16. Kapitel

Vorsichtig zog Gabby den Reißverschluss der schwarzen Hose hoch, die sie sich gekauft hatte. Sie war – trotz Schlussverkauf – unglaublich teuer gewesen, aber so schön, dass sie nicht hatte widerstehen können. Außerdem war sie jetzt eine Kleidergröße kleiner als vor einem Monat, was den Kauf mithilfe ihres Gutscheins noch aufregender gemacht hatte.

»Gut gemacht«, flüsterte sie, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Sie hatte noch einen langen Weg vor sich, aber angesichts dessen, was gerade alles in ihrem Leben los war, machte sie das super.

Andrew betrat den begehbaren Kleiderschrank. Normalerweise wäre er schon lange bei der Arbeit, aber da er später am Vormittag zu einem Termin flog, hatte er beschlossen, vorher nicht noch im Büro vorbeizuschauen.

Die Kinder waren alle schon im Camp, sodass sie ein paar Stunden allein gehabt hatten, um einen Kaffee zu trinken und über die anstehende Woche zu reden. Jetzt sah er sie an, als sie sich vor dem Spiegel herumdrehte.

»Sehr sexy«, kommentierte er.

Sie grinste. »Das ist eine schwarze Hose. Die kann nicht sexy sein.«

»An dir schon.«

»Du Süßer.« Wieder musterte sie ihr Spiegelbild. »Nur noch vier Wochen. Ich kann es nicht glauben. Morgen in vier Wochen werde ich zum ersten Mal mein neues Büro betreten. Das wird so aufregend.«

Sie zog die Hose aus und hängte sie sorgfältig über den Bügel, dann zog sie ihre Jeans an. Andrew beobachtete sie. In seinen dunklen Augen lag etwas, das verdächtig nach Mitgefühl aussah. Oder war es Bedauern?

»Was ist?«, fragte sie.

»Es tut mir leid.«

»Was tut dir leid?«

Er legte seine Arme um sie. »Was du alles aufgeben musst. Ich bin froh, dass du dich auf die Arbeit freust. Du sollst es genießen, solange du kannst. Du weißt, wenn es einen anderen Weg gäbe, würden wir ihn finden. Gabby, du hast keine Ahnung, wie dankbar ich dir bin und wie mies ich mich fühle.«

Sie entzog sich seiner Umarmung. Ihr Ankleidezimmer war groß, mit viel Licht und Stauraum, aber in dieser Sekunde fühlte es sich eng und stickig an. Vielleicht lag das an der Besorgnis, die ihr die Brust zuschnürte.

Sie ging ins Badezimmer und drehte sich dort zu Andrew um. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Er neigte den Kopf. »Von deinem Job.«

»Ja. Ich fange in vier Wochen an.«

»Ich meine, ich fühle mich schlecht, dass du dich so darauf freust, wieder zu arbeiten, wenn du nur wenige Monate dortbleiben wirst. Ich bin dir so dankbar für alles, was du für die Familie aufgibst, und ich werde mein Bestes tun, um dich dafür zu entschädigen.«

Hitze flammte in ihr auf. Sie wusste, für die Wechseljahre war sie noch viel zu jung, aber noch während sie das dachte, wurde ihr auf einmal eiskalt. Nichts ergab einen Sinn – schon gar nicht Andrews Worte.

»Warum werde ich nur ein paar Monate arbeiten?«

Seine verwirrte Miene spiegelte ihre Gefühle. »Weil du nach der Geburt mit Makaylas Baby zu Hause bleiben wirst.«

Blind tastete Gabby nach dem Waschbecken hinter sich. Zu Hause bleiben? Zu Hause bleiben? »Nein. Das werde ich nicht. Wie kommst du darauf? Ich bleibe nicht zu Hause. Selbst wenn ich nicht wieder arbeiten gehen wollte – was ich will –, wird Makayla ihr Baby zur Adoption freigeben.«

Andrew schüttelte den Kopf. »Nein, wird sie nicht. Sie behält das Baby. Ich verstehe das nicht. Wir haben uns doch mehrmals darüber unterhalten. Selbst wenn sie und Boyd nicht zusammenbleiben, wird sie das Baby behalten. Sie wird unsere Hilfe benötigen.«

