24. Kapitel

Jairus’ Haus lag nicht weit von Nicoles entfernt. Dennoch achtete sie darauf, einen extra komplizierten Weg zu nehmen, damit Tyler nicht herausfand, dass sein Held keine Meile von ihnen entfernt wohnte. Tylers Liebe für alles, was mit Brad zu tun hatte, war noch gewachsen, seitdem er den Autor kennengelernt hatte, und Nicole wollte nicht, dass er Jairus die nächsten Jahre über stalkte.

Jairus war von seiner Lesereise zurück und hatte Nicole und Tyler zum Mittagessen bei sich eingeladen. Nicole sagte sich, dass er nur nett sein wollte. Immerhin hatten sie ihn auch eingeladen. Aber sämtliche Logik der Welt half nichts dagegen, dass ihre Handflächen schwitzig wurden, als sie zwei weitere Abbiegungen nahm, um auf den Pacific Coast Highway zu fahren, bevor sie drei Blocks nach Norden fuhr, um dann wieder in Richtung Meer zu steuern.

»Glaubst du, dass Jairus viele Bücher verkauft hat?«, wollte Tyler wissen.

»Da bin ich mir sicher.«

»Ich würde jeden Tag zu einer Autogrammstunde gehen.«

»Ich weiß nicht. Wenn man etwas jeden Tag macht, ist es nichts Besonderes mehr.«

Tyler grinste. »Jeden Tag Geschenke zu bekommen, wäre etwas sehr Besonderes.«

»So groß ist dein Zimmer gar nicht. Und wo würdest du dann schlafen? Auf dem Dach? Im Auto?«

»Auf dem Dach!«

Nicole bog in Jairus’ Straße ein und fand die Adresse sofort. Auf der Einfahrt stellte sie den Motor ab.

Überrascht stellte sie fest, dass sich das Haus gar nicht so sehr von ihrem unterschied. Es war ein altmodischer Bungalow im spanischen Stil. Viele der älteren, kleineren Häuser in der Gegend waren abgerissen und durch große Häuser ersetzt worden, die beinahe das gesamte Grundstück einnahmen. Aber Jairus’ Haus war überhaupt nicht protzig. Lediglich die Fenster schienen neuer zu sein, und der Garten war sehr gepflegt. Trotzdem, es gab nichts, was es von den anderen Häusern in der Straße unterschied. Kein Neonschild, das verkündete: Hier wohnt ein New-York-Times-Bestseller-Autor.

Tyler hatte sich bereits abgeschnallt. Er sprang aus dem Wagen und rannte zur Haustür. Nicole nahm ihre Handtasche und den Kuchen, den sie gebacken hatte, und folgte ihm.

Jairus öffnete, bevor Tyler die Haustür erreicht hatte. Dann ging er in die Hocke und umarmte den Jungen.

»Hey, Kumpel. Wir geht es dir?«

»Gut. Hattest du Spaß auf der Reise? Hast du viele Autogramme gegeben? Wollten alle über Brad reden?«

Jairus lachte. »O ja, das wollten sie. Komm rein.« Er stand auf und lächelte Nicole an, bevor er ihr den Kuchen abnahm. »Du darfst auch reinkommen.«

»Danke.«

Sie betrat das Haus. Das Wohnzimmer war ein großzügig geschnittener offener Raum. Es hatte Bogenfenster und breite, bequem aussehende Sofas in Erdtönen. Couchtisch und Fußboden waren aus Holz. Am anderen Ende des Raums gab es einen offenen Kamin. Da das hier Südkalifornien war, vermutete sie, dass Jairus ihn nicht oft benutzte, aber er war schön anzusehen. Das Haus schien einige Quadratmeter größer zu sein als ihres, war aber vermutlich zu einem ähnlichen Zeitpunkt erbaut worden.

»Ich dachte, wir gehen in den Garten«, sagte Jairus und bedeutete ihr voranzugehen.

