14. Kapitel

Gabby ging schon seit ihrem Collegeabschluss zu derselben Gynäkologin. Dr. Mansfield gehörte zu einer Praxisgemeinschaft in Mischief Bay. Doch je größer die Praxis wurde, desto schwieriger war es, einen Termin zu bekommen. Und so hatte es beinahe zwei Wochen gedauert, bis sie mit Makayla bei der Ärztin vorstellig werden konnte.

Andrew hatte vorgehabt, erst mit Candace zu reden und ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Tochter zu der Untersuchung zu begleiten. Aber Candace hatte die beiden letzten Treffen mit Makayla platzen lassen, und der Zeitdruck war immer größer geworden. Deshalb stand Gabby nun am Empfangstresen der Praxis.

»Gabby Schaefer. Meine Stieftochter und ich haben einen Termin. Makayla ist eine neue Patientin.«

Die Frau Mitte vierzig, die hinter dem Computer saß, nickte. »Haben Sie die Papiere schon ausgefüllt?«

Gabby reichte ihr den Stapel und dazu die Versichertenkarte.

»Danke. Ich mache schnell eine Kopie und bin gleich zurück.« Die Rezeptionistin warf einen kurzen Blick auf die Formulare und sah dann Makayla an. »Sie ist schwanger?«

Gabby redete sich ein, dass in ihrer Stimme keine Verurteilung lag. Nichts Kritisches. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass die anderen Frauen im Wartezimmer sie alle anstarrten.

»Ja«, sagte sie so ruhig sie konnte.

»Okay.« Die Rezeptionistin nickte in Richtung der Tür, die zu den Untersuchungszimmern führte. »Sie muss eine Urinprobe abgeben.«

»Kein Problem.« Gabby wandte sich an Makayla. »Du musst in einen Becher pinkeln. Hast du das schon mal gemacht?«

Das Mädchen sah mit einem Mal ganz bleich aus und schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Damit können sie die Schwangerschaft bestätigen und zudem deinen Urin auf andere Dinge untersuchen«, erklärte Gabby ihr. »Zucker und was weiß ich nicht noch alles. Die Ärztin kann es dir erklären. Ich kümmere mich kurz hierum, dann begleite ich dich.«

Gabby reichte ihre Kreditkarte über den Tresen und unterschrieb die benötigten Formulare. Ihr fiel auf, dass sie keine Ahnung bezüglich ihrer juristischen Position hatte, was eine minderjährige Stieftochter anging. Ging sie als Betreuerin durch? Denn ein Elternteil war sie mit Sicherheit nicht.

Die Frage kläre ich ein andermal, sagte sie sich.

Gemeinsam mit Makayla ging sie zu den Toiletten. Dort erklärte sie dem Mädchen, wie man eine Urinprobe abgab, und ging dann hinaus auf den Flur, um dort zu warten.

Während sie dort stand, kam die Rezeptionistin mit einem Klemmbrett in der Hand auf sie zu. »Ich würde gerne noch ein paar Dinge bestätigen. Das Datum ihrer letzten Periode ist unbekannt?«

Gabby nickte. »Sie hat das nicht nachverfolgt.«

»Aber sie kennt die Daten, an denen sie Geschlechtsverkehr hatte?«

Gabby reckte das Kinn. »Ich glaube schon. Ja.«

Die Rezeptionistin nickte. »Und ihr Geburtsdatum ist korrekt?«

»Der 2. Mai 2001.«

»Okay, das wäre dann alles.«

Sie ist zwar sehr höflich, dachte Gabby, nachdem die Frau verschwunden war, aber da war etwas in ihrem Ton gewesen …

Wirklich vorwerfen konnte sie es der Frau nicht. Im umgekehrten Fall hätte Gabby beim Anblick einer schwangeren Fünfzehnjährigen auch über elterliches Versagen nachgedacht. Sie wollte der Frau sagen, dass es nicht ihre Schuld war. Dass sie diejenige war, die auf der »Keine Jungs im Zimmer«-Regel bestanden hatte. Dass ihre Warnung, nachdem sie das Mädchen und den Jungen beim Küssen erwischt hatte, nicht ernst genommen worden war. Dass sie nur die Stiefmutter war und so nur den ganzen Stress, aber keinerlei Macht hatte.

Doch das will niemand hören, dachte sie. Alle waren viel zu sehr mit ihren eigenen Leben beschäftigt. Sie hatten keine Zeit, mehr zu tun, als ein Urteil zu fällen und weiterzuziehen.

