Aber ein zweites Mal war peinlich.

Doch nichts von dem, was sie besaß, kam ihr angemessen vor. Sie wollte sich mit Jairus in McGrath’s Pub zum Dinner treffen. Dort gab es ein Barbecue, was zwar leger klang, es aber nicht war. Es handelte sich um eine besondere Veranstaltung, die nur einmal im Jahr stattfand und für die man vorher Karten kaufen musste. Deshalb brauchte sie etwas, das süß und ein klein bisschen sexy war.

Weiße Caprihosen, ein stylishes, ärmelloses Oberteil und umwerfende flache Sandalen. Oder ein schwingendes Kleid. Doch sie hatte nur einen kompletten Kleiderschrank voller Sportklamotten, abgetragenen Shorts und Tanktops. Dazu ein Sommerkleid, das zwar keine Flecken hatte, aber mindestens sechs Jahre alt war. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal etwas Neues gekauft hatte. Nicht einmal im Supersonderangebot.

»Ist es wirklich so?«, fragte sie sich, während sie ihre Sachen betrachtete. »Bestrafe ich mich für das Scheitern meiner Ehe?«

Das war zwar eine gute Frage, aber im Moment nicht hilfreich. Zuerst etwas zum Anziehen, dann die Selbstanalyse, sagte sie sich.

Erneut tauchte sie in ihren Schrank ein und fand einen weißen Jeansrock, an dem noch das Preisschild hing. Er war kürzer, als ihr lieb war, was erklärte, warum sie ihn noch nie getragen hatte. Sie warf ihn aufs Bett und begab sich auf die Suche nach einem Oberteil. Sie fand ein paar Tanktops sowie ein ärmelloses rotes Wickelshirt. Sie hielt inne, um ihre Optionen zu überdenken.

Das Wickelshirt war bezaubernd, hatte aber ein Dekolleté, das beinahe bis zum Bauchnabel ging. Auch wenn sie regelmäßig Sport trieb und es ihr nichts ausmachte, in engen Sportklamotten herumzulaufen, würde sie ihre Brüste nicht so zur Schau stellen. Aber da war noch das schlichte weiße Tanktop. Wenn sie das in den Rock steckte und das rote Wickelshirt darüberzog, könnte es gehen.

Die Klamottenkrise war abgewendet.

Schnell lief sie ins Badezimmer, um sich zu schminken. Die Veranstaltung fand auf der Promenade statt, was bedeutete, sie musste mit Sonne, Wind und vielleicht sogar Sprühwasser vom Meer rechnen. Also band sie ihre blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz, schüttelte ihren Pony aus und gab zwei Lagen Haarspray darüber. Dann zog sie sich an und dachte in letzter Sekunde daran, das Preisschild vom Rock abzuschneiden. Ihre schlichten braunen Sandalen waren zwar nicht der Hammer, aber sie mussten reichen. Fünf Minuten später war sie mit Tyler auf dem Weg zu Pams Apartment.

Pam hatte im Vorjahr ihr Haus an ihre Tochter übergeben und war in eine Wohnung am Strand gezogen. Die wiederum hatte sie von ihrer Freundin Shannon gekauft, die Adam geheiratet hatte und bei ihm eingezogen war. Das Ganze hatte stark an »Reise nach Jerusalem« erinnert – nur in der Wohnungsversion.

Nicole bog auf den Besucherparkplatz ein, stellte den Wagen ab und ging dann mit Tyler die Stufen zu Pams Wohnungstür hinauf. Er drückte auf die Klingel, und sofort hörten sie Lulus Bellen.

»Okay, kleines Mädchen«, klang Pams Stimme gedämpft durch die Tür.

Lulu wurde still. Nicole wusste, dass Pam sie auf den Arm genommen hatte. Wenn sie einen Hund hätte, dachte Nicole amüsiert, wäre der bestimmt nicht halb so wohlerzogen wie Lulu. Der kleine Chinesische Schopfhund schien Englisch genauso gut zu verstehen wie die meisten Menschen.