Sie gingen durch die Küche, wo er den Kuchen abstellte. Auch dieser Raum wirkte luftig und offen. Außerdem war er renoviert worden. Kurz beneidete Nicole Jairus um die Edelstahlarmaturen und die Arbeitsplatten aus Granit.

»Wo schläft Brad?«, fragte Tyler.

Nicole drehte sich lächelnd zu ihm um. »Honey, du weißt, dass Brad nicht echt ist.«

»Ich weiß, aber Jairus hat sich Brad ausgedacht. Also muss er hier irgendwo wohnen.«

Jairus zerzauste ihm die Haare. »Du bist ein kluges Kind, aber das weißt du, oder?«

Tyler grinste. »Ja, manchmal bin ich ziemlich klug.«

»Brad hat tatsächlich ein eigenes Zimmer. Würdest du das gerne sehen?«

Tyler nickte so heftig, dass Nicole fürchtete, er könnte ein Schleudertrauma erleiden. Sie folgte den beiden einen kurzen Flur entlang an einer offenen Tür vorbei, hinter der ein großes Badezimmer lag.

Jairus öffnete die erste Tür auf der linken Seite. Das Zimmer war klein, mit weiß gestrichenen Wänden und bis zur Decke reichenden Bücherregalen an zwei Seiten. An der dritten Wand befanden sich mehrere Aufbewahrungsbehälter, die vierte Wand wurde von einem Fenster dominiert, das von einem Wandgemälde mit Motiven aus Brads Welt eingefasst war.

Sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Tyler rannte lachend hinein und ließ sich auf den Boden sinken. Dort fing er an, verschiedene Bücher über Brad aus dem Regal zu ziehen.

»Tyler«, ermahnte Nicole ihn, doch Jairus legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Ist schon okay«, sagte er leise. »Er kann hier keinen Schaden anrichten.«

Alles in dem Zimmer hatte mit Brad zu tun. Es gab Hunderte von Büchern, die meisten auf Englisch, aber auch einige in fremden Sprachen. Es gab Stofftiere und T-Shirts und Stifte und Taschenlampen, Partygeschenke, Tüten voller Luftballons. In einer Ecke lag ein Stapel Brad-Handtücher neben einem Brad-Abfalleimer. Vermutlich aus der Badezimmerkollektion, von deren Existenz Nicole bisher keine Ahnung gehabt hatte.

»Gib’s zu«, flüsterte Jairus ihr ins Ohr. »Du hast Angst.«

»Nein. Ich habe Panik. Wie kannst du nachts ruhig schlafen?«

»Brad ist ein super Kumpel.«

Daran hatte sie so ihre Zweifel, aber sie musste zugeben, dass sie von dem beeindruckt war, was Jairus erschaffen hatte. Für seine Schwester hatte er mit dem Zeichnen angefangen, und nun herrschte er über ein ganzes Brad-Imperium.

Nach ein paar Minuten lockten sie Tyler mit dem Versprechen aus dem Zimmer, dass er Jairus’ Büro anschauen durfte. Nicole war genauso neugierig wie ihr Sohn.

Jairus ging zu einer weiteren Tür und öffnete sie.

Das Zimmer war riesig – offensichtlich handelte es sich um einen Anbau. Der Stil passte zum Rest des Hauses, aber die Decke war wesentlich höher. Und es gab überall Fenster. Ventilatoren drehten sich träge über ihnen.

Die beige Wandfarbe war der Hintergrund für unzählige Skizzen, die überall hingen. Auf Augenhöhe war eine fünf Zentimeter breite Korkleiste angebracht worden, in der alle paar Zentimeter Stecknadeln steckten. Nicole erkannte, dass Jairus so seine Zeichnungen in der richtigen Reihenfolge aufhängen konnte. Im Moment hing dort der Anfang eines neuen Bilderbuchs – Skizzen von Brad in den Tropen, mit Hawaiihemd und Surfboard unter dem Arm.