Makayla kam aus der Toilette, den Urinbecher in der Hand.

»Den kannst du hierhinstellen.« Gabby zeigte auf das Tablett neben der Tür. Makayla stellte den Becher ab, dann gingen sie und Gabby wieder ins Wartezimmer.

»Was passiert bei der Untersuchung?«, wollte Makayla wissen, als sie sich gesetzt hatten.

»Die Ärztin wird dir Fragen über deine Gesundheit stellen und dein Herz abhören. Dann wird sie deinen Unterleib untersuchen.«

»Was heißt das?«

O Gott. »Warst du noch nie bei einer Frauenärztin?«

»Nein. Nur bei meinem Kinderarzt.« Ihre großen blauen Augen schauten so vertrauensvoll drein. »Ist das hier anders?«

Gabby unterdrückte ein Stöhnen. »Ja, das ist es. Sie wird dich untersuchen und fühlen müssen, wo das Baby ist.« Warum hatte sie nicht vorher daran gedacht, danach zu fragen? Sie hätten gemeinsam im Internet recherchieren können, damit Makayla besser vorbereitet gewesen wäre.

Makayla zog sich zurück. »Du meinst, sie fasst mich … da an?«

»Dr. Mansfield ist wirklich nett. Du wirst sie mögen. Sie war meine Ärztin, als ich mit den Zwillingen schwanger war.«

»Auf keinen Fall.« Makayla sprang auf. »Das mache ich nicht.«

Die anderen Frauen im Wartezimmer schauten zu ihnen herüber.

Gabby stand auf. »Ich weiß, es ist unangenehm, daran zu denken, aber das ist zum Wohl des Babys. Willst du nicht sichergehen, dass es ihm gut geht?«

»Na ja, ich schätze schon.«

Beide setzten sich wieder. Gabby wünschte sich, überall anders zu sein, nur nicht hier.

»Du wirst einen seltsamen Krankenhauskittel tragen und eine Papierdecke über den Schoß gelegt bekommen«, sagte sie. »Ich kann mit dir im Zimmer bleiben oder draußen warten, wie es dir lieber ist.« Sie schaute das Mädchen an, das den Kopf gesenkt hatte. »Makayla?«

»Du sollst bleiben«, flüsterte sie, und Tränen tropften auf ihren Schoß.

Gabby legte sanft eine Hand auf ihren Rücken. »Es tut mir leid. Ich weiß, es ist viel. Die Untersuchungen werden leichter, das verspreche ich dir. Aber beim ersten Mal ist jede Frau peinlich berührt. Es ist einfach eine dieser seltsamen Sachen, die man durchstehen muss, doch letztlich schaffen wir es alle.«

»Danke. Ich weiß, es wird es wert sein, wenn Boyd und ich unser Baby haben.« Schniefend hob sie den Kopf. »Wir werden eine Familie sein.«

Das war nicht das, was Gabby hören wollte.

Eine Krise zurzeit, ermahnte sie sich. Heute musste sie einfach nur Makayla durch ihre erste Untersuchung bringen. Um den Rest konnte sie sich später kümmern.

Hayley traf früh im Latte-Da ein. Sie wollte einen guten Tisch aussuchen, an dem sie Rob kommen sehen konnte, anstatt überrascht zu werden, wenn er mit einem Mal hinter ihr auftauchte.

Am Tresen bestellte sie einen Latte macchiato, dann suchte sie sich einen Platz und holte ihr Buch heraus, um so zu tun, als würde sie lesen. Als wäre sie ein normaler Mensch, dem es gut ging. Als säße sie einfach nur an einem Samstagmorgen im Café und würde ihren Kaffee und ein gutes Buch genießen.

Die Wahrheit sah ganz anders aus. Sie war müde, so unendlich müde. Wie sollte sie auch schlafen, wenn das Bett so leer war? Außerdem hatte sie nicht wirklich viel gegessen, und ohne die richtige Ernährung war es für ihren Körper beinahe unmöglich, sich zu erholen.

Wenn sie ehrlich war, war sie ein totales Wrack. Ohne Rob fiel es ihr schwer, die Tage zu überstehen.