»Hey, ihr zwei!« Pam ließ sie hinein. »Tyler, wie findest du Lulus Outfit? Ich dachte, es würde dir gefallen.«

Aufgrund ihres mangelnden Fells musste Lulu sowohl vor Sonne als auch vor Kälte geschützt werden. Sie wurde immer mit Sonnencreme eingerieben und trug kleine T-Shirts oder Pullover, je nach Jahreszeit. Heute handelte es sich um ein stylishes Tanktop-Kleid im Camouflagemuster.

Lachend tätschelte Tyler die Hündin. »Sie ist ein Mädchen.«

»Mädchen können auch Soldaten sein«, sagte Nicole automatisch. »Lulu vielleicht nicht, aber andere Mädchen schon.«

»Keine, die so klein sind«, widersprach er.

»Da hast du natürlich recht.«

»Ich gebe zu, fürs Militär ist Lulu nicht geeignet«, sagte Pam und setzte die Hündin auf dem Boden ab, die sofort auf Nicole und Tyler zugerannt kam, um sie zu begrüßen. »Aber sie hat ein großes Herz.«

Tyler setzte sich im Flur auf den Boden und streckte die Arme aus. Lulu krabbelte auf seinen Schoß, stützte ihre winzigen Pfoten auf seine Brust und küsste sein gesamtes Gesicht ab. Tyler lachte und zog sie in seine Arme.

Nicole ließ ihre Sorgen bezüglich des abendlichen Dates kurz los, um zu bewundern, wie liebevoll und zärtlich Tyler war. Irgendwann werden die Hormone und der Gruppendruck ihn abhärten, dachte sie wehmütig. Aber sie hoffte, dass diese grundlegende Eigenschaft den Prozess des Erwachsenwerdens überlebte.

»Danke, dass du heute Abend auf ihn aufpasst«, sagte sie zu Pam.

»Ich liebe es, ihn bei mir zu haben, und das weißt du. Das ist eine gute Übung für die Zeit, wenn mein Enkel ein wenig größer ist. Vorausgesetzt, Jennifer wird sich jemals so weit entspannen, dass sie mich auf ihn aufpassen lässt, ohne ständig um mich herumzuwuseln.« Pam musterte ihre Freundin kurz. »Ich habe eine Kette, die perfekt zu deinem Outfit passt. Komm mit.«

Nicole folgte ihr in das große Schlafzimmer. Eine gläserne Schiebetür führte auf einen Balkon, der auf den Pazifik hinausging. Ein besserer Ausblick ist schwer zu finden, dachte Nicole.

Pam ging zu dem Standspiegel und zog an einem kleinen Knopf. Der Spiegel schwang auf und gab den Blick auf ein verborgenes Schmuckkästchen frei. Ketten hingen an Haken, und es gab kleine Regale, auf denen Armbänder, Ohrringe und Ringe lagen. Nicole bewunderte die Ordnung, andererseits war die angesichts der Besitzerin des Schmucks kein Wunder. Pam betrachtete noch einmal Nicoles Outfit, dann griff sie nach einer Kette mit roten, in Form eines Gänseblümchens gefassten Steinen.

»Das sind rote Korallen«, erklärte Pam und hielt ihr die Kette hin. »Ich habe auch die passenden Ohrringe dazu, aber ich glaube, das wäre zu viel. Deine silbernen Creolen sind schlicht und hübsch.«

»Danke.« Nicole nahm die Kette und legte sie sich um. »Ich werde sie mit meinem Leben beschützen.«

»Kein Grund, sich verrückt zu machen. Bring sie einfach wieder mit, wenn du Tyler abholst.« Pam lächelte und senkte die Stimme. »Also, schläfst du schon mit Jairus?«

Nicole spürte, dass sie errötete. Nach einem schnellen Blick in Richtung Flur schüttelte sie den Kopf. »Es ist erst unsere zweite Verabredung. Für Sex brauche ich länger.«