Jairus zeigte auf den Zeichentisch am anderen Ende des Raumes. »Da findet der Großteil meiner Arbeit statt.« Er zeigte ihnen die großen Papierbögen, auf denen er zeichnete, und die verschiedenen Stifte.

»Du machst das nicht am Computer?«, fragte Nicole.

»Nein. So habe ich es gelernt, und nun kann ich es nicht mehr anders.« Er drehte sich um und zeigte auf den Computer, der auf einem anderen Tisch stand. »Dort schreibe ich die Texte. Für meine Manuskripte scanne ich die Zeichnungen ein, damit wir sehen können, wie es aussehen wird.«

Tyler wanderte langsam an den Zeichnungen für die neue Geschichte entlang. »Brad lernt, wie man surft?«

»Ganz genau.«

Nicole hatte genügend Brad-Bücher gelesen, um zu wissen, dass dieses Abenteuer vermutlich nicht ganz glattlaufen würde und der junge Drache auf dem Weg eine Lektion lernte.

»Wann hast du das Haus umgebaut?«, wollte sie wissen.

»Kurz nachdem ich es gekauft habe. Ich dachte, meiner Schwester Alice würden die großen Fenster und der Garten gefallen.«

Nicole sah, dass die Fenster im Osten auf den großen Garten hinausgingen. Es gab Bäume und eine Schaukel, dazu einen gemauerten Grill und eine Sitzecke.

»Du wolltest nicht am Meer wohnen?«, fragte sie.

»Das wäre nicht sicher gewesen.«

Nicht für seine Schwester, dachte sie. Jairus hatte beim Kauf ihre Bedürfnisse berücksichtigt und das Haus dann entsprechend umbauen lassen. In Südkalifornien war das beste Licht im Süden, nicht im Osten. Aber wenn alle Fenster nach Süden gegangen wären, hätte er seine Schwester im Garten nicht im Auge behalten können.

Sie war sich nicht ganz sicher, was genau das zwischen ihr und Jairus war. Es hatte diesen einen kurzen Kuss gegeben, eine Menge Textnachrichten und gemeinsam verbrachte Zeit, meistens in Gesellschaft von Tyler. Auch wenn einiges darauf hindeutete, dass sie eine Art von Beziehung haben könnten, war leider alles noch äußerst unbestimmt. Trotzdem konnte sie jetzt nicht anders, als die Hand auszustrecken und ihre Finger mit Jairus’ zu verschränken.

Er zog sie näher an sich.

»Ich bin froh, dass es dir gefällt.«

Durch die große Glastür in seinem Büro gingen sie nach draußen. Tyler rannte zur Schaukel und setzte sich darauf. Nicole unterdrückte das »Sei vorsichtig«, das ihr auf der Zunge lag, und setzte sich stattdessen so hin, dass sie ihn sehen konnte.

»Erzähl mir von der Lesereise«, bat sie Jairus. »Du hast ja schon ein wenig von den Hotels erzählt und dass du viele Pressetermine und so hattest. Aber du warst lange weg. Gefällt dir das?«

»Meistens schon. Ich mag es, meine Leser zu treffen. Die Kinder sind super.«

Sie wusste, dass es in den meisten Städten private Veranstaltungen für Kinder mit Entwicklungsproblemen gegeben hatte.

»Auf Fernsehen und Interviews könnte ich gut verzichten«, fuhr er mit einem Achselzucken fort. »Das wird mit der Zeit langweilig. Neue Stadt, gleiche Fragen. Ich muss mich immer ermahnen, dass es für die Presseleute eine neue Geschichte ist, auch wenn ich sie schon zehn Mal erzählt habe.«

»Hat Brad Groupies?«

»Mehr als ich.«

Sie lächelte. »Das bezweifle ich. Ich schätze, es gibt mehr als nur ein paar Single-Mütter, die dir gegenüber sehr freundlich sind.«

Seine Miene wurde ernst. »Ich war mit niemandem zusammen, Nicole. Und ganz sicher habe ich mit keiner Frau geschlafen.«

Sie spürte, dass ihr der Mund offen stehen blieb. Sie schloss ihn und warf dann einen Blick zu Tyler, um sicherzugehen, dass er sie nicht hören konnte. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Egal. Ich sage es dir trotzdem.«

In seiner Stimme lag eine gewisse Eindringlichkeit – als wollte er sichergehen, dass sie ihn verstand.

