Obwohl Andrew immer mithalf, wenn er morgens zu Hause war, trug er gleichzeitig seinen Teil zum allgemeinen Chaos bei. Vielleicht ist das auch nur meine schlechte Laune, die da spricht, dachte Gabby, während sie den Zwillingen Frühstück machte. Aber so oder so: Sie war heute ausgesprochen dankbar, dass ihr Ehemann auf Geschäftsreise war.
»Ratet mal, was wir heute nach dem Camp machen«, sagte sie, während sie Rührei und Bacon auf den Tellern verteilte.
Die Zwillinge schauten sie mit großen, hoffnungsvollen Augen an. »Was denn, Mommy?«, fragte Kennedy.
Kenzie zog die Augenbrauen hoch, während ihre Lippen ein perfektes »O« formten. »Ich weiß es«, hauchte sie glücklich. »Ich weiß es, ich weiß es. Mommy.« Sie klatschte in die Hände. »Wir kaufen neue Kleidung für die Schule.«
Makayla, die ihnen gegenübersaß, warf Gabby einen ängstlichen Blick zu. »Wirklich?«
»Ich dachte, wir starten einen ersten Versuch. Die Schule beginnt in zwei Wochen. Ich habe keine Ahnung, wieso das auf einmal so schnell ging, aber so ist es nun mal. Wir müssen uns darauf vorbereiten.« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Meine kleinen Mädchen werden so schnell groß.«
»Wir wollen Kleider«, sagte Kenzie, die Modeprinzessin. »Und neue T-Shirts und Pullover.«
Kennedy richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Frühstück. Ihre bevorstehende Umwandlung in ein Schulmädchen schien sie nicht sonderlich zu interessieren. »Mommy, hast du der Lehrerin gesagt, dass wir schon alle Buchstaben können?«
»Das habe ich. Und dass ihr schon angefangen habt zu lesen. Sie war ziemlich beeindruckt.«
»Haarbänder«, warf Kenzie ein. »Mit Glitzer.«
Gabby lächelte Makayla an. »Sie weiß jedenfalls, was sie will.«
»Auf jeden Fall Glitzer.«
»Würdest du lieber an einem anderen Tag shoppen gehen?«, fragte Gabby ihre Stieftochter, denn sie wusste, mit der voranschreitenden Schwangerschaft könnte das Kaufen neuer Sachen kompliziert werden.
Die Erleichterung war Makayla deutlich anzusehen. »Ja, bitte.«
»Okay, dann machen wir das. Wir beide gehen, wenn dein Dad wieder zurück ist. Heute Nachmittag kümmern wir uns um die Zwillinge. Ich muss sie um eins abholen und wäre dann um Viertel nach eins bei dir. Ist das in Ordnung?«
Das Mädchen nickte. »Ich kann heute früher gehen. Das Camp neigt sich sowieso dem Ende zu.«
»Super. Dann gehen wir alle in die Shoppingmall, und wenn wir dort fertig sind, essen wir im Red Robin zu Abend.«
Die Zwillinge jubelten.
Gabby wusste, mit dieser Belohnung am Ende würden die Mädchen schnellere Entscheidungen treffen. Beziehungsweise Kenzie, denn Kennedy neigte dazu, allem zuzustimmen, was ihre Schwester zum Thema Mode vorschlug.
Wenn sie dann wieder zu Hause waren, wären alle erschöpft. Sie könnte die Mädchen mit einem Film vor den Fernseher setzen, während sie überlegte, welche der neuen Sachen vor dem ersten Tragen noch gewaschen werden mussten. Die Kleiderschränke der Zwillinge hatte sie schon durchsortiert und die Sachen unterteilt in jene, die auch für die Schule passten, und jene, die nur zum Spielen waren. Außerdem war ein ganzer Haufen an Kleidung angefallen, aus der die Mädchen herausgewachsen waren. Diese Sachen wollte Gabby spenden.
Kurz verspürte sie einen Anflug von Schuldgefühlen, weil sie die Kleider weggeben wollte. Makaylas Baby …
Sie schüttelte den Kopf. Auch wenn sie nicht mit Andrews Plan einverstanden war, wusste sie, dass es trotzdem so weit kommen könnte. Der Mann konnte ziemlich überzeugend sein. Gabby war zwar entschlossen, nicht mit Makaylas Baby zu Hause zu bleiben, aber wie lange würde ihre Entschlusskraft halten? Sie fing an, ihren Mann zu vermissen. Sie beide zu vermissen. Sollte sie zum Wohle aller …
Aber was war mit ihr? Was war mit dem, was sie wollte? Außerdem: Was für ein Vorbild war sie ihren Töchtern, wenn sie einknickte? Das waren ganz schön viele Fragen, und das vor ihrer ersten Tasse Kaffee.