»Nein.« Sie bekam keine Luft mehr. Ein Panikanfall drohte. Eine Angst, die bis in die Knochen reicht und sie zittern ließ. »Nein, darüber haben wir nicht gesprochen. Wir haben darüber geredet, dass sie und Boyd zu jung sind. Zu jung, um sich um das Baby zu kümmern. Das hast du gesagt, und das habe ich gesagt.«

»Das sind sie ja auch. Deshalb braucht sie unsere Hilfe. Gabby, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Warum benimmst du dich so?«

»Ich? Hier geht es nicht um mich. Ich habe nie gesagt, dass ich mit dem Kind zu Hause bleibe.«

»Aber das musst du, Honey. Ich verstehe das nicht. Wir haben darüber geredet. Wir waren uns einig, dass unser Leben sich wieder normalisieren soll.«

»Ganz genau – nach der Adoption.«

»Nein, mit dem Baby. Makayla schafft das nicht allein. Ich liebe meine Tochter, aber wir wissen beide, dass sie noch nicht ansatzweise bereit ist, Mutter zu sein. Sie ist erst fünfzehn. Sie muss die Möglichkeit haben, Kind zu sein. Und sie muss zur Schule gehen, sich auf das College und ihre Zukunft vorbereiten.«

»Also bekommt sie ein Leben, aber ich soll meines aufgeben? Sie bekommt ein Baby, und das hat keinerlei Konsequenzen, aber ich soll alles aufgeben, um mich darum zu kümmern?« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme immer angespannter klang.

»Ich verstehe deine Reaktion nicht. Bevor wir die Zwillinge bekommen haben, haben wir so oft darüber gesprochen, dass ein Kind während der ersten fünf Jahre zu Hause von seinem Vater oder seiner Mutter betreut werden soll.«

»Vater oder Mutter – das sind in diesem Fall Boyd und Makayla. Nicht ich. Ich bin nicht die Mutter.«

»Aber sie kann das nicht! Das musst du doch einsehen.«

Nein, das sehe ich nicht ein, dachte sie und fragte sich, wie Andrew so ruhig bleiben konnte. Als wäre sie die Irrationale. Nichts an alldem war richtig. Oder fair. Oder vernünftig.

Sie atmete so schwer, als wäre sie gerade eine Meile gerannt, doch Andrew wirkte immer noch mehr verwirrt als verärgert.

»Offensichtlich müssen wir darüber noch mal sprechen«, sagte er, während er sein Handy aus der Hemdtasche nahm. »Mein Wagen ist da. Ich muss los.«

Sie nickte. Richtig. Denn er ging auf Geschäftsreise, und die Welt drehte sich weiter.

Sie wollte etwas nach ihm werfen. Einen Schuh. Oder ein Gebäude. Was zum Teufel hatte er sich nur gedacht? Auf keinen Fall würde sie ihr Leben für Makaylas Baby aufgeben. Ein Baby, das sicher sehr schnell adoptiert werden würde.

Andrew kam zu ihr. »Ich rufe dich heute Abend an«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Gabby nickte stumm.

An der Schlafzimmertür blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. »Ist zwischen uns alles in Ordnung?«

Sie nickte wieder. Das war es zwar nicht, aber was für einen Sinn hätte es, das jetzt zu sagen? Er musste los. Da war es besser, wenn es zwischen ihnen einigermaßen angenehm war. Wenn er zurück war, würden sie reden. Dann würde sie ihm verständlich machen, dass sie auf keinen Fall ihre Karriere aufgeben würde, um sich um Makaylas Baby zu kümmern. Weder jetzt noch sonst irgendwann.

Lange bevor sie die Augen aufschlug, spürte Hayley Bewegung um sich herum. Dazu hörte sie ein nerviges, regelmäßiges Piepen und leise Stimmen. Ab und zu breitete sich Wärme in ihr aus. Medikamente, dachte sie benebelt. Jemand verabreichte ihr Medikamente.

Sie ergab sich ihnen, so gut sie konnte. Eine Stimme – nein, das war zu stark –, ein Gefühl riet ihr, nicht aufzuwachen, bevor es unbedingt sein musste. Zu Bewusstsein zu kommen und sich dem zu stellen, was passiert war, wäre schlimm. Also rührte sie sich nicht, öffnete ihre Augen nicht, bis sie sie irgendwann nicht mehr geschlossen halten konnte.