»Danke, das weiß ich zu schätzen«, murmelte sie.

Dieser Moment fühlte sich so unbehaglich an. Nicole war es nicht gewohnt, mit einem Mann über solche Sachen zu reden. Jairus schien alles zu tun, um ihr zu versichern, dass er an ihr interessiert war. Und das verstand sie einfach nicht. Es war, als wolle er sie wissen lassen, dass sie etwas Besonderes war. Aber sie war nie besonders gewesen. Als Kind und Jugendliche war sie nie gut genug gewesen. Weder um von der American Ballet School aufgenommen zu werden noch um es am Broadway zu schaffen. Sie war als Versagerin nach Hause zurückgekehrt.

Eric war mit ihr ausgegangen und hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber sie hatte nie das Gefühl gehabt, er wäre hin und weg gewesen. Und dann hatte er sie verlassen.

»Ich habe auch mit niemandem geschlafen«, sagte sie leichthin.

Sein dunkler Blick war weiterhin auf ihr Gesicht gerichtet. »Das machst du immer. Interessant. Jedes Mal, wenn wir anfangen, über etwas Intimes zu reden, versuchst du, den Fokus zu verschieben.«

Sie wollte widersprechen, dass sie das nicht tat, wusste aber, dass er recht hatte. »Ich bekomme Angst«, gestand sie ihm und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Wieso mussten sie über so etwas reden?

»Weißt du, warum?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Vielleicht kann ich dir dabei helfen.« Er schaute zu Tyler, dann wieder zu ihr. »Ich mag dich, Nicole. Ich hoffe, dass du mich auch magst und dass wir einander besser kennenlernen können. Und wenn wir dabei ab und zu nackt sind … Hey, ich bin dabei.«

Sie wollte weglaufen. Sich in Sicherheit bringen. Denn irgendetwas an Jairus machte ihr fürchterliche Angst. Wobei … vielleicht lag es gar nicht an ihm. Vielleicht lag es daran, wie sie sich fühlte, wenn sie in seiner Nähe war.

Denn vor Eric hatte sie nie Angst gehabt. Nicht, bis ihre Ehe auseinanderfiel. Und selbst da war es die Angst vor dem Unbekannten gewesen, nicht vor dem Mann.

»Es ist sehr schwer für mich«, gab sie zu. »Mit einem Mann zusammen zu sein. Ihm zu vertrauen.«

Er sah sie an. »Geht dir das bei jedem Mann so oder nur bei mir?«

Das war eine interessante Frage. »Beides. Zu daten ist an sich schon schwer, aber du hast noch dazu etwas an dir, das mich verwirrt.« Sie schluckte und zwang sich, die Worte auszusprechen. »Weil ich, äh, dich mag.«

»Ich mag dich auch.« Er seufzte. »Aber geben wir es ruhig zu: Es liegt daran, dass ich ein Promi bin, oder? Ich und Brad. Ruhm ist wirklich ätzend.«

Nicole lachte laut auf. Jairus tippte ihr mit dem Finger gegen die Nasenspitze.