»Also, ich weiß nicht«, zog Pam sie auf. »Ihr jungen Leute heutzutage. Ich hatte seit über dreißig Jahren kein erstes Date mehr. Hat man Sex beim dritten Date? Oder beim vierten?«

»Du treibst mich in den Wahnsinn.« Nicole grinste. »Ich weiß es nicht, aber es wird nicht so bald so weit sein, das verspreche ich dir.«

»Ah, immerhin hast du nicht nie gesagt. Du magst ihn.«

Die Nervosität kehrte zurück und mit ihr das seltsame Gefühl in Nicoles Magen. »Ich will nicht darüber reden.«

»Also magst du ihn.«

Nicole berührte die Kette. »Danke, dass du sie mir leihst. Und dich um Tyler kümmerst.«

»Ich freue mich sehr auf unseren gemeinsamen Abend. Wir werden in Gary’s Café essen und es uns danach hier mit Lulu und einem Film gemütlich machen. Und nur damit du es weißt: Er darf so lange aufbleiben, wie er will.«

Nicole lachte. »Du weißt, dass er um neun auf dem Sofa einschlafen wird.«

»Das stimmt, aber wir werden trotzdem Spaß haben. Genau wie du, schätze ich. Selbst ohne Du-weißt-schon-was.«

Nicole hielt sich die Augen zu. »Bitte, hör auf, ich flehe dich an.« Sie umarmte ihre Freundin und ging dann ins Wohnzimmer. Tyler saß vor der Couch auf dem Fußboden und las Lulu, die neben ihm saß, etwas aus einem der Bücher vor, die Pam immer herumliegen hatte.

»Tschüss, mein Süßer«, rief sie.

»Tschüss, Mommy. Wir sehen uns später.«

»Auf jeden Fall.«

Sie winkte noch einmal und verließ die Wohnung. Tyler wurde so schnell groß. Schon bald würde er nicht mehr ihr kleiner Junge sein. Das würde ihr fehlen, aber sie freute sich auch darauf zu sehen, zu was für einem Mann er heranwachsen würde.

Auf dem Parkplatz ließ sie ihr Auto links liegen und ging zu Fuß in Richtung Promenade, denn von Pams Wohnung war es nur ein kurzer Weg zum McGrath’s. Und so war es wesentlich einfacher, als das kurze Stück mit dem Auto zu fahren und dann in der Nähe des Restaurants nach einem Parkplatz zu suchen.

Eine Viertelstunde später erblickte sie Jairus, der auf der niedrigen Mauer neben dem Turm der Rettungsschwimmer saß. Er schaute gerade in die andere Richtung, womit sie eine Sekunde Zeit hatte, um ihren Atem zu beruhigen.

Er sah gut aus. Groß und sportlich, dazu diese lässige Ausstrahlung – ein Mann, der sich in seiner Haut wohlfühlte. Zu seiner Jeans trug er ein Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen aufgerollt hatte, Segelschuhe ohne Socken und eine Sonnenbrille.

Er ist ein ansprechender Mann, dachte sie, wusste jedoch nicht, was sie mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn mochte. Und das verwirrte sie. Pams Frage zum Thema Sex hatte die Sache auch nicht einfacher gemacht. Was erwartete Jairus von ihr? Und was wollte sie ihm geben?

Er drehte sich in ihre Richtung. Sie wusste, dass er sie gesehen hatte, denn er wurde kurz ganz still. Wegen der Sonnenbrille konnte sie nicht mal erahnen, was er bei ihrem Anblick dachte.

Als sie näherkam, stand er auf und nahm die Sonnenbrille ab. Der Blick aus seinen braunen Augen war warm, das Lächeln voller aufrichtiger Freude.

»Pünktlich auf die Minute«, sagte er und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Du siehst hübsch aus.«

»Danke. Wir werden heute Abend keinen Sex haben.«

Das hatte sie gar nicht sagen wollen, aber nun konnte sie die Worte nicht mehr zurücknehmen.

Jairus schaute sie ein paar Sekunden an, dann lächelte er. »Ich kann es nicht erwarten, deine Freundinnen kennenzulernen.«

»Wie bitte?«

»Deine Freundinnen. Ich freue mich darauf, sie zu treffen. Ich wette, sie sind lustig.«

»Ich verstehe nicht …«

Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Jemand hat etwas darüber gesagt, wie lange man warten sollte, oder? Was dich dazu gebracht hat, über die Regeln beim Kennenlernen nachzudenken und darüber, wie lange es her ist, dass du dir darüber Gedanken machen musstest. Du bist ausgeflippt, weil du dir nicht mehr sicher bist.«

Sie entzog sich ihm. »Woher weißt du das? Männer sollen nicht so feinfühlig sein. Hör sofort auf damit.«

Er lachte. »Tut mir leid. Ich bin Autor. Ich beobachte Menschen, denke über sie nach. Ich kann nicht anders.« Sein Lächeln verschwand. Er trat näher und berührte Nicoles Wange.

»Nicole, ich verstehe das. Du bist nervös. Verdammt, ich bin auch nervös. Du bist wirklich attraktiv, und wenn du es mir anbieten würdest, wäre ich sofort dabei. Aber das tust du nicht, und das ist in Ordnung. Ich kann warten.«

»Was, wenn das Warten lange dauert?«, fragte sie beinahe flüsternd. »Wir wissen beide, dass du nicht auf Prostituierte stehst.«

Wieder lachte er. »Ich werde es überleben, okay? Ich möchte dich kennenlernen. Und ich möchte, dass du mich kennenlernst. Der Rest passiert zu seiner Zeit. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde dich nicht unter Druck setzen.«

Sie wollte ihm glauben, weil das alles so umwerfend klang. Und sie wollte, dass er log. Denn wenn er die Wahrheit sagte, steckte sie tief im Schlamassel. Wie sollte sie sich schützen, wenn er wirklich so ehrlich, anständig und nett war?

»Du wirkst besorgt«, merkte er an.

»Das bin ich, aber auch ich werde es überleben.«

Er zeigte zum Restaurant. »Bereit für das Sommer-Barbecue?«

»Auf jeden Fall.«

Auf dem Weg zu McGrath’s atmete Nicole einmal tief durch und ergriff dann so beiläufig wie möglich Jairus’ Hand. Er verschränkte seine Finger mit ihren, und gemeinsam gingen sie hinein.

Während sie darauf warteten, an ihren Tisch geführt zu werden, sagte Jairus: »Du weißt, dass bald ein neues Buch von mir erscheint?«

»Ja. Das ist so aufregend.«

»Lügnerin. Ich werde auf Lesereise gehen, das bedeutet, dass ich in den nächsten Wochen immer mal wieder ein paar Tage weg bin. Aber es gibt auch eine Signierstunde hier im Ort. Ich dachte, du würdest vielleicht gerne mit Tyler kommen. Ich kann euch VIP-Tickets besorgen.«

Das sind ganz schön viele Informationen, dachte sie. »Es gibt VIP-Tickets?«

»Natürlich. Brad ist ein VIP-Typ.« Er drückte ihre Finger. »Tyler muss nichts von uns erfahren, Nicole. Es wäre nur eine Signierstunde.«

Es gab ein uns? Wie in … Sie wusste es nicht. Aber sie würde auf keinen Fall nachfragen.

»Das wäre schön«, sagte sie stattdessen. »Tyler würde es lieben. Vielen Dank.«

»Gern geschehen.« Er zwinkerte ihr zu. »Du hast es in Brads inneren Kreis geschafft. Halte durch, Baby. Es wird eine höllische Fahrt.«

Sie lachte immer noch, als sie zu ihrem Tisch geführt wurden.

Hayley begann mit dem Aufräumen, sobald die letzten Kundinnen mit der jeweiligen Station fertig waren. Es war ein weiterer geschäftiger Tag im Supper’s in the Bag gewesen, an dessen Ende viele glückliche Menschen Mahlzeiten für ihre Familien mit nach Hause genommen hatten. Sie packte die übrig gebliebenen Lebensmittel weg und machte sich Notizen, welche Vorräte zur Neige gingen. Morgen würde alles wieder von vorne losgehen.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Geld ihre Schwester mit diesem Laden verdiente, aber sie schätzte, dass es nicht gerade wenig war. Vor allem, wenn man bedachte, dass Morgan nur gute dreißig Stunden in der Woche arbeiten musste.

Als alle Kundinnen fort waren, zog Morgan sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Puhhh. Besitzerin eines Kleinunternehmens zu sein, ist verflucht anstrengend. Ich wünschte, ich hätte einen reichen Mann geheiratet, damit ich zu Hause bleiben könnte und keine Verantwortung hätte.«

»Ja, das wäre nett.« Hayley setzte sich neben ihre Schwester. Normalerweise konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, aber heute Abend gab es keinen Grund zur Eile. »Es wäre nett, von jemandem umsorgt zu werden.«

Morgan schnaubte. »Als wenn du das jemals zulassen würdest. Du arbeitest doch ständig.«

Aber nicht, weil ich es will, dachte Hayley. Sie tat das nur, weil sie Geld für die verschiedenen Behandlungen verdienen musste. Niemand hatte Spaß daran, sechzig Stunden in der Woche zu arbeiten.

Morgan beugte sich vor und zog einen weiteren Stuhl heran, dann legte sie ihre Füße darauf und seufzte. »Brent macht mich verrückt. Dieser Mann … Er ist so auf die Kinder fixiert. Es gibt einfach zu viele Aktivitäten, und er will überall dabei sein. Aber am Samstagmorgen vergisst er immer, dass ich ihn brauche.«

»Die meisten Frauen würden sich freuen, wenn ihr Mann solch eine Hingabe für seine Kinder zeigen würde.«

»Das ist doch Blödsinn. Was ist mit mir? Mit meinen Bedürfnissen? Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich ihn ausgewählt habe.«

Hayley mochte Brent sehr. Er war ein hart arbeitender Kerl, der das Richtige tun wollte. Er hatte jemanden verdient, der ihn glücklich machte. Dummerweise hatte er eine Frau, die zuallererst immer an sich dachte.

Noch etwas, worin Morgan und ich uns unterscheiden, schoss es Hayley durch den Kopf. Morgan hatte immer gewusst, was sie wollte: einen guten Mann finden und heiraten. An einer Karriere war sie nie interessiert gewesen. Sie wünschte sich das, was in ihren Augen ein einfaches Leben war: Ehefrau und Mutter sein.

Brent hatte auch eine Familie haben wollen, aber erst hatte er das College beenden und vielleicht auf die Universität gehen und seinen MBA machen wollen. Er hatte mit Morgan über seine Ambitionen gesprochen und sie ermutigt, eigene Ziele zu entwickeln. Sie hatte angenommen, dass er ihr auf der College-Abschlussfeier einen Heiratsantrag machen würde. Doch stattdessen hatte er ihr erzählt, dass er bei mehreren Unis angenommen worden war, darunter einige an der Ostküste. Er hatte ihr nicht nur keinen Antrag gemacht, sondern auch noch vorgeschlagen, dass sie während seiner Abwesenheit ruhig mit anderen Leuten ausgehen sollte.

Innerhalb weniger Wochen war Morgan schwanger geworden. Brad hatte natürlich das Richtige getan: Er hatte einen Ring gekauft und Morgan einen Antrag gemacht. Morgan hatte so getan, als wäre sie geschockt, dann hatte sie Ja gesagt. Zwei Monate später waren sie verheiratet gewesen, und über seinen Traum, einen MBA zu machen, war nie wieder gesprochen worden.