»Okay, Leute«, sagte sie zu den Kindern. »Genug gequatscht. Esst jetzt. Wir müssen gleich los.«
Die Zwillinge aßen auf und rannten dann nach oben, um sich die Zähne zu putzen. Makayla ging mit, um sie zu überwachen, während Gabby die Lunchtüten packte. Ein paar Minuten später kam Makayla wieder runter.
»Sie ziehen gerade ihre Schuhe an«, sagte sie und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Was das Einkaufen angeht …«
Gabby stellte die letzten Teile in die Geschirrspülmaschine und wartete.
»Danke, dass du mit mir allein gehst. Ich will zwar eigentlich nichts Neues, aber ich brauche ein paar Sachen.«
Das hörte sich so gar nicht nach dem Teenager an, der sich normalerweise Gedanken um jedes Kleidungsstück in seinem Schrank machte.
Gabby drehte sich zu ihr um. »Was macht dir die größten Sorgen?«
Makayla errötete. »Dass jeder wissen wird, dass ich schwanger bin. Man sieht es langsam.« Sie zog ihr T-Shirt straff über den Bauch, und tatsächlich, da war eine kleine Wölbung zu sehen. »Sie werden über mich reden.«
Kinder konnten brutal sein, das wusste Gabby. Vor allem Mädchen im Teenageralter. »Hast du es schon jemandem erzählt?«
»Noch nicht.« Makayla ließ die Arme sinken und wandte den Blick ab. »Ich will nicht.«
»Deine Freundinnen wissen es nicht?«
»Nein.«
»Ach Liebes, du musst es ihnen sagen. Zumindest denen, denen du vertraust. Du brauchst die Unterstützung.«
Makayla sah sie wieder an. In ihren Augen schwammen Tränen. »Was soll ich denn sagen? Ich bin fünfzehn und schwanger, und mein Freund hat mich sitzen lassen?« Sie fing an zu weinen.
Gabby ging zu ihr und nahm sie in den Arm. »Ich weiß, das ist ätzend«, murmelte sie. »Aber es wird besser.«
»Wie?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nichts jemals gleich bleibt. Das hier ist ein Tiefpunkt, also wird es auch wieder einen Höhepunkt geben. Ich verspreche es dir.«
Während sie das sagte, hoffte sie, dass es nicht gelogen war. Dass es wirklich besser wurde. Für sie alle, aber vor allem für Makayla.
Hayley schenkte ihrer Freundin ein Glas Eistee ein. »Danke, dass du vorbeigekommen bist. Ich werde noch verrückt, den ganzen Tag allein im Haus. Steven hat gesagt, ich soll erst nach dem Labor Day zurückkommen.«
»Was für ein netter Chef.«
»Um ehrlich zu sein, ich glaube, er ist mehr traumatisiert als ich.«
Gabby hob abwehrend die Hände. »Kannst du ihm das vorwerfen? Versteh mich nicht falsch, aber du wärst fast gestorben. Das würde jeden in Angst und Schrecken versetzen.«
Sie saßen an dem kleinen Tisch in Hayleys Küche. Der Tag war warm und sonnig, deswegen stand die Schiebetür zum Garten offen. Später würde der Wind auffrischen, aber im Augenblick fühlte es sich an wie Sommer. Und das war genau das, was Hayley brauchte.
Es gab Momente, in denen war ihr so kalt, dass sie fürchtete, nie wieder warm zu werden. Natürlich wusste sie, dass dieses Kältegefühl in Wahrheit nichts mit ihrer Körpertemperatur zu tun hatte. Dass sie so fror, lag daran, was sie durchgemacht hatte. Aber sich das zu sagen, half leider auch nichts. Sie hatte angefangen, nachts im Bett Socken zu tragen und eine zweite Decke über sich zu ziehen, aber ihr war trotzdem kalt bis auf die Knochen. Was womöglich auch daran lag, dass sie immer noch allein im Bett schlief.
»Nur um das klarzustellen«, sagte Gabby lächelnd. »Du beschwerst dich darüber, zu viel Zeit zur Erholung zu bekommen. Ich frage mich, wer da Mitleid mit dir haben soll.«
Hayley lachte. »Okay, verstanden. Ich höre ja schon auf zu jammern.«
»Du jammerst nicht. Aber wir haben uns alle große Sorgen um dich gemacht. Steven ist vielleicht überfürsorglich, doch er meint es gut. Das solltest du im Kopf behalten.«
»Ich werde es versuchen. Es ist bloß … Ich bin definitiv bereit, zur Arbeit zurückzukehren. Ich muss wieder etwas zu tun haben.«
»Du hast hier doch schon viel gemacht. Die neue Farbe sieht super aus. Und auch der Garten wird langsam.«
»Danke.« Hayley hatte sich für einen halbtägigen Kurs in der örtlichen Baumschule angemeldet. Danach hatte sie ein paar Ideen gehabt, wie man den Vorgarten mit wenigen Handgriffen hübscher machen konnte. Rob hatte am Wochenende die Löcher gegraben, und sie hatte in den letzten Tagen die Blumen und Büsche eingepflanzt.
»Es geht mir besser«, gab sie zu. »Mein Körper erholt sich so langsam.« Ihr Herz nicht, aber das wollte niemand hören. »Also, was gibt es bei dir Neues?«
Gabby verzog das Gesicht. »Nichts. Andrew und ich streiten uns immer noch. Na ja, wir streiten uns nicht wirklich, sondern reden kaum miteinander.«
Hayley stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Er besteht immer noch darauf, dass du mit Makaylas Baby zu Hause bleibst?«
»Jupp.«
Hayley konnte es nicht fassen. Das war wirklich zu viel verlangt. Schon seit ein paar Jahren konnte Gabby es kaum mehr erwarten, endlich wieder zu arbeiten.
»Und er hört dir nicht zu?«
»Offensichtlich nicht. Ich habe versucht, es ihm ruhig zu erklären, aber wir machen keine Fortschritte. Als wir das letzte Mal darüber geredet haben, meinte er, er wäre enttäuscht von mir.« Gabby wandte den Kopf ab. »Das waren genau seine Worte. Ich verstehe das nicht. Warum zähle ich überhaupt nicht?«
»Du zählst, Gabby. Das weißt du. Er liebt dich. Er ist zwischen dir und seiner Tochter gefangen. Ich weiß, auf welche Seite er sich schlagen sollte, aber er muss das allein herausfinden.«
»Er ist so verdammt stur.« Gabby nippte an ihrem Tee. »Habe ich dir schon erzählt, dass Boyd weg ist?«
»Was? Nein. Oje, arme Makayla.«
Gabby berichtete ihr, wie der Junge einfach verschwunden war. Hayley hörte aufmerksam zu und zuckte zusammen, als sie von der SMS erfuhr.
»Das ist echt mies. Wer macht denn so etwas?«
»Ein sechzehnjähriger Junge«, erwiderte Gabby. »Sie tut mir so leid. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug. Als Nächstes müssen wir mit Candace reden. Was vermutlich nicht besonders gut ablaufen wird …« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich immer noch hoffe, dass Makayla sich entschließt, das Baby zur Adoption freizugeben.«
»Das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen«, erwiderte Hayley automatisch, während ihre Hände sich gleichzeitig verkrampften. Sie konnte über dieses Thema sprechen. Solange sie nicht zu sehr darüber nachdachte.
»Das würde viele Probleme lösen. Es gibt viele wundervolle Paare, die sich verzweifelt ein …« Gabby schlug sich die Hand vor den Mund. »Mein Gott. Sorry. Es tut mir leid.«
»Ist schon okay.«
»Nein, ist es nicht. Wie unsensibel von mir. Es ist nur, für eine Sekunde hatte ich es vergessen.«
Hayley gestattete sich ein kleines Lächeln. »So erstaunlich das auch sein mag, aber ich erwarte nicht, dass du jede Sekunde des Tages an mich denkst.«
»Aber ich bin deine Freundin. Ich sollte an dich denken.«
»Und das tust du auch. Gabby, es ist wirklich in Ordnung. Ich kenne die vorherrschende Meinung über Adoptionen.«
»Aber du willst diesen Weg nicht gehen?«
»Ich kann es nicht.«
»Ich dachte, deine Eltern wären gute Leute gewesen.«
»Das waren sie auch«, bestätigte Hayley langsam. »Es geht nicht darum, wie gut sie waren. Es geht um …«
»Morgan?«, fragte Gabby. »Du weißt, dass sie gerade echt in Schwierigkeiten steckt, wo du nicht da bist, oder? Letzte Woche war sie total am Durchdrehen. Sie hatte keine Unterstützung, und die Stationen waren noch nicht alle vorbereitet. Wir mussten das Gemüse selbst schneiden und die benötigten Gewürze suchen.«
Hayley dachte an die drei Nachrichten, die ihre Schwester ihr auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. »Wir sprechen nicht mehr miteinander. Bei ihrem letzten Besuch war sie ein wenig schwierig, und Rob hat sie rausgeworfen.« Hayley war nicht sicher, wie sie das fand. Einerseits war Robs Reaktion ziemlich heftig gewesen. Andererseits war so eine Morgan-freie Welt wundervoll friedlich.
»Sag mir, dass du nicht zu ihr zurückgehst«, flehte Gabby.
Nicht zu Supper’s in the Bag zurückgehen? Diese Möglichkeit hatte Hayley noch nie in Betracht gezogen. Sie musste doch helfen, schließlich war Morgan die einzige Familie, die sie noch hatte.
Doch während die Frage noch im Raum hing, wurde es Hayley plötzlich klar: Rob und sie brauchten das Geld nicht mehr. Wichtiger noch, sie hatte den Job nie sonderlich gemocht, und für Morgan zu arbeiten, war der reinste Albtraum. Ihre Schwester kommandierte alle ständig herum und verlangte immer zu viel und …
»O mein Gott«, hauchte sie. »Ich will nicht zurückgehen.«
»Ein Sieg!« Gabby prostete ihr mit dem Eistee zu. »Das freut mich für dich.«
War das wirklich eine gute Entscheidung? Hayley drehte das undefinierte Gefühl in ihrer Brust ein paarmal hin und her. Erleichterung, dachte sie vorsichtig. Vielleicht ein bisschen Freiheit gepaart mit leichter Aufregung? Sie könnte an den Wochenenden ausschlafen wie jeder normale Mensch. Ihre Freizeit könnte sie nutzen, um sich ein oder zwei Hobbys zuzulegen. Die Möglichkeiten waren endlos.
Aber sobald sie daran dachte, wie entspannt das alles sein würde, kehrte die Traurigkeit zurück und erdrückte sie beinahe. Die Schwere legte sich auf ihre Schultern und Oberschenkel, und mit einem Mal hatte sie Mühe zu atmen.
Gabby packte ihre Hand. »Das habe ich gesehen«, flüsterte sie. »O Hayley, wie kann ich dir helfen?«
»Das kannst du nicht. Ich muss das allein durchstehen.«
»Nein, musst du nicht. Deine Freunde lieben dich. Rob liebt dich. Du bist nicht allein.«
Obwohl sie wusste, dass das stimmte, machte es für Hayley keinen Unterschied. »Du verstehst das nicht.«
»Dann hilf mir, es zu verstehen. Warum musst du unbedingt ein leibliches Kind haben? Hat es was mit der DNA zu tun? Willst du weitergeben, wer du bist? Ist es wegen der biologischen Verbindung? Jemand, der aus dir entstammt, weil du nicht weißt, wer du bist, und mit dem Baby hättest du dann eine Verbindung?«
»Du scheinst viel darüber nachgedacht zu haben«, sagte Hayley, überrascht von Gabbys Einsichten.
»Natürlich habe ich das. Du bist meine Freundin. Ich will, dass du glücklich bist.«
Glücklich. Das klang nett. Unmöglich, aber nett.
»Bei mir war es eine Inkognito-Adoption«, erklärte Hayley langsam. »Ich habe meine Angaben bei mehreren Registern hinterlassen, aber offensichtlich wollen meine biologischen Eltern keinen Kontakt zu mir. Ich bin mir sicher, es gibt Wege, sie aufzuspüren, aber warum? Das ist einer der Gründe.«
»Ist Morgan auch einer der Gründe?«
»Ja. Sie ist so …«
»Zickig? Gemein? Egoistisch?« Gabby atmete tief ein. »Sorry, ich hab dich unterbrochen.«
Hayley brachte ein kleines Lächeln zustande. »Ja, aber das war eine gute Unterbrechung. Morgan ist schwierig. Es geht ausschließlich um sie. Ich frage mich, ob es schon immer so war.«
»Natürlich. Sie ist als Zicke auf die Welt gekommen. Ich weiß, du denkst immer noch darüber nach, warum deine Eltern sich ihr gegenüber anders verhalten haben. Das lag einfach daran, dass sie es mussten. So ein Benehmen und Egoismus bei einer Siebenjährigen?« Gabby schüttelte sich. »Was für ein Albtraum. Du warst das gute Kind. Vertrau mir. Sie haben Morgan nicht mehr geliebt. Sie haben sie anders geliebt.«
Es war klar, dass Gabby übertrieb. Aber in den Worten ihrer Freundin lag auch eine gewisse Wahrheit. Ja, dachte Hayley. Wenn sie akzeptierte, dass ihre Eltern sie genauso geliebt hatten wie Morgan, dann war diese Fixierung auf ein leibliches Kind irgendwie … albern. Bestimmt würde sie ein adoptiertes Kind genauso sehr lieben können wie ein eigenes, oder?
Wobei sie sich um solche Dinge sowieso keine Gedanken mehr machen musste. Sie konnte ja kein eigenes Kind bekommen. Außerdem waren derartige Vergleiche sinnlos. Es gab keine größere oder kleinere Liebe. Liebe war immer absolut. Rob zum Beispiel liebte sie über alles. Und blutsverwandt waren sie deshalb ja natürlich nicht.
»Ich bin so verwirrt«, gab sie zu und lächelte. »Aber eines weiß ich. Du bist eine gute Freundin.«
»Nein, ich bin eine durchschnittliche Freundin. Eine gute Freundin würde nicht so viel jammern.«
»Du jammerst überhaupt nicht. Bei dir ist gerade viel los. Makayla und ihre Schwangerschaft. Andrew und seine unmögliche Forderung.«
Gabby lachte. »Stimmt.« Ihr Lächeln schwand. »Was Makaylas Baby angeht …«, setzte sie an.
»Nein«, unterbrach Hayley sie. »Das könnte ich nicht. Selbst wenn ich ein Kind adoptieren würde, das wäre zu nah. Ergibt das Sinn? Makayla wäre direkt nebenan, genau wie du und Andrew.«
»Ja, das verstehe ich«, versicherte Gabby ihr. »Das treibt das Prinzip einer offenen Adoption dann doch zu weit. Aber falls es was hilft, du wärst meine erste Wahl.«
Ein weiteres, heilendes Puzzleteil füllte einen kleinen Teil des Lochs in Hayleys Herzen. Sie streckte den Arm aus und drückte Gabbys Hand. »Das bedeutet mir sehr viel.«
Gabby war erst einmal zuvor in Candaces Stadthaus gewesen. Das dreistöckige Gebäude war genauso kühl-elegant wie seine Bewohnerin. Weiße Wände, blasser Dielenboden, weiße und elfenbeinfarbene Möbel und orangefarbene Accessoires als einzige Farbtupfer. Aus den Fenstern konnte man das Meer sehen, und alle Räume waren großzügig und luftig. Keine Spielzeuge, keine Hundehaare, nichts, das verriet, dass hier wirklich ein Mensch wohnte.
Sie und Andrew hatten die Zwillinge mit Cecelia zu Hause gelassen, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten. Makayla hatte darum gebettelt, ebenfalls zu Hause bleiben zu dürfen, aber da sie über ihre Schwangerschaft und die Folgen von Boyds Abtauchen reden wollten, war ihre Anwesenheit wichtig.
Gabby graute aus mehreren Gründen vor diesem Treffen. Einer davon war, dass Andrew und sie immer noch nicht allzu liebevoll miteinander umgingen. Auch wenn Candace ihren Exmann nicht zurückhaben wollte, ging Gabby davon aus, dass sie eine gewisse Genugtuung darüber empfinden würde, dass es Ärger im Paradies gab. Deshalb saß Gabby neben ihrem Ehemann und lächelte an den richtigen Stellen. Überraschenderweise hatte Makayla sich auf ihre andere Seite gesetzt und drängte sich an sie.
Candace machte sich nicht die Mühe, ihnen etwas zu trinken anzubieten. Stattdessen blickte sie immer wieder auf ihre mit Diamanten besetzte Platinuhr und sagte: »Ich bin mir nicht sicher, was für einen Sinn das alles hat. Es überrascht mich nicht, dass Boyd abgehauen ist. Makayla ist fünfzehn und schwanger. Wenn es für eine Abtreibung zu spät ist, wird sie das Baby zur Adoption freigeben.«
Gabby konnte noch immer nicht fassen, dass sie und Candace tatsächlich einer Meinung waren. Auch wenn Gabby die Situation etwas diplomatischer zusammengefasst hätte.
»Das will Makayla aber nicht«, erklärte Andrew seiner Ex.
Candace ließ ihren kühlen Blick zu ihrer Tochter schweifen und seufzte schwer. »Wirklich? Du bist so dumm, das Baby behalten zu wollen?«
Makayla errötete.
»Candace«, warf Andrew angespannt ein. »Sei nicht so zickig.«
»Das hier ist mein Haus. Da lasse ich mir nicht von dir vorschreiben, wie ich sein soll. Außerdem ist sie meine Tochter.« Candace funkelte Makayla böse an. »Der Schaden ist angerichtet. Also machen wir das Beste aus einer schlimmen Situation. Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du wegen des Babys dein Leben wegschmeißen möchtest? Und was dann? Suchst du dir einen Job in einem Fast-Food-Restaurant? Willst du von Essensmarken leben? Oh, wie stolz wir dann alle sein werden.«
Gabby stand auf. »Hör auf. Hör sofort auf. Wir stecken alle in dieser Situation. Niemand ist erfreut über das, was passiert ist, aber deine Tochter kleinzumachen, hilft niemandem.«
Candace musterte sie ein paar Sekunden. »Sieh an«, sagte sie langsam. »Die Maus erhebt ihre Stimme. Wer hätte das gedacht.« Sie stand ebenfalls auf. »Ich bin hier fertig. Makayla, denk darüber nach, was du mit deinem Leben anstellst. Es ist schlimm genug, ein Baby zu bekommen. Aber noch schlimmer ist, es zu behalten.«
Damit winkte sie in Richtung Tür. »Es ist an der Zeit, dass ihr geht.«
Makayla stand auf. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wollte etwas sagen, drehte sich dann aber stumm um und ging zur Tür. Gabby eilte ihr nach.
Andrew sprach noch mit seiner Exfrau, doch Gabby hörte nicht, was er sagte. Und es war ihr auch egal. Sobald sie draußen waren, begann Makayla zu schluchzen. Gabby hielt sie ganz fest und fragte sich, wie um alles in der Welt sie das hier lebend überstehen sollten.
Gabby beschloss, zum South Coast Plaza zu fahren. Ja, zum Shoppen extra nach Orange County zu fahren, war im Grunde absurd. Aber sie ging davon aus, dass Makayla sich in einem weiter entfernten Einkaufszentrum wohler fühlen würde. Dort war die Gefahr, einer ihrer Freundinnen über den Weg zu laufen, wesentlich geringer, sodass das Mädchen sich entspannen konnte. Außerdem hoffte sie, dass Makayla dadurch das schreckliche Treffen mit Candace vergessen würde.
Gabby hatte Makayla für den heutigen Tag beim Camp abgemeldet, damit sie frühmorgens losfahren konnten. Sie würden ankommen, wenn das Einkaufszentrum seine Türen öffnete, und hätten dann ausreichend Zeit zum Shoppen, bevor sie die Zwillinge abholen mussten.
Unglücklicherweise wurde das, was als guter Plan begonnen hatte, ganz schnell zu einer Katastrophe. Makayla wischte sich die Tränen ab, als sie den trendigen Laden verließen.
»Nichts passt mir«, beschwerte sie sich. »Die Hosen kann ich nicht zuknöpfen, und die Hemden sind alle albern. Ich hasse es.«
Gabby ging neben ihr. Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Makayla hatte die undankbare Phase erreicht, in der ihre normalen Sachen zu eng waren, die Umstandsmode aber noch zu weit. Außerdem war sie erst fünfzehn.
Sie waren in drei Läden gewesen, doch nichts hatte gepasst. Hosen mit Kordelzug am Bund waren nicht in Mode, und normale Jeans, die am Bauch passten, waren an den Beinen viel zu weit. Sie hatten ein paar süße Leggins gefunden, die Makayla gut mit tunikaartigen Oberteilen tragen konnte, aber für die Schule brauchte sie mehr.