In all dem Stress zwischen ihren Versuchen, schwanger zu werden, und ihren Fehlgeburten hatte sie irgendwie vergessen, dass ohne ihren Mann nichts wichtig war. Sie hatte sich so auf ihren Zyklus, die Medikamente und ihre Eierstöcke konzentriert, dass sie den Mann, den sie liebte, vollkommen aus den Augen verloren hatte. Sie wusste nicht, wann genau diese Veränderung eingetreten war. Vermutlich langsam, im Laufe der Zeit. Doch das Endergebnis war das Gleiche: Er war fort, und sie wusste nicht, wie sie ihn zurückgewinnen sollte.

Nie hätte sie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Als sie und Rob einander kennengelernt hatten, war sie im zweiten Jahr auf dem College gewesen. Sie hatte fast Vollzeit gearbeitet und nebenbei jedes Semester ein paar Vorlesungen besucht. Ihr Plan war ein Abschluss in BWL gewesen – vielleicht mit Schwerpunkt Marketing. Dann war sie mit einer Freundin zu einer Party gegangen und hatte dort Rob getroffen.

Es war der Klassiker gewesen – ein Blick, und sie hatte gewusst, dass er der Mann ihres Lebens war. Vielleicht hatte es an seinem Lächeln gelegen oder daran, dass er einfach so ein süßer Kerl gewesen war. Auf jeden Fall hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt.

Natürlich hatte sie sich am Anfang bemüht, sich so cool wie möglich zu geben. Als er nach ihrer Telefonnummer gefragt hatte, hatte sie sie ihm ohne einen aufgeregten Jubelschrei gegeben. Als er sie eingeladen hatte, hatte sie getan, als müsse sie erst in ihrem Kalender nachschauen, ob sie Zeit hatte.

Sie waren am nächsten Abend ausgegangen. Und an dem danach. Bei ihrer fünften Verabredung hatten sie sich geliebt. Bei ihrer achten hatten sie zugegeben, verliebt zu sein. Am Ende des zweiten Monats waren sie verlobt gewesen.

Hayley hatte das College abgebrochen. Sie konnte nicht arbeiten, um Geld zu verdienen, aufs College gehen und in Rob verliebt sein. So viele Stunden hatten die Tage einfach nicht. Also war das College geopfert worden, damit sie Vollzeit arbeiten konnte. Sechs Monate nach der Hochzeit war sie zu John Eilands persönlicher Assistentin befördert worden. Die gestiegene Verantwortung war mit einer netten Gehaltserhöhung einhergegangen.

Rob und sie hatten früh begonnen, für ein eigenes Haus zu sparen. Sie hatten einen Plan gehabt. Drei Jahre Ehe, dann Kinder. Sie war beim ersten Versuch schwanger geworden, und sie waren beide so aufgeregt und glücklich gewesen. Dann hatte sie das Baby verloren.

»Bitte sehr.«

»Danke.« Hayley lächelte den Teenager an, der ihr den Latte macchiato gebracht hatte. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, richtete sie den Blick wieder auf ihr Buch. Doch anstelle von Wörtern sah sie das leere Zimmer in ihrem Haus. Das Zimmer, von dem sie so sicher gewesen war, dass es einmal ein Kinderzimmer sein würde.

Wir sind mal so glücklich gewesen, dachte sie wehmütig. Damals, bevor sie erkannt hatten, wie schwierig es für sie sein würde, ein eigenes Kind zu bekommen. Als sie noch nicht gewusst hatten, dass es Probleme gab, die es ihr unmöglich machten, ein Baby zu Ende auszutragen. Und bevor sie erfahren hatten, dass man ihre Eier nicht so einfach entnehmen konnte, womit eine Leihmutter außer Frage stand.

»Hayley.«

Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie Rob nicht hatte kommen sehen. Jetzt schaute sie auf und sah, dass er neben ihrem kleinen Tisch stand.

»Hi. Hast du dir einen Kaffee bestellt?«

»Danke, ich brauche nichts.«

Er setzte sich ihr gegenüber.

Er sah noch genauso aus wie immer. Die gleiche Frisur, die gleiche Brille. Vielleicht wirkte er ein wenig müde – sie glaubte, leichte Schatten unter seinen Augen zu sehen, aber das konnte auch an dem Licht im Café liegen. Glücklich darüber, sie zu sehen, wirkte er zwar nicht, aber auch nicht verärgert. Zumindest nicht offensichtlich.

»Was liest du da?«, fragte er.

Sie hob das Buch an, damit er den Titel sehen konnte, denn sie hatte keine Ahnung, was sie am Morgen in ihre Tasche geworfen hatte.