»Brent ist so süß, und er liebt dich«, sagte Hayley. »Sei dankbar für das, was du hast.«

»Warum sollte ich? Du hast den guten Ehemann. Ich hätte es bei Rob probieren sollen.«

Hayley spürte, wie ihr bei den hässlichen Worten ihrer Schwester der Mund offen stehen blieb. Glaubte Morgan wirklich, Rob hätte sie vorgezogen, wenn er nur die Chance gehabt hätte?

Sie ermahnte sich, dass Rob ihre Schwester nie sonderlich gut hatte leiden können. Und dass Morgan einfach nur Morgan war. Wenn Rob zurückkam, würde sie ihm von der Unterhaltung erzählen, und er würde lachen. Er würde sie festhalten und ihr sagen, dass er sie liebte und …

Ihre Augen begannen zu brennen. Zu spät erkannte Hayley, dass sie die mentale Grenze überschritten hatte, die es ihr erlaubte, die Kontrolle zu behalten. Sehnsucht und Schmerz und Angst stiegen in ihr auf. Sie war so müde, und alles tat ihr weh, als wäre sie wieder und wieder die Treppe heruntergefallen.

»Was ist mit dir los?«, wollte ihre Schwester wissen. »Du machst so ein komisches Gesicht.«

»Nichts. Mir geht es gut.«

»So siehst du aber nicht aus. Bist du krank? Du wirst doch nicht anfangen zu bluten, oder?«

»Nein, das ist es nicht.« Hayley schluckte. »Rob hat mich verlassen. Er ist vor ein paar Tagen auszogen.«

Sie wusste, im Namen des Selbsterhalts war es ein großer Fehler, Morgan davon zu erzählen. Doch zugleich fragte sie sich, ob sie sich das absichtlich antat. Um die Wunde zu vertiefen, weil sie wusste, dass sie sich falsch verhalten hatte und es verdiente?

Ihre Schwester richtete sich auf. »Du spinnst. Das kann nicht sein. Dieser Mann ist verrückt nach dir.« Sie kniff die Augen zusammen. »Was hast du getan?«

Hayley erzählte es ihr. Von der Klinik in der Schweiz, von dem, was die Ärztin ihr gesagt hatte, von der Maklerin … alles. Morgan hörte staunend zu.

»Du bist so eine Idiotin. Aber das weißt du, oder? Mein Gott, Hayley, lass es los. Du kannst kein Baby bekommen. Buhuu. Komm drüber hinweg. Adoptier ein Kind.«

Die Worte taten weh. »Du verstehst das nicht.«

Morgan verdrehte die Augen. »Ach, bitte. Du bist so traurig. Armes, kleines adoptiertes Mädchen. Dein Leben war die Hölle. Ich wurde geliebt, und du wurdest gehasst.«

»Ich wurde nicht gehasst. Für mich war es nur anders.« Ihre Eltern hatten sie geliebt, aber nicht so sehr wie Morgan. Wieder und wieder hatten sie Morgen alles gegeben, was sie wollte – und zwar meistens auf Hayleys Kosten. Morgan war ihr leibliches Kind, und Hayley war es nicht. Das war nun mal die Realität.

Morgan winkte ab. »Hör auf, so eine verdammte Drama-Queen zu sein. Du hattest es leicht. Du bist ausgewählt worden. Sie haben sich für dich entschieden. Ich hingegen bin diejenige, die ihnen quasi zugeteilt wurde. Glaubst du, das wüsste ich nicht? Also werde endlich erwachsen, lass es hinter dir. So wie wir anderen es auch getan haben. Wenn du es nicht tust, wirst du das Beste verlieren, was du je hattest. Das wäre wirklich dumm.«

Hayley stand auf und griff nach ihrer Handtasche. »Ich muss los.«

»Ich habe recht«, rief Morgan ihr hinterher. »Ich habe recht, und das weißt du.«