»Was ist mit Kleidern?«, fragte Gabby. »Komm schon. Gucken wir mal bei Nordstrom. Da gibt es immer hübsche Sachen. In den nächsten Monaten wird es noch warm sein. Da wäre ein Kleid mit A-Linie super. Vielleicht auch ein paar Oversize-Pullover, zu denen du Strumpfhosen und Stiefeletten tragen kannst.«
Makayla schniefte. »Ich trage nie Kleider.«
»Na und? Du könntest was Neues ausprobieren. Du würdest bestimmt bezaubernd aussehen.«
Makayla hatte Kleidergröße zwei oder vier. Selbst schwanger war es für sie schwer, nicht bezaubernd auszusehen.
»An Kleider hatte ich bisher nicht gedacht«, gestand das Mädchen. »Können wir welche anprobieren?«
»Aber klar.«
Sie betraten das große Kaufhaus. Auf der Rolltreppe schaute Makayla zu Gabby. »Bist du sauer auf mich?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Wegen allem. Es ist schwer. Meine Mom …«
»Ach Liebes, wir müssen wirklich nicht über sie sprechen. Ja, es war anstrengend.«
Makayla lächelte. »Weil ich schwanger bin.«
»Wirklich? Das wusste ich ja noch gar nicht.«
Das brachte Gabby ein weiteres Lächeln ein. Das Mädchen seufzte. »Ich weiß, dass Dad wütend auf mich ist.«
Gabby sagte sich, dass es ein Zeichen ihrer moralischen Überlegenheit wäre, wenn sie Andrew jetzt verteidigte. »Er ist nicht wütend, Süße. Er ist nur unglücklich. Niemand von uns hat sich das gewünscht. Auch du nicht, das weiß ich.«
»Wem sagst du das.« Sie berührte ihren Bauch. »Ich wünschte, ich hätte nie Sex mit Boyd gehabt. Vor allem jetzt, wo er abgehauen ist.«
»Du hast immer noch nichts von ihm gehört?«
»Nein. Gar nichts. Nur diese eine SMS. Ein paar meiner Freundinnen haben von seinem Umzug erfahren. Ich habe ihnen gesagt, dass wir schon vor ein paar Wochen Schluss gemacht haben.«
Gabby vermutete, dass sie das Mädchen fürs Lügen schelten sollte, brachte es aber nicht über sich. »Es tut mir leid, dass er so ein Arsch war.«
»Mir auch. Ich werde nie wieder einen Freund haben.«
»Ha! Dieser Entschluss wird ungefähr fünfzehn Minuten anhalten.«
»Nein. Neun Monate. Oder länger.« Sie verließen die Rolltreppe. »Niemand wird mit einer alleinerziehenden Mutter ausgehen wollen, die noch auf die Schule geht. Mein Leben ist vorbei.«
Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, und Gabby zog Makayla zur Seite und hielt sie an den Oberarmen fest.
»Hör auf«, sagte sie mit fester Stimme. »Ja, es ist viel, was vor dir liegt. Aber es hat keinen Sinn, sich in dieser Sekunde wegen allem auf einmal Sorgen zu machen. Boyd ist weg. Er hat sich als schlechter Freund entpuppt, und es tut mir leid, dass er dir wehgetan hat. Aber jetzt konzentrieren wir uns darauf, dir ein paar schöne Kleider auszusuchen, denn die Schule geht bald wieder los. Danach werden wir eine lächerliche Summe für neue Schuhe ausgeben, weil ich glaube, dass das hilft. Oder irre ich mich?«
Makayla überraschte sie, indem sie Gabby in die Arme zog. »Danke«, flüsterte sie. »Du bist die Einzige, auf die ich zählen kann. Du bist so lieb zu mir.«
Die Worte überraschten sie. »Ich habe dich lieb, Makayla. Manchmal gehst du mir fürchterlich auf die Nerven, aber selbst dann liebe ich dich. Das weißt du, oder?« Die Worte kamen automatisch aus ihrem Mund. Gabby brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, dass sie sie genau so meinte. Sie wusste nicht, wann genau es passiert war, aber irgendwie hatte die Katastrophe mit der Schwangerschaft sie und das Mädchen enger zusammengebracht.
Makayla weinte wieder, aber Gabby schätzte, dass das nicht schlimm war, denn sie kämpfte auch gegen die Tränen.
»Was für Wracks wir doch sind«, flüsterte sie.
»Ja, aber bald werden wir Wracks mit neuen Schuhen sein«, erwiderte Makayla und brachte ein kleines Lächeln zustande.