»Hab ein wenig Vertrauen. Ich bin ein guter Kerl.«

»Das weiß ich.« Sie warf einen Blick zu Tyler, dann sah sie Jairus wieder an. »Hör mal, ich habe eine seltsame Einladung.«

»Was mit Kostümen? Denn ich liebe Kostümpartys.«

»Zu denen du immer als Brad gehst, wie ich vermute. Nein, es geht um eine Filmpremiere. Für den Film meines Exmanns.«

»Eric hat dich eingeladen?«

»Hmhm. Ich glaube, ich möchte gerne hingehen. Ich weiß kaum etwas darüber, worum es in dem Film geht, also wird es für uns beide eine Überraschung. Also, vorausgesetzt, du hast Lust, mich zu begleiten.«

»Hab ich.«

Sie legte ihre Hand leicht auf seinen Unterarm. »Ich auch. Auf alles.«

Das fröhliche Kreischen von Kindern hallte durch den Garten. Hayley beobachtete lächelnd das wilde Fangenspiel, das alle zum Lachen brachte. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Luft war warm. In einer Stunde würde Rob die Rutsche auf dem Rasen aufbauen. Zum Mittagessen gab es Würstchen vom Grill.

Zusätzlich zu den Kindern ihrer Schwester hatte Hayley noch Tyler, Kenzie und Kennedy für den Tag eingeladen, denn sechs Kinder machten auch nicht viel mehr Arbeit als drei. Nach dem Mittagessen, wenn alle vom Spielen müde waren, würden sie etwas basteln. Sie hatte im Internet ein paar Anregungen gefunden und die entsprechenden Sachen besorgt. Danach würden sie wieder draußen spielen und den Nachmittag mit einem Film beenden.

Der Besuch lief gut. Morgan hatte die Kinder am Vortag nach der Schule abgesetzt. Nachdem die drei es sich im Gästezimmer eingerichtet hatten, war Hayley mit ihnen im POP gewesen, bis Rob von der Arbeit heimgekehrt war. Zum Abendessen waren sie ins The Slice is Right gegangen.

Obwohl ihre Schwester eine Zicke war, musste Hayley zugeben, dass sie ihren Kindern Manieren beigebracht hatte. Sie waren alle drei unglaublich wohlerzogen. Den Rest des Abends hatten sie mit Brettspielen verbracht. Egal, wie alt man war, ein paar Runden Candyland machten immer Spaß.

Jetzt sah sie Rob aus dem Haus kommen. Er ist so attraktiv, dachte sie und genoss den Anblick seiner breiten Schultern und sein entspanntes Lächeln. Er zwinkerte ihr zu.

»Haben sie schon welche gefunden?«, fragte er.

Am Morgen hatte er im Garten mehrere alte Plastikostereier versteckt, in denen sich Ringe, Aufkleber und Murmeln verbargen – Kleinigkeiten, die den Kindern Spaß bringen würden.

»Noch nicht. Ich werde bald wohl etwas sagen müssen.«

Die Kinder liefen weiter durch den Garten.

Rob trat zu Hayley und legte einen Arm um sie. »Ich habe ganz vergessen, dir zu danken.«

»Wofür?«

»Für den Rat, den du mir gegeben hast. Wegen meiner Kundin, die ihren Mann verloren hat. Du meintest, sie sehnt sich vielleicht nur nach Aufmerksamkeit. Also habe ich angefangen, sie nach jedem Termin anzurufen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Und am nächsten Tag noch mal.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen. »Seitdem ist sie süß wie Zucker und kommt nicht mehr mit erfundenen Problemen zu uns.«

»Ich bin froh, dass es funktioniert hat.«

Die Worte kamen automatisch, was gut war, denn in Gedanken war sie ganz woanders. Wenn sie zählen wollte, wie oft ihr Mann einen Arm um sie gelegt hatte, ginge die Zahl bestimmt in die Tausende. Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal war sie sich der Nähe seines Körpers extrem bewusst – seiner Wärme, der Erinnerung daran, wie er in der letzten Nacht neben ihr geschlafen hatte.

Es war zwar nichts passiert, aber sie hatte es genossen, ihn atmen zu hören.

Ich bin dabei zu heilen, dachte sie.