Das Zimmer war ihr nicht vertraut, genauso wenig das Bett. Sie schloss die Augen kurz und öffnete sie wieder, als der Schmerz sich in ihr ausbreitete. Eine Art von Schmerz, die nur gedämpft, aber nicht vertrieben werden konnte.

Langsam atmete sie ein. Sie atmete von selbst. Das war gut. Sie bewegte ihren Arm und zuckte zusammen, als sie die Infusionsnadel spürte. Das Piepen war ihr Herzschlag.

»Wie geht es Ihnen?«

Die Stimme war ihr vertraut. Es war eine Stimme, die sie nicht hören wollte. Als Hayley den Kopf drehte, sah sie Dr. Pearce neben dem Bett stehen. Die Ärztin musterte sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge.

»Mir tut alles weh.«

»Sie haben einen Tropf gegen die Schmerzen. Können Sie den Knopf selber drücken, oder soll ich das tun?«

»Ich kann das.«

Hayley fand den Knopf und drückte darauf. Sofort durchströmte sie Erleichterung. Medikamente, dachte sie glücklich. Als Jugendliche hatte sie nie Drogen genommen, aber nun merkte sie, wie toll die waren.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Im Krankenhaus.«

»Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?«

Hayley kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, das sie mit einem Mal überkam. Das Blut. Da war so viel Blut gewesen.

»Ich habe den ganzen Fußboden im Büro eingesaut.«

Dr. Pearce lächelte. »Ich denke, damit werden sie klarkommen.«

Hayley nickte leicht. »Sie haben recht. Steven ist gut in solchen Dingen.«

Das Lächeln der Ärztin schwand. »Hayley, Sie haben geblutet. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte etwas anderes tun können, um Sie zu retten …«

»Stopp«, flüsterte Hayley. »Sagen Sie es nicht.«

Die Worte würden es nicht realer oder irrealer machen. Sie kannte die Wahrheit bereits. Spürte sie in dem Ziehen in ihrem Inneren, dem Schmerz des Schnitts. Ja, sie wusste, was passiert war. Sie wollte es nur nicht laut ausgesprochen hören.

»Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte …«

»Ich weiß.« Hayley spürte die Tränen auf ihren Wangen, auch wenn sie sich nicht bewusst war, dass sie weinte. Es war durch. Es gab kein Zurück mehr. Sie war erledigt. Total und komplett erledigt. Sie schloss die Augen.

»Wie nah war ich dran zu sterben?«

»Sehr nah. Sie haben große Mengen Blut verloren.«

Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, das war ihr klar. Besser gesagt: Ihrem Verstand war es klar. Ihr Herz jedoch … Ihr Herz schrie laut heraus, wie unfair das alles war. Ihr Herz schluchzte und weinte und fing an, Mauern aufzubauen, die nie wieder eingerissen werden konnten.

»Ich werde Rob Bescheid sagen, dass Sie wach sind.«

Hayley öffnete die Augen. »Er ist hier?«

»Natürlich. Er holt nur gerade einen Kaffee. Steven hat ihn kontaktiert, nachdem der den Krankenwagen gerufen hat. Rob ist kurz nach der Ambulanz hier eingetroffen.« Dr. Pearce drückte Hayleys Hand. »Es ist beinahe achtundvierzig Stunden her. Wir haben uns alle schon gefragt, wann Sie wohl aufwachen. Okay, dann sage ich Ihrem Mann Bescheid.« Damit verließ Dr. Pearce das Zimmer.

Rob war hier. Hayley klammerte sich an diesen Gedanken und zwang sich, gegen die Medikamente anzukämpfen und wach zu bleiben, bis sie ihn ins Zimmer kommen sah.

»Du siehst schrecklich aus«, erklärte sie ihm mit kratziger Stimme.

Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und ein Zweitagebart bedeckte Kinn und Wangen. Seine Kleidung war zerknittert, seine Brillengläser verschmiert.

»Hayley.«

Er hauchte ihren Namen, dann klappte er das Seitengitter auf der Seite herunter, auf der nicht der Tropf stand, und streckte sich neben Hayley auf dem schmalen Bett aus. Er berührte ihre Haare, ihre Wangen, wischte ihre Tränen fort.

»Du wärst beinahe gestorben«, sagte er. »Du wärst beinahe verblutet. Sie wollten mich nicht zu dir lassen. Du wärst beinahe gestorben«, wiederholte er.

Sie hörte die Angst in seiner Stimme. Die Anklage. Weil sie sich das selbst angetan hatte. Ihnen beiden. Von seinem Standpunkt aus betrachtet hätte sie aufgeben sollen. Hätte aufhören sollen zu kämpfen.

Sie freute sich so sehr, ihn zu sehen, und gleichzeitig wusste sie, dass es egal war. Wie ironisch. Nun, wo sie die Hysterektomie gehabt hatte, würde er zurückkommen. Sie würden zusammen sein. Aber ohne Baby würde sie nie wieder ganz werden. Sie würde nicht wieder die sein, die sie gewesen war. Er würde sie lieben, doch sie wäre fort.

Sie wusste, dass ihre Gedanken keinen Sinn ergaben. Das lag an den Medikamenten. Und vielleicht an dem, was sie durchgemacht hatte. Doch trotz allem kannte sie die Wahrheit. In ihrem Inneren war ein Loch. Eine Leere, die nie gefüllt werden würde.

Mit Mühe schob sie diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den Mann neben sich.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hätte nicht gehen sollen. Aber ich wusste keinen anderen Ausweg. Wusste nicht, wie ich sonst zu dir durchdringen konnte.«

»Ist schon gut.« Es hatte keinen Sinn, dass er auch litt.

»Alle waren schon hier«, fuhr er fort. »Alle deine Freunde. Steven und Pam und die Hälfte der Belegschaft. Sie haben alle Blut gespendet.« Er hob den Kopf. »Du hast mehrere Transfusionen bekommen. Hat Dr. Pearce dir das gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ist Steven sauer wegen des Teppichs?«

»Nein. Er ist froh, dass es dir gut geht.«

Zu reden tat weh. Sie war müde. So unglaublich müde. Ihre Augen fielen langsam zu.

Rob stand auf und klappte das Seitengitter wieder hoch, dann zog er sich einen Stuhl ans Bett. »Schlaf ein wenig, Hayley. Ich bin hier. Sie wollen, dass du noch eine Nacht hierbleibst. Ich bin bereits wieder nach Hause gezogen. Ich werde da sein, um mich um dich zu kümmern.«

Sie nickte, weil es nichts mehr zu sagen gab. Er war wieder in ihrem Leben. Er liebte sie, und er war zurück. Zu schade, dass es umsonst war. Es war zu spät. Für sie beide.

Let’s Do Tea war wirklich süß. Das Gebäude aus den 1920er-Jahren war einst ein Privathaus gewesen, dessen Architektur wie gemacht war für einen charmanten kleinen Laden. Im Erdgeschoss befand sich die Lebensmittelabteilung, in der es alle möglichen britischen Produkte von Ingwerbier bis hin zu Scones gab. Das obere Stockwerk beherbergte das Restaurant, auf dessen Speisekarte man sowohl herzhafte Pies als auch High-Tea fand.

Nicole sah, dass Gabby bereits einen Tisch besetzt hatte, und winkte ihr zu. Gabby erhob sich, und sie umarmten einander kurz.

»Ich bin ein Wrack«, stöhnte Nicole, als sie sich setzte. »Was wirklich traurig ist, weil nichts von alldem mir passiert ist.«

»Es war wirklich Furcht einflößend«, bestätigte Gabby. »Rob hatte so eine Angst, als er mich angerufen hat. Ich habe noch nicht alle Einzelheiten gehört, aber es klingt, als wären sie nicht sicher gewesen, ob Hayley durchkommt.«

»Ich weiß.« Nicole erschauderte. »Pam meinte, dass Steven nicht fassen konnte, wie viel Blut da war. Er dachte, sie würde gleich dort auf dem Fußboden im Büro sterben. Der arme Kerl. Offenbar steht er immer noch unter Schock. Aber sie hat es geschafft. Hast du Blut gespendet?«

Gabby nickte. »Ich bin 0 negativ, also lieben sie mich. Die Universalspenderin. Rob meinte, sie würde heute nach Hause kommen. Ich werde noch ein wenig warten, bevor ich sie besuche.«

»Ich auch. Ich möchte sie nicht erschöpfen. Ich wünschte nur, es gäbe etwas Konkretes, das ich tun könnte. Du weißt schon, Babysitten, Hundesitten, die Fugen in ihrem Badezimmer putzen.«

Gabby lächelte. »Fugenputzen ist zwar kein traditionelles Gute-Besserung-Geschenk, aber das sollte es sein.«

Nicole nahm die Speisekarte in die Hand und legte sie gleich wieder ab. Gabby sagte zwar die richtigen Dinge, aber irgendetwas stimmte nicht. Da war eine Anspannung in ihre Stimme, eine Steifheit in ihren Schultern.

»Geht es dir gut?«

Ihre Kellnerin wählte genau diesen Moment, um an ihren Tisch zu treten. »Guten Tag, Ladys«, sagte die etwas mollige Britin mit einem strahlenden Lächeln. »Wissen Sie schon, was Sie möchten?«

»Alle Kohlenhydrate, die Sie haben«, seufzte Gabby. »Oder vielleicht den High-Tea-Lunch. Mit Hühnchen-Sandwiches, bitte.«

Nicole zögerte kurz. Normalerweise bestellte sie immer einen Salat, aber irgendetwas verriet ihr, dass Zucker und Gluten heute passender wären. »Für mich das Gleiche.«

Sie gaben der Kellnerin die Speisekarten. Nachdem sie gegangen war, beugte Nicole sich vor.

»Schieß los.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich darüber reden kann«, gestand Gabby. »Was ist die Steigerung von fassungslos? Denn das würde meinen Zustand beschreiben.«

Nicole wartete geduldig. Sie kannte Gabby erst seit einem guten Jahr. Ihre Freundin war klug, kompetent und fürsorglich. Sie war nicht übertrieben dramatisch, sondern ein Mensch, der ein Problem sah und sich Lösungen überlegte. Wenn sie so durcheinander war, musste es wirklich schlimm sein.

»Ich habe doch erzählt, dass Makayla schwanger ist«, fing Gabby an.

Nicole nickte. »Als wir zum Lunch bei Gary’s waren.«

»Andrew und ich haben darüber gesprochen, was auf uns zukommt. Makayla und Boyd schwören, verliebt zu sein. Sie wollen zusammenbleiben und das Baby als Familie großziehen.«

Nicole verdrehte die Augen. »Ernsthaft? Ist sie überhaupt schon sechzehn, wenn das Kind zur Welt kommt?«

»Nein.«

»Wie wollen sie dann zusammen sein? Wird einer bei dem anderen einziehen? Schmeißen sie die Schule und suchen sich einen Job?« Sie presste die Lippen zusammen. »Sorry. Ich habe dich unterbrochen.«

»Du sprichst alles aus, was ich denke. Außerdem bezweifeln Andrew und ich, dass Boyd wirklich durchhält. Es liegt nicht nur daran, dass er ein sechzehnjähriger Junge ist, dem ein Baby das Leben vermasseln wird. Seine Mutter ist ziemlich wütend und aufgebracht. Wir sind uns sicher, dass sie ihn dazu drängen wird, die Beziehung zu beenden.«

Die Kellnerin kehrte mit einer Kanne Tee und einer Etagere voller winziger Scones und kleiner Gebäckstücke zurück.

Gabby wartete, bis sie wieder gegangen war, bevor sie ihnen beiden Tee einschenkte.

»Wir haben regelmäßig darüber gesprochen«, fuhr sie dann fort. »Das ist es, was mich so verwirrt. Denn ich dachte, wir stehen auf der gleichen Seite, aber das tun wir nicht.«

»Was meinst du damit?«

Gabby stellte die Teekanne ab. »Ich dachte, Makayla würde das Baby zur Adoption freigeben, und Andrew dachte, sie würde es behalten.«

»Wie bitte? Sie ist noch auf der Highschool. Ich nehme an, er will, dass seine Tochter ihren Abschluss macht. Wie soll das gehen?«

Gabby nippte an ihrem Tee.

Nicole starrte sie an. »Nein«, hauchte sie, weil sie es nicht glauben konnte. »Er erwartet nicht von dir, mit dem Baby zu Hause zu bleiben.«

»Doch, genau das erwartet er. Er hat mir gesagt, wie dankbar er mir ist, dass ich dafür alles aufgebe.«

Aber Andrew ist so nett, dachte Nicole. Doch sein Vorschlag schockierte sie. Er war ihr so unterstützend und liebevoll vorgekommen. Jeder, der ein wenig Zeit mit den beiden verbrachte, sah, was für ein tolles Paar sie waren. Andrew hatte immer fortschrittlich gedacht. War so im Einklang mit den Frauen in seinem Leben gewesen. »Wie kann er dich darum bitten, dein Leben aufzugeben? Es ist nicht dein Baby.«

»Danke.« Gabby nahm sich einen Scone. »Das habe ich auch gesagt. Warum darf Makayla mit ihrem Leben weitermachen, als wäre nichts passiert, und von mir wird erwartet, alles aufzugeben, um ihr Kind großzuziehen? Das ist nicht fair.«

»Du bist bestimmt wütend.«

»Das bin ich. Und verwirrt. Wir haben beinahe jeden Tag darüber gesprochen. Wie kann es sein, dass ich ihn nicht verstanden habe?«

»Außerdem ist da dein Job.« Nicole seufzte. »Darauf freust du dich schon seit Monaten. Ist ihm das nicht aufgefallen?«

»Doch. Aber irgendwie hat er wohl gedacht, ich wäre mit seiner Idee einverstanden.«

»Was willst du jetzt machen?«

»Keine Ahnung«, gab Gabby zu. »Er ist für ein paar Tage auf Geschäftsreise. Wir sprechen, wenn er zurück ist.« Sie griff nach dem nächsten Teilchen. »Ich weiß genau, wie das laufen wird«, sagte sie verbittert. »Er sagt, dass Makayla sich um das Baby kümmern muss, wenn sie zu Hause ist, aber das wird sie nicht tun. Er verweigert ihr nie etwas. Und es wird immer irgendwelche außerschulischen Aktivitäten geben. Footballspiele und Schulbälle. Und ich bin dann die Vollzeitmutter für ein Kind, das nicht mal meins ist.«

Ihr stiegen die Tränen in die Augen. »Ich liebe ihn, aber ich will das nicht machen. Ich will arbeiten gehen. Ich will mehr sein als eine Mutter. Klingt das schrecklich?«

Nicole streckte ihre Hand aus und berührte Gabbys Arm. »Natürlich nicht. Du liebst deine Mädchen, und du liebst Makayla. Hier geht es nicht darum, ob du fürsorglich bist, sondern darum, was richtig ist. Und für diese Lösung hast du dich nicht gemeldet. Habt ihr überhaupt schon mal über eine Adoptionsfreigabe gesprochen?«

»Das dachte ich, aber offensichtlich nicht. Makayla ist immer noch davon überzeugt, dass der Weg von Schmetterlingen und Rosen gesäumt sein wird. Bis sich das ändert und ich sie auf meine Seite ziehen kann, weiß ich nicht, was ich mit Andrew tun soll.«

»Zum Glück habt ihr noch ein wenig Zeit.«

Gabby nickte. »Laut der Ärztin ist der Geburtstermin Anfang Februar. Also ja, es ist noch ein bisschen Zeit.«

Aber nicht mehr viel. Das sagte Gabby zwar nicht laut, doch Nicole wusste, dass sie es dachte. Das ging vermutlich allen so.

»Ist sie nervös wegen des Schulbeginns?«

»Ich glaube schon. Sie hat nichts gesagt, aber sie muss nervös sein. Noch sieht man kaum etwas, aber das wird sich bald ändern. Es wird schwer für sie, zum Unterricht zu gehen, wenn sie immer dicker und dicker wird.«

Nicole erinnerte sich an ihre Schwangerschaft. Sie hatte sich zwar wahnsinnig gefreut, aber nach einer Weile war ihr der wachsende Körperumfang auf den Geist gegangen. Wie viel schlimmer musste es da für ein unverheiratetes fünfzehnjähriges Mädchen sein?

»Ich habe ein paarmal versucht, sie zum Shopping zu überreden«, erklärte Gabby. »Aber sie hat mich immer abblitzen lassen. Ich glaube, sie hat Angst, was mir wiederum leidtut.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Situation überfordert mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Hast du mit deiner Mom geredet?« Nicole wusste, dass Gabby ihren Eltern nahestand.

»Nein. Vor der Unterhaltung graut mir ebenfalls.«

»Warum? Sie hat doch selbst fünf Kinder großgezogen. Vielleicht hat sie einen guten Rat.«

Gabby nahm sich noch einen Scone. »So etwas ist keinem von uns jemals passiert. Sie wird mich verurteilen, das spüre ich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dem, was sie sagen wird, umgehen kann. Ich weiß, es geht nicht um mich, sondern um Makayla, aber trotzdem.«

»Wie kann ich dir helfen?«

Gabby seufzte. »Das tust du schon, einfach, indem du mir zuhörst. Im Moment kann, glaube ich, niemand wirklich etwas tun. Ich muss darauf warten, dass Andrew nach Hause kommt, damit wir die Sache geraderücken. Und dann können wir gemeinsam mit Makayla reden.«

»Das klingt nach einem Plan.« Doch Nicole hatte ihre Zweifel. Gabby und Andrew standen in dieser Sache auf zwei komplett verschiedenen Seiten. Wie sollten sie da einen Mittelweg finden? Außerdem: Falls Makayla und ihr Dad sich gegen Gabby verbündeten, würde das zu allen möglichen Problemen führen.

»Aber genug von der Seifenoper, die mein Leben ist«, erklärte Gabby. »Was ist bei dir los? Triffst du dich noch mit Jairus?«

Nicole befahl sich, nicht zu erröten. »So in der Art. Wir hatten ein zweites Date.«

Gabby zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und?«

»Es war nett. Ich mag ihn. Aber ich habe auch Angst. Meine Ehe war zum Scheitern verurteilt, und ich habe es erst herausgefunden, als sie vorbei war. Außerdem ist Jairus Autor. Ich war mit einem Autor verheiratet.«

»Ach bitte. Das ist, als hättest du einmal ein schlechtes Date mit einem Bauunternehmer gehabt und würdest ihnen jetzt für immer abschwören. Das Problem mit Eric war nicht sein Schreiben. Das war nur ein Symptom. Er war das Problem. Sieh ihn dir heute an.«

»Was meinst du?«

Gabby sprach sanfter weiter. »Er trifft Tyler nicht mehr. Er ist sein Dad, und es geht um einen Nachmittag alle zwei Wochen, und trotzdem taucht er nicht auf. Das hat nichts mit dir zu tun, sondern mit ihm. Aus irgendeinem Grund interessiert er sich nur für einen einzigen Menschen auf der Welt: sich selbst.«

So hatte Nicole das noch nie betrachtet. »Du meinst, mit ihm stimmt was nicht?«

»Ich glaube, er ist nicht wie wir anderen. Die meisten Leute wollen Teil von etwas sein – einer Familie, einer Gruppe von Freunden. Eric war nie so. Er steht auf das ganze Hollywoodzeugs, und es gefällt ihm, berühmt zu sein. Aber er hat keine Beziehungen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Die Kellnerin brachte ein Tablett mit Finger-Sandwiches und dazu einen Teller mit Pommes frites. Gabby griff beherzt zu.

»Es ist über ein Jahr her, dass er ausgezogen ist«, fuhr sie fort und wedelte mit ihrem Sandwich. »Es gibt keine andere Frau in seinem Leben, oder?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Vertrau mir, er würde wollen, dass du es erfährst. Er liebt es, von der Presse fotografiert zu werden, und auf den Fotos ist er immer ohne Begleitung. Ich sage nicht, dass er schwul ist. Ich glaube nur, er steht überhaupt nicht auf Intimität. Ich bin sicher, du hattest auch Schuld am Scheitern eurer Ehe. Dazu gehören immer zwei. Aber du bist nicht für mehr als dreißig Prozent verantwortlich. Und es liegt nicht daran, dass er Autor war.«

Was für eine Menge an Informationen, dachte Nicole. »Jairus macht mir trotzdem Angst.«

»Na klar. Er ist ein toller, erfolgreicher Mann, und du magst ihn. Außerdem ist er der Erste, mit dem du seit der Scheidung ausgegangen bist. Warum solltest du da keine Angst haben?«

»Bei dir klingt das so rational.«

»Ich bin sicher, du kannst auch meine Situation rational klingen lassen. Distanz schafft Perspektive.« Gabby schaute in Richtung der Küche. »Glaubst du, es gibt später noch Kekse?«