Beinahe zwei Wochen hatte sie Rob nicht mehr gesehen, und nun, wo er da war, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. »Du fehlst mir« wäre die offensichtliche Wahl, aber war es auch das Richtige?

»Wie geht es dir?«, fragte sie stattdessen.

»Hab auf der Arbeit viel zu tun. Und du?«

»Ja, ich auch.« Sie nahm ihren Latte macchiato in die Hand und stellte ihn gleich wieder ab. »Ich dachte, wir sollten reden.«

»Ja, das sehe ich auch so.«

Er trug noch seinen Ehering. Das war doch schon mal was. Denn sie hatte Angst gehabt, dass er ihn abnehmen würde. Dass verheiratet zu sein ihm nichts mehr bedeutete.

»Wo wohnst du im Moment?«, fragte sie.

»Ich habe mir ein Zimmer in einer WG gemietet. Nur ein paar Collegekids und ich.« Er lächelte kurz. »Ich glaube, ich senke den Coolnessfaktor, aber die Miete kommt immer pünktlich, also ertragen sie es.«

»Du könntest zurückkommen«, flüsterte sie. »Ich vermisse dich. Uns. Wir könnten zu einem Therapeuten gehen oder so. Ich meine, wenn das helfen würde.«

Während sie sprach, schaute er sie ganz ruhig an. Als sie fertig war, beugte er sich vor. »Ich liebe dich, Hayley. Mehr, als du ahnst. Du fehlst mir auch. Ich möchte nach Hause kommen, denn da gehöre ich hin.«

Ihre Anspannung ließ ein wenig nach. »Das ist doch wundervoll. Also komm heim.«

»Hast du mit der Ärztin gesprochen?«

»Was meinst du?«

»Hast du einen Termin für die OP gemacht?«

»Nein. Natürlich nicht. Das kann ich nicht.« Nun beugte sie sich eindringlich vor. »Rob, bitte versteh das. Ich muss das tun. Ich muss es versuchen. Ein Baby bedeutet mir alles. Das hast du immer gewusst.«

»Ja, das habe ich.«

»Dann weißt du auch, wie wundervoll es sein wird, wenn wir unsere eigene Familie haben. Das willst du doch auch.«

»Dich will ich mehr.« Seine Mundwinkel bewegten sich nach unten, und seine Augen füllten sich mit Traurigkeit. »Du hast immer noch vor, für die Behandlung in die Schweiz zu fliegen.«

Das war keine Frage, aber Hayley antwortete trotzdem. »Ja. Sobald ich das Geld dafür zusammenhabe.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich möchte, dass du ein Teil davon bist. Ich möchte …«

Er zog seine Hand zurück und stand auf. »Adieu, Hayley.«

Damit drehte er sich um und verließ das Café. Hayley blieb mit ihrem abkühlenden Kaffee und einem Buch zurück, von dem sie wusste, dass sie es niemals würde lesen können.

»Du siehst schön aus, Mommy«, sagte Kenzie.

Gabby drehte sich hin und her und ließ den Rock um ihre Beine schwingen. »Ich bin eine Prinzessin«, sagte sie dramatisch. »Ihr Dienstboten müsst tun, was ich will. Du da.« Sie zeigte auf Boomer. »Lass meine Kutsche vorfahren.«

Der Hund, der eine alberne gelb-violett-gestreifte Jacke anhatte, wedelte mit dem Schwanz. Die Zwillinge brachen kichernd auf dem Fußboden zusammen. Jasmine, die spürte, wenn etwas in der Luft lag, war geflohen, bevor die Verkleidungsparty angefangen hatte. Gabby schätze, sie lag sicher unter dem großen Doppelbett im Schlafzimmer und würde erst wieder herauskommen, wenn der Spaß vorbei war.

Es war spät am Freitagnachmittag. Andrew brachte Makayla für das Wochenende zu ihrer Mutter. Candace wusste, dass er etwas mit ihr besprechen wollte, hatte aber noch keine Ahnung, was. Gabby versuchte, sich nicht vorzustellen, wie die Unterhaltung lief. Andrew würde es ihr erzählen, wenn er wieder zu Hause war.

Sie drückte die »Tiara der Macht« fester auf den Kopf und zeigte auf Kennedy. »Du sollst quaken wie eine Ente«, sagte sie herrisch.

Kennedy setzte sich auf und quakte. Kenzie fiel mit ein, und Boomer jaulte. Nun, da ihr Befehl befolgt worden war, nahm Gabby die Tiara ab und reichte sie Kennedy.

»Ich übergebe meine Prinzessinnenmacht an dich.«

Und so ging es weiter. Alle durften mal Prinzessin sein und die anderen beiden herumkommandieren. Um kurz vor fünf scheuchte Gabby die Mädchen aus dem Spielzimmer ins Bad.

»Hände waschen«, sagte sie kurz angebunden. »Haare bürsten, und dann geht es los.«

Ellie Davidson aus dem Sommercamp hatte vier Mädchen zum Abendessen eingeladen. Gabby wusste nicht, wieso. Zum Mittagessen, okay. Geburtstagsparty am Nachmittag – fein. Aber ein Abendessen? Je später am Tag, umso müder die Kinder. Und je müder die Kinder, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe. Aber sie war nicht gefragt worden, und als die Mädchen die Einladung erhalten hatten, waren sie vor Vorfreude beinahe durchgedreht.

Zwanzig Minuten später waren sie zu Fuß auf dem Weg zu dem Haus, in dem Ellie wohnte. Es lag nur drei Straßenzüge entfernt. Kenzie und Kennedy hatten jeweils eine kleine Geschenktüte in der Hand.

»Es ist nett, der Gastgeberin etwas mitzubringen«, hatte Gabby erklärt. »Um ihr für die Einladung zu danken. Erwachsene bringen meistens Blumen oder Wein mit. Manchmal auch einen Nachtisch. Wir hätten auch Haarbänder oder ein Buch auswählen können.«

»Mrs. Davidson mag die Kekse bestimmt«, sagte Kennedy. »Sie sind lecker.«

Gabby musste sich auf ihre Worte verlassen, denn trotz der Makayla-Krise hatte sie sich strikt an ihre Diät gehalten. Laut ihrer Waage hatte sie bereits fast acht Pfund abgenommen. Ein fabelhafter Sieg. Zweimal in der Woche ging sie zu Nicole ins Studio, und sie aß wesentlich mehr Gemüse, als ein Zweibeiner zu sich nehmen sollte. Inzwischen war sie etwas weniger gereizt als am Anfang, aber noch genauso hungrig. Trotzdem, sie sah Ergebnisse, und das war alles, was zählte.

Den Shoppingtrip für neue Klamotten hatte sie für die Woche vor ihrem Arbeitsbeginn eingeplant. Hoffentlich wäre sie bis dahin eine Kleidergröße kleiner.

Als sie am Haus von Ellies Eltern ankamen, ließ Gabby die Zwillinge auf die Klingel drücken und wartete dann darauf, eingelassen zu werden. Sie begrüßte Mrs. Davidson, bestätigte noch einmal die Uhrzeit, zu der sie die Mädchen wieder abholen sollte, gab der Frau ihre Handynummer und ging.

Der späte Nachmittag war noch warm und sonnig. In einigen Gärten wurde gegrillt, und der Duft ließ ihren Magen knurren. Sie und Andrew hatten zum Abendessen ebenfalls ein paar Steaks, dazu hatte sie früher am Tag einen großen Salat zubereitet. Da Freitag war, würde sie sich ein Glas Wein erlauben. Nur eines. Und keinen Nachtisch. Das Leben war nicht fair.

Doch alle Gedanken an Hunger und Diäten verschwanden, als sie um die Ecke bog und Andrews Wagen in der Einfahrt stehen sah. Die letzten Meter zum Haus rannte sie fast.

»Ich bin wieder da!«, rief sie.

»Ich bin in der Küche.«

Sie fand Andrew an der Kücheninsel, wo er sich gerade ein Glas Scotch einschenkte. Er sah müde aus.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie.

»Candace hat mich nicht enttäuscht«, sagte er und hielt ihr die Flasche Rotwein hin, die Gabby auf der Arbeitsplatte hatte stehen lassen.

Sie nickte. »Auf gute oder auf schlechte Art?«

»Wir reden hier von Candace.«

»Also auf schlechte.«

»Sie hat geflucht. Sie hat uns die Schuld gegeben. Dann hat sie noch mehr geflucht und gesagt, wie enttäuscht sie wäre und dass sie für so etwas keine Zeit habe. Also alles in allem das, was wir erwartet hatten.«

Andrew schaute sie nicht an, während er sprach. Gabby wusste, seine Konzentration auf das Öffnen der Weinflasche hatte mehr damit zu tun, was er nicht sagen wollte.

Sie kannte Candace gut genug, um sich den Rest vorstellen zu können. In dieser Unterhaltung hatte es kein »wir« gegeben. Candace hatte die Schuld komplett Andrews neuer Frau in die Schuhe geschoben. Sie hatte sich vermutlich darüber ausgelassen, wie unverantwortlich Gabby war und wie unzureichend sie aufgepasst hatte und dass Makayla ein besseres Vorbild benötigte.

Candace hatte sie von Anfang an nicht leiden können, auch wenn Gabby nicht wusste, warum. Sie und Andrew hatten sich erst kennengelernt, als die Scheidung schon lange durch gewesen war. Und selbst wenn sie ihn vorher gekannt hätte, war es Candace, die die Ehe beendet hatte, nicht er. Sicher, Gabby war ein paar Jahre jünger, aber Candace war wesentlich glamouröser und hübscher. Sie hatte eine fabelhafte Karriere, viele Freunde, reiste ständig. Und doch war sie immer herablassend und abweisend gewesen.

»Es tut mir leid, dass sie so schlimm war.«

»Mir auch.« Er reichte ihr das Weinglas, und sie gingen auf die Terrasse hinaus. »Was für eine Woche.«

Nachdem sie sich auf die Bank gesetzt hatten, prostete Andrew seiner Frau zu und trank einen Schluck.

»Ich weiß nicht, wie viel Makayla mit angehört hat«, gestand er.

»Selbst wenn sie nichts gehört hat, kann sie sich vorstellen, was ihre Mutter gesagt hat. Ich wünschte, Candace würde sie mehr unterstützen.«

»Ja, ich auch. Ich bin froh, dass Makayla bei uns und nicht bei ihr wohnt. Wir werden dafür sorgen, dass sie die Schwangerschaft und alles danach heil übersteht.«

Gabby nickte. Die Freigabe zur Adoption setzte eine gute Planung voraus. Sie hatte im Internet recherchiert, und es schien, als könnte man alles Notwendige innerhalb weniger Monate auf die Beine stellen. Da Makayla immer noch davon überzeugt war, dass sie und Boyd einander liebten, war im Moment nicht der richtige Zeitpunkt, um die verschiedenen Optionen zu besprechen. Doch sie würden diese Unterhaltung in naher Zukunft führen müssen.

»Sobald das Baby geboren ist«, sagte sie, »kann das Leben in seine normalen Bahnen zurückkehren.«

»Es wird ein paar Veränderungen geben müssen.« Andrew sah sie an. »Mehr Regeln. Ich muss dir mehr zuhören.«

Sie lächelte. »Ja, das musst du. Makayla ist ein tolles Mädchen, aber sie braucht immer noch ein paar Grenzen. Keinen Sex mit Jungen mehr.«

Er lachte. »Sollte ich jetzt sagen, dass diese Regel zu spät kommt?«

»Vielleicht, aber ich finde sie trotzdem gut.« Natürlich war diese Regel vollkommen unrealistisch, aber es war nett zu glauben, dass sie so viel Kontrolle ausüben könnten.

Es wird noch viele Unterhaltungen und Entscheidungen geben, dachte sie. Würden sie die Ärztin bitten, Makayla die Pille zu verschreiben? Sie wäre bei der Geburt ihres Babys nicht einmal sechzehn. Was für ein Albtraum. Gabby wollte fragen, wie das alles hatte passieren können, aber die Antwort darauf kannte sie schon.

»Hast du was von Boyds Eltern gehört?«, fragte sie.

»Nein.«

»Ich auch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das kein gutes Zeichen ist.«

»Ich auch nicht.« Er lehnte sich zurück. »Wir sollten überlegen, ob wir nicht eine Familientherapie machen. Das wird für uns alle eine stressige Zeit. Ich möchte es nicht vermasseln, und ich möchte nicht, dass du dich zu sehr forderst.«

Ach, das ist einer der Gründe, warum ich ihn so liebe, dachte Gabby. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich höre mich mal um, ob jemand einen Therapeuten empfehlen kann.«

Andrew grinste sie an. »Willst du damit sagen, dass einige deiner Freundinnen verrückt sind?« Er hob abwehrend eine Hand. »Das ist Humor, Gabby. Ich weiß, dass eine Therapie eine gute Idee ist.«

»Ich akzeptiere den Kommentar in dem Sinne, in dem er gemeint war. Aber was das Verrücktsein angeht – ich glaube, das sind wir alle ein wenig.«