Rob ließ sie los. »Okay. Zeit, den jungen Wilden zu sagen, dass hier ein paar Preise versteckt sind.«

Er klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen, und erzählte ihnen dann von den Ostereiern. Sofort hörten sie mit ihrem Fangenspiel auf und fingen an zu suchen.

Hayley beobachtete, wie Rob den Zwillingen bei der Suche half. Er kann so gut mit Kindern umgehen, dachte sie. Er war so geduldig und liebevoll. Und ein toller Ehemann. Sie hatte Glück gehabt, sich in ihn zu verlieben und von ihm geliebt zu werden. Mehr als Glück. Es war ein Segen.

Kennedy kam mit mehreren Aufklebern in der Hand zu ihr gerannt. »Guck mal, was ich gefunden habe.«

»Die sind ziemlich cool«, sagte Hayley.

»Ich weiß.« Die Fünfjährige umarmte sie. »Du bist die Beste, Tante Hayley. Ich hab dich lieb.«

Hayley erwiderte die Umarmung. »Ich hab dich auch lieb.«

Und das meinte sie aufrichtig. Sie liebte die Zwillinge und Morgans Kinder und ihre Freunde. Und vor allem liebte sie Rob. Was bedeutete, egal, wie beschädigt ihr Herz sein mochte, es war nicht unwiederbringlich zerbrochen. Es gab Hoffnung. Und wenn sie sehr viel Glück hatte, würde es vielleicht auch eine glückliche Zukunft mit ihrem Ehemann geben.

Gabby wartete geduldig auf dem Parkplatz. Pünktlich auf die Minute kam ein halbes Dutzend Mädchen aus dem Gebäude. Zwei weitere folgten mit einem Jungen im Schlepptau. Zwei Minuten später erblickte sie Makayla.

Mit leicht gesenktem Kopf, die Schultern hochgezogen, ging sie direkt auf Gabbys Wagen zu. Gabby atmete tief ein und fragte sich, was sie nur sagen sollte.

»Wie war dein Elternkurs?«, fragte sie, als Makayla neben ihr Platz nahm und den Sicherheitsgurt anlegte.

»Okay. Wir haben gelernt, wie man erkennt, ob das Baby krank ist.«

»Das war bestimmt ein wenig beängstigend.«

»Stimmt.« Makayla zuckte mit den Schultern. »Heathers Freund hat sie sitzen lassen. Er geht zur Army oder so.« Um ihren Mund zuckte es. »Sie waren schon verlobt. Und er hat den Ring zurückgefordert. Er meinte, er wolle ihn vielleicht mal einer Besseren geben.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Er hat sie geschwängert, und jetzt tut er so, als wäre das alles ihre Schuld. Das ist nicht fair.«

Gabby drückte ihren Arm. »Das tut mir leid. Jungs können solche Idioten sein.«

»Ja, das können sie.« Makayla wischte sich die Tränen fort. »Ich weine nicht wegen Boyd, weißt du? Das ist er nicht wert. Er ist ein totales Arschloch, und ich hasse ihn. Ich werde ihn für immer hassen.«

Gabby überlegte, ob sie Makayla sagen sollte, dass diese Gedanken sie nicht weiterbringen würden. Aber ein Teil von ihr fragte sich, ob es nicht vielleicht auch gut war, wenn ihre Stieftochter Boyd hasste. Das gab ihr zumindest etwas, auf das sie sich im Moment konzentrieren konnte. Im Laufe der Zeit würde das Mädchen eine andere Strategie entwickeln müssen, aber im Augenblick war es vermutlich nicht schlecht, einen Feind zu haben.

»Ich hasse ihn auch«, gab sie zu. »Weil er dich so verletzt hat.«

Makayla überraschte sie mit einem Lächeln. »Dann steckt er echt in Schwierigkeiten, denn du bist stark.«

Was für ein unerwartetes Kompliment, dachte Gabby, als sie den Blinker setzte und vom Parkplatz fuhr.

Auf der Heimfahrt schwiegen sie. Gabby lauschte auf die vertrauten Töne, die anzeigten, dass Makayla eine Textnachricht erhalten hatte. In letzter Zeit war Makaylas Handy viel zu ruhig gewesen. Da Gabby nicht wusste, wo genau die Grenze zwischen Fürsorge und Einmischung verlief, stellte sie nicht allzu viele Fragen. Doch nach allem, was sie so mitbekam, hatten Makaylas Freunde sich nach und nach von ihr entfernt. Sie traf sich nicht mehr nach der Schule mit ihnen, machte keine Pläne fürs Wochenende. Es gab keine Anrufe, keine gekicherten Unterhaltungen.

Cecelia und die Zwillinge saßen am Tisch und malten, als Gabby und Makayla zu Hause ankamen. Boomer raste zur Begrüßung auf sie zu und sprang um sie herum, als wären sie fünf Jahre und nicht nur ein paar Stunden weg gewesen. Gabby hatte das dumpfe Gefühl, sein Enthusiasmus hatte mehr mit seinem Hunger zu tun als damit, dass er sie vermisst hatte.

»Wie läuft’s?«, fragte sie, während sie ihre Handtasche abstellte und sich dann herunterbeugte, um ihre Kinder zu küssen und zu kitzeln.

»Mommy! Guck mal, was ich gemacht habe!« Kennedy hielt ihr Bild hoch. Das Gesicht der Prinzessin hatte einen interessanten Grünton. Sie trug ein violettes Kleid, und im Hintergrund standen rote Bäume.

»O wie schön!«

Kenzie lächelte sie an. »Hi, Mommy.«

»Hey, meine Süße.«

Kenzies Prinzessinnenbild war in klassischen Farben gehalten, und der Stoff des Kleids hatte ein feines Muster. Dieses Mädchen wird mal in der Mode- oder Kunstwelt groß rauskommen, dachte Gabby.

»Es lief alles super«, versicherte Cecelia und stand auf. »Du hast die am besten erzogenen Zwillinge, die ich kenne.«

Gabby grinste, weil sie wusste, dass ihre die einzigen Zwillinge waren, auf die Cecelia aufpasste. »Danke. Wir arbeiten daran.«

Makayla winkte ihnen halbherzig zu, doch davon wollten die Zwillinge nichts wissen. Sie rannten auf sie zu und umarmten sie stürmisch.

»Du hast uns gefehlt«, sagte Kennedy. »Und zwar jede Minute.«

»Ihr Mäuse habt mir auch gefehlt.«

Während die drei einander umarmten, sah Gabby, dass der Stoff sich kurz über Makaylas Bauch spannte. Er wird jeden Tag dicker, dachte sie. Da drinnen wuchs ein Baby heran. Ein Baby, das irgendwann das Licht der Welt erblicken würde.

Diese Vorstellung war nicht mehr so erschreckend wie früher. Zwischen Andrew und ihr herrschte immer noch ein zerbrechlicher Waffenstillstand. Sie verstanden sich, unterhielten sich, liebten sich, aber noch hatten sie keine Lösung gefunden, was sie tun würden, wenn das Baby erst da wäre.

Gabby bezahlte Cecelia und warf dann einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe fünf. Der Auflauf, den sie fürs Abendessen vorbereitet hatte, benötigte noch ein paar Zutaten und musste dann für zwanzig Minuten in den Ofen. Aber sie musste auch noch Kekse für die Vorschule morgen backen. Und zwar nicht irgendwelche Kekse, sondern gesunde, nussfreie, zuckerreduzierte und dennoch köstliche Kekse für die zwanzig Fünfjährigen und ihre Lehrer. Außerdem warteten die Wäsche und ungefähr vier Stunden Arbeit auf sie. Heute Morgen war sie um fünf aufgestanden, und sie konnte von Glück sagen, wenn sie vor Mitternacht ins Bett kam. Schlaf? Das war was für andere Leute.

»Okay«, fing sie an. »Wir brauchen einen Plan. Ich schalte jetzt die Waschmaschine an, gucke, dass wir alles haben, was wir für die Kekse brauchen, und bereite dann das Abendessen vor.« Während sie sprach, schaltete sie den Ofen an. »Wie klingt das?«

»Ich kann die Wäsche sortieren«, bot Makayla an. »Meine Hausaufgaben habe ich in der Mittagspause gemacht, und ich muss nicht für irgendwelche Arbeiten lernen.«

In diesen Sätzen steckten sehr viele Informationen. Zum einen, dass Makayla ihre Mittagspause nicht mehr mit ihren Freundinnen verbrachte. Das hatte Gabby zwar schon vermutet, aber trotzdem schmerzte es sie, als sie nun die Bestätigung hörte. Zweitens kam das Hilfsangebot etwas überraschend. Sie wollte fragen, ob Makayla überhaupt wusste, wie man Wäsche sortierte, entschied dann aber, dass es egal war.

»Das wäre super«, sagte sie stattdessen. »Ich danke dir.«

»Wir helfen auch«, sagte Kennedy, und Kenzie nickte zustimmend.

Das bedeutet zwar Chaos, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, dachte Gabby. Die drei Mädchen verschwanden in der Waschküche, während sie die Futternäpfe der Tiere einsammelte und ein paar Dosen öffnete. Jasmine tauchte auf und wand sich um Gabbys Beine.

Sobald die Tiere gefüttert waren, kehrte Gabby zu den Keksvorbereitungen zurück. Sie hatte Mehl und …

Ein Schrei durchbrach die relative Stille. Makayla. Entsetzliche Gedanken an eine Fehlgeburt ließen Gabby durch die Küche in die Waschküche laufen. Kennedy kam ihr auf halbem Weg entgegen.

»Mommy, Mommy, es ist Makayla.«

Gabby nahm sich den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um sich auf ein Blutbad vorzubereiten. Dann bog sie um die Ecke und sah Makayla zusammengekrümmt auf dem Boden liegen. Ihr Handy lag daneben, und Kenzie hockte neben ihrer Schwester und strich ihr über das Haar.

»Was ist passiert?«, wollte Gabby wissen. »Blutest du? Hast du Krämpfe?«

Makayla wandte ihr das tränenüberströmte Gesicht zu. Langsam schüttelte sie den Kopf und zeigte auf ihr Handy.

Gabby hob es auf und sah eine Nachricht. Ihre Erleichterung, dass Makayla wenigstens von einigen ihrer Freundinnen hörte, löste sich in Luft auf, als sie die Nachricht las. Sie war von Candace.

Ich habe viel darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich im Moment nicht mit dir beschäftigen kann. Du bist eine chronische Enttäuschung, und ich habe einfach keine Zeit für das ganze Drama, das du erschaffen hast. Ich werde dich dieses Wochenende nicht abholen.

Die eiskalten Worte ließen Gabby nach Luft schnappen, und sie konnte sich ungefähr vorstellen, was dieser Text Makayla angetan haben musste. Kein Boyd, keine Freundinnen – und jetzt auch keine Mutter mehr. Tröstende Worte waren nutzlos. Und überhaupt, was sollte sie dazu sagen? »Deine Mutter ist eine Zicke« wäre zwar wahr, aber nicht hilfreich.

Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, setzte sie sich auf den Boden und zog Makayla an sich. Das Mädchen ließ es geschehen und schlang seine Arme um Gabby, als wolle es sie nie wieder loslassen. Die Zwillinge gesellten sich dazu, zwei kleine Mädchen, die ihre Schwester festhielten. Makaylas Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Gabby wiegte sie sanft hin und her, sagte aber nicht, dass alles wieder gut werden würde. Was hätte das auch für einen Sinn gehabt? Sie beide wussten, dass es nicht stimmte.