25. Kapitel

Andrew tigerte in seinem Büro auf und ab. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diese Frau verachte. Niemand will, dass Makayla schwanger ist, aber das ist sie nun mal. Wir müssen uns um sie kümmern. Sie einfach so im Stich zu lassen …«

Er bewegte sich mit kontrollierter Wut. Bei jedem anderen Mann hätte Gabby sich Sorgen gemacht, dass er mit etwas um sich schmeißen würde, aber so war Andrew nicht.

»Ich weiß, was du denkst, aber du kannst sie nicht verhaften lassen«, sagte sie ausdruckslos.

»Ich weiß.«

»Ich meine es ernst, Andrew. Sie ist zwar ein schlechter Mensch, aber das ist nicht illegal.«

»Sie verstößt gegen den Betreuungsplan. Dafür könnte ich sie vor Gericht bringen.«

»Ja. Und was dann? Man würde ihr auferlegen, mehr Zeit mit Makayla zu verbringen. Wie soll das helfen? Das Problem ist nicht die Zeit, das Problem ist, dass sie sich nicht mit der Sache auseinandersetzen will. Sie hat jegliche Verantwortung von sich gewiesen. Schlimmer noch, sie hat ihrer Tochter wehgetan. Glaubst du nicht, dass ich sie auch ohrfeigen will? Und wie ich das will.«

Gabby dachte an alles, was das Mädchen hatte durchmachen müssen. »Ich gebe zu, Makayla und ich hatten nicht immer die beste Beziehung zueinander, aber das hier ist etwas anderes. Sie hat Angst. Boyd ist weg, ihre Freundinnen haben sie im Stich gelassen. Sie hat nur uns, und wir müssen für sie da sein. Aber interessiert Candace das? Natürlich nicht. Sie interessiert sich nur für sich. Es tut mir leid, Andrew, aber du hast echt eine miese Wahl getroffen, als du dich damals für sie entschieden hast.«

Ihr Mann schaute sie ein paar Sekunden an, bevor er das Büro durchquerte, Gabby schnappte und an sich zog.

»Das stimmt«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Aber das habe ich wieder wettgemacht, als ich dich gefunden habe. Nur damit das klar ist: Ich lasse dich nie wieder gehen. Du bist umwerfend.«

Gabby ließ zu, dass seine Liebe über sie hinwegspülte und ihr Kraft verlieh. Wir finden einen Weg, sagte sie sich, wir werden das gemeinsam durchstehen.

»Sie tut mir so leid«, gab sie zu. »Die Einschläge kommen immer schneller. Candaces Timing ist echt ätzend.«

»Weil es bei ihr immer nur um sie geht«, sagte er. »Verdammt sei diese Frau.«

Gabby blieb noch eine knappe Minute dort, wo sie war, dann zog sie sich zurück. »Es tut mir leid, aber ich muss noch arbeiten.«

Andrew runzelte die Stirn. »Du hast diese Woche jeden Abend Arbeit mit nach Hause gebracht.«

»Ich weiß. Es ist einfach so unglaublich viel, und da ich nur zwanzig Stunden in der Woche im Büro bin, schaffe ich das nicht alles.«

»Gabby, sie haben dich Teilzeit eingestellt, aber du arbeitest Vollzeit.«

Dessen war sie sich wohl bewusst. »Ich weiß. Das macht mir auch Sorgen. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, wie viel davon daran liegt, dass sie mir alles zuschieben, und wie viel daran, dass ich noch zu langsam bin. Bis ich das geklärt habe, werde ich mich nicht beschweren.«

»Die nutzen dich aus.«

»Vielleicht.«

Im Moment war das das geringste ihrer Probleme. Wichtiger war, dass ihr der neue Job überhaupt nicht gefiel. Hatte sie ihre Arbeitsmoral verloren, oder war das wirklich eine Arbeit, die sie nicht tun wollte? Das waren keine leichten Fragen, wenn man bedachte, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, endlich wieder in einem Büro zu arbeiten. Sie hatte es gewollt, und nun, wo sie es hatte, hasste sie alles daran.

Aber sich zu beschweren, kam ihr falsch vor. Sie hatte Glück, weil sie nicht arbeiten musste, wenn sie nicht wollte. Sie konnte alles tun, aber leider hatte sie keine Ahnung, was sie wollte.

»Warte nicht auf mich«, sagte sie zu Andrew. »Ich brauche bestimmt noch ein paar Stunden. Bevor ich ins Bett gehe, sehe ich noch mal nach Makayla. Für den Fall, dass sie nicht schlafen kann.«

Andrew küsste sie erneut, dieses Mal auf den Mund. Widerstrebend löste Gabby sich von ihm und ging in ihr provisorisches Büro, das sie sich in einer Ecke des Fernsehzimmers eingerichtet hatte. Ihr Rücken tat weh, und sie war erschöpft, aber die Akten würden sich nicht von allein lesen.

Es geht um das Allgemeinwohl, redete sie sich ein, auch wenn sie im Moment keine Ahnung hatte, was genau das sein sollte.

Nicole sagte sich, dass sie gut aussah, dass sie einen attraktiven Begleiter hatte und alles bestens laufen würde. Doch abgesehen von dem attraktiven Begleiter wusste sie nicht, wie viel davon sie sich selbst glaubte. Auf die Filmpremiere des eigenen Exmanns zu gehen, war förmlich dazu gemacht, an den Nerven zu zerren und den Magen in Aufruhr zu versetzen. Sie hatte sich gezwungen, etwas zu essen, weil sie wusste, dass nichts zu essen nicht gut gehen würde. Aber der Proteindrink, den sie vor einer Stunde heruntergezwungen hatte, lag ihr nun schwer im Magen.

»Ich habe Angst«, gestand sie, als sie zum Parkservice vorfuhren. Ein junger Mann öffnete ihr die Tür, und sie stieg aus. Hauptsächlich, weil es keine vernünftige Option zu sein schien, im Auto sitzen zu bleiben.

Jairus kam um das Auto herum und stellte sich neben sie. Er sah sexy aus in seinem grauen Anzug, einem farblich passenden Hemd und einer dunkelblauen Krawatte.

»Gehen wir das noch mal durch«, sagte er leichthin. »Wir haben die Eintrittskarten, wir haben ein Date – auch wenn meins wesentlich attraktiver ist als deins. Hatte ich schon erwähnt, dass du in dem Kleid unglaublich heiß aussiehst?«

»Das hast du. Vielen Dank.«

Das Kleid war das teuerste Kleidungsstück in ihrem Besitz. Es war von Alexander McQueen und hatte einen herzförmigen Ausschnitt, der gerade so tief war, dass er supersexy wirkte, ohne zu viel zu zeigen. Das Kleid selbst lag bis zu den Hüften eng an, und der weit schwingende Rock endete kurz über Nicoles Knien.

Beinahe hätte sie sich für etwas anderes entschieden. Immerhin war das hier ein Kleid, das sie für eine Veranstaltung gekauft hatte, zu der sie damals mit Eric gegangen war. Doch das Bedürfnis nach etwas Neuem war schnell verflogen. In ihrem Leben gab es nicht oft glamouröse Veranstaltungen, also warum sollte sie gutes Geld ausgeben, wenn sie das Kleid noch einmal tragen konnte?

Jairus lächelte sie an. »Wir werden viel Spaß haben. Wir schauen uns den Film an, und später unterhalten wir uns darüber. Hey, wir können sogar ein paar Stunden lang über Eric herziehen. Oder wir können zu mir zurückfahren, wo ich verzweifelt versuchen werde, dich zu verführen. Wobei die Betonung hier auf verzweifelt liegt.«

Trotz ihrer Nervosität entspannte Nicole sich bei seinen Worten und lächelte ihn an. »Irgendetwas stimmt mit dir nicht.«

»Das habe ich schon früher gehört. Ich frage mich, ob es wahr ist.«

Sie schaute in seine dunklen Augen. Er war so süß. Nicht nur zu ihr, sondern auch Tyler gegenüber. Er war lustig und nett und verlässlich. Er verstand sie. Was für ein unerwartetes Geschenk, dachte sie.

Jairus streckte ihr seine Hand hin. »Bereit, die Höhle des Löwen zu betreten?« Er runzelte die Stirn. »Heißt das Löwe oder Drache? Und hat einer von ihnen überhaupt eine Höhle? Wer denkt sich nur solche Sachen aus?«

Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und wandte sich dem Eingang des Kinos zu, vor dem ein paar Fotografen warteten. Dahinter standen kleine Grüppchen von Fans der jeweiligen Schauspieler. Nicole fragte sich, wie viele Menschen schon drinnen waren und ob sie Eric überhaupt zu Gesicht bekommen würde. Nicht, dass sie das unbedingt wollte. Nur war eine Filmpremiere an sich schon so surreal, dass sie darauf vorbereitet sein wollte.

»Ich bin bereit«, sagte sie mit fester Stimme und hoffte, dass die Worte auch der Wahrheit entsprachen.

»Dann bin ich es auch.«

Sie schlossen sich der kurzen Schlange von Leuten an, die darauf warteten, ins Kino eingelassen zu werden. Die Fotografen warfen ihnen einen kurzen Blick zu und richteten ihre Aufmerksamkeit dann auf den Nächsten. Wir sind Nobodys, dachte Nicole amüsiert.

Im Eingangsbereich waren die Wände mit riesigen Postern von Disaster Road geschmückt. Es gab kleine Sitzecken mit Sofas und gemütlichen Sesseln. Kellner zirkulierten mit Tabletts voller Häppchen und Champagnergläsern. Und ungefähr hundert Menschen standen herum und unterhielten sich.

Nicole fragte sich, wie viele davon zur Produktion gehörten und wie viele Gäste waren.

»Hast du irgendetwas über den Film gelesen?«, wollte Jairus von ihr wissen.

»Nein. Ich hatte es überlegt, dann aber gedacht, dass wir ihn ja sehen werden. Und du?«

»Nein. Ich wollte mich überraschen lassen.«

»Hoffen wir, dass es eine gute Überraschung wird.« Sie lachte. »Ich schwanke zwischen Angst und Besorgnis.«

»Dass der Film gut sein wird?«

Die Frage überraschte sie. »Ich erwarte, dass er toll ist. Es macht mir nichts aus, wenn Eric seine Sache gut macht. Ich wünsche ihm nichts Schlechtes.«

»Viele Exfrauen wären nicht so großzügig.«

Sie dachte an den Artikel, den Jairus’ Ex über ihn geschrieben hatte, und die schlimmen Sachen, die sie über ihn gesagt hatte. »Ich habe zwar meine Fehler, aber nachtragend zu sein, gehört nicht dazu.«

Über den Lautsprecher bat eine Stimme, die Plätze einzunehmen. Nicole und Jairus gingen nach oben und setzten sich in ihre Loge. Der Saal füllte sich schnell, und Nicole entdeckte die Hauptdarsteller, den Regisseur und Eric in der ersten Reihe. Der ausführende Produzent trat auf die Bühne und stellte sich und die wichtigsten Personen vor, dann versprach er, nach der Vorführung Fragen zu beantworten. Die Lichter wurden gedimmt, und der Film begann.

Nicole hatte nicht gewusst, was sie erwarten würde. So, wie sie Eric kannte, hätte sie sich nicht gewundert, wenn er in einem Dialog zu hören gewesen wäre oder einen kleinen Cameo-Auftritt gehabt hätte. Sie war neugierig gewesen, welche Teile ihres gemeinsamen Lebens Eingang in die Geschichte gefunden hatten. Doch was sie nicht erwartet hatte, war, dass die Frau des Helden eine Karikatur von ihr war. Die Frau war blond, zänkisch und besessen von ihrem Körper. Als ehemalige Tänzerin dachte sie ständig nur daran, wie sie am besten trainieren und was sie essen sollte. Sie war eine Nervensäge und so übertrieben anstrengend, dass sie zu einer Art Witzfigur wurde, die für komische Elemente in dem spannenden Plot sorgte.

Nicole spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg, als ihr klar wurde, was Eric getan hatte: Er hatte sich einige ihrer weniger schönen Eigenschaften herausgepickt und sie so überzeichnet, dass sie der Geschichte Humor verliehen.

Kein Wunder, hatte er doch nicht gewollt, dass sie das Drehbuch las. Sie war seine Muse gewesen, aber auf schlimmstmögliche Weise.

Nach drei Vierteln des Films wurde die Frau von den bösen Jungs entführt, und das Publikum johlte. Als der Held seine neue Flamme küsste, hörte Nicole Seufzer aus dem Saal. Und am Ende des Films wurde die Ehefrau abgeschoben, während der Actionheld sich mit seiner neuen Liebe davonmachte.

Nicole wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Natürlich war das nicht sie. Sie war nicht besessen von ihrem Körper. Ja, sie achtete auf ihre Gesundheit, aber das gehörte dazu, wenn man ein Pilates-Studio betrieb. Es war nichts falsch daran, fit sein zu wollen.

Sie sagte sich, dass Erics Blick auf sie eine verzerrte Wahrheit zeigte. Aber ein Teil von ihr fragte sich, ob er sie nicht doch wirklich so sah. Wie viel war künstlerische Freiheit, und wie viel war seine Version der Wahrheit?

Die Lichter gingen an. Nicole zwang sich, sich zu entspannen und sich lächelnd an Jairus zu wenden. »Und, was meinst du?«

»Er war besser, als ich gedacht habe«, gab er zu. »Den Helden mochte ich nicht so sehr, wie ich es mir gewünscht hätte, aber insgesamt war der Film nicht schlecht.«

Das war alles?

»Ich bin die Vorlage für die Frau des Helden«, sagte Nicole leise.

»Wie bitte? Nein. Auf keinen Fall. Nicole, du bist überhaupt nicht wie sie.«

Da irrte er sich. Vielleicht hatte er es nicht gesehen, aber sie schon. Sie wusste nur nicht, was Eric sich dabei gedacht hatte. Hatte sie ihm jemals etwas bedeutet? War sie je mehr als nur ein Mittel zum Zweck gewesen? Sie hatte immer geglaubt, sie hätten aus reiner Liebe geheiratet. Jetzt war sie sich da nicht mehr sicher. Vielleicht war es von Anfang an sein Plan gewesen, sie dazu zu bringen, ihn zu unterstützen, während er sein Drehbuch schrieb.

Jairus stand auf und zog sie auf die Füße. Dann geleitete er sie aus dem Kino, während die Fragerunde begann. In der Lobby führte Jairus sie in eine Ecke und berührte sanft ihre Wange.

»Das warst du nicht«, sagte er eindringlich.

»Das war ich doch. Sie war so schrecklich. Vielleicht hat er mich so gesehen. Vielleicht musste er aus unserer Ehe ausbrechen. Ich habe ihn nie verstanden, und jetzt bin ich verwirrter als jemals zuvor.« Sie dachte über all das nach, was sie durchgemacht hatte, die Schuld, die sie auf sich genommen hatte. Sie drückte sich eine Hand auf den Magen. »Ich fühle mich nicht so gut. Kannst du mich bitte nach Hause bringen?«

Kurz dachte sie, er würde sich weigern, aber er nickte nur. »Natürlich. Ich lasse uns den Wagen bringen.«

Es gibt Momente im Leben, dachte Hayley, da helfen nur Burger, Pommes frites und ein Milchshake. Und heute war definitiv einer dieser davon.

Sie ließ sich neben Nicole auf die Bank in Gary’s Café gleiten, während Gabby sich ihnen gegenübersetzte. Ihre spontane Verabredung zum Lunch war über eine schnelle Folge kurzer Textnachrichten zustande gekommen. Das Übliche »Hey, wie geht es euch« war schnell einem »Ich brauche Zeit mit meinen Freundinnen« gewichen. Und nun waren sie hier.

Hayley fiel auf, dass sie seit ihrer Operation nicht mehr mit ihren Freundinnen aus gewesen war. Die beiden hatten sie zwar oft besucht, aber sie selbst hatte nur selten das Haus verlassen. Jetzt schaute sie sich um und musste zugeben, dass sie die Welt ziemlich vermisst hatte.

»Wie geht es euch?«, fragte sie.

»Gut.« Doch Gabbys Lächeln erreichte ihre Augen nicht ganz.

Nicole zuckte mit den Schultern. »Wie immer.«

Hayley musterte die beiden etwas genauer. Sie sah die Anspannung in Gabbys Haltung. Und in Nicoles Augen funkelte etwas, das verdächtig nach Schmerz aussah.

»Okay.« Sie legte ihre Speisekarte auf den Tisch. »Was ist wirklich los? Was verheimlicht ihr mir?«

Die beiden anderen Frauen tauschten einen Blick. Hayley beugte sich vor.

»Ich sterbe nicht und breche auch nicht sofort zusammen. Mir geht es gut. Sprecht mit mir. Was ist los?«

Nicole stöhnte. »Ich war vor ein paar Tagen auf der Premiere von Erics Film.«

»Wie bitte?« Hayley hätte sich ohrfeigen können. »Ich dachte, das ist erst nächste Woche. Tut mir leid. Sonst hätte ich angerufen und mich erkundigt, wie es war.«

»Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Ich brauchte Zeit, um zu verarbeiten, was ich gesehen habe.«

»Wie war der Film?«, fragte Gabby.

»Ich kann es dir ehrlich nicht sagen. Dem Publikum schien er zu gefallen. Natürlich waren das hauptsächlich Freunde und so, also was sollen die schon sagen?« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nein, das ist nicht fair. Die Kritiken waren auch gut. Vertraut mir, ich habe sie alle gelesen.«

Hayley wusste, dass es irgendein Problem gab, war aber nicht sicher, welches.

»Dir macht es doch nichts aus, dass Eric Erfolg hat, oder?«, wollte Gabby wissen.

»Nein. Nicht wirklich. Es ist nur …« Nicole seufzte. »Ich kenne ihn nicht. Und offenbar habe ich ihn nie gekannt. Ich verstehe nicht, wie wir zusammengekommen sind, geschweige denn, wie wir heiraten konnten. Und dieser Film …«

Die Kellnerin tauchte auf. »Hallo die Damen. Unser Milchshake des Tages ist Erdnussbutter-Cookie, was genauso gut schmeckt, wie es klingt. Und der Guacamole-Burger ist unser heutiges Mittagsangebot.«

Hayley spürte, wie ihr Magen vorfreudig knurrte. In letzter Zeit war sie nicht besonders hungrig gewesen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, als könnte sie zwei Burger und dazu Pommes frites essen.

»Ich brauche noch eine Minute«, sagte Gabby.

»Dann komme ich gleich wieder«, versprach die Kellnerin und ging mit einem Lächeln.

Gabby starrte auf ihre Speisekarte. »Ich werde mir etwas Dekadentes gönnen, und die Kalorien sind mir so was von egal. Und ja, ich weiß, das ist falsch, aber das macht nichts.«

»Das ist nicht falsch«, widersprach Hayley.

»Ich hoffe, du hast recht.« Gabby sah Nicole an. »Was ist mit dem Film?«

»Es war …« Sie wandte kurz den Blick ab. »Ich bin die Böse. Nicht der wirkliche Bösewicht, der versucht, die Stadt in die Luft zu jagen. Aber die Frau des Helden basiert auf mir, und sie ist schrecklich. Weinerlich und egozentrisch. Ich habe ein paar Dinge wiedererkannt, und das war wirklich schwer. Es ist so peinlich.«

Hayley drehte sich zu ihr. »Du bist nichts davon, also weiß ich nicht, wie du dich in dem Film wiedererkannt haben willst.«

»Das habe ich, glaub mir. Ich verstehe jetzt, warum Eric nicht wollte, dass ich das Drehbuch lese. Ich denke, er hat all seinen Frust über unsere Ehe an dieser Figur abgelassen. Diese ständige gereizte Stimmung in der Beziehung hat ziemlich glaubhaft gewirkt. Am Ende wird die Frau entführt und von den bösen Jungs total gedemütigt. Alle haben gejubelt.«

»Du bist ein toller Mensch«, versicherte Gabby ihr. »Wir lieben dich. Du bist eine super Mutter, deine Kurse sind beliebt. Das in dem Film bist nicht du.«

Nicole wirkte nicht überzeugt. »Ich habe mehr Angst davor, dass die Leute erraten, dass ich das bin, und dann glauben, dass ich mich wirklich so verhalte. Es ist … Erics Blick auf mich ist so anders als mein eigener. Auf gewisse Weise ist das beängstigend. Außerdem dachte ich …« Sie seufzte. »Ich weiß, wir sind geschieden, aber ich dachte nicht, dass wir Feinde sind.«

»Vielleicht hat er sich mitreißen lassen«, schlug Hayley vor. »Hat auf die Stimmen in seinem Kopf gehört. Wir alle erzählen uns Geschichten. So wie ich immer behaupte, dass meine Eltern Morgan mehr geliebt haben. In letzter Zeit habe ich mich öfter gefragt, ob das wirklich stimmte. Sie hat vor einer Weile etwas zu mir gesagt. Darüber, dass ich von unseren Eltern ausgewählt worden bin. Die ganzen Jahre über habe ich gedacht, sie wäre die Besondere, weil sie die leibliche Tochter war. Aber was, wenn es gar nicht so gewesen ist? Was, wenn sie die ganze Zeit auf mich eifersüchtig war?«

»Wieso sollte sie das nicht sein?«, fragte Gabby. »Du bist diejenige, die jeder mag.«

Hayley dachte an die letzten Monate und daran, wie Morgan sich verhalten hatte. »Meine Schwester ist irgendwie eine Zicke.«

Nicole lachte. »Das merkst du erst jetzt?«

»Nein, ernsthaft«, warf Gabby ein. »Wir alle haben T-Shirts vom ›Ich hasse Morgan‹-Club. Willst du auch eins?«

»Vielleicht.« Hayley schüttelte den Kopf. »Nein. Das nehme ich zurück. Ich hasse sie nicht. Ich finde sie schwierig und egoistisch, und sie nutzt andere Leute aus. Mein ganzes Leben lang habe ich gesehen, wie sie die Aufmerksamkeit bekommen hat. Ich habe immer geglaubt, dass unsere Eltern sie mehr geliebt haben, weil sie immer ihren Willen durchgesetzt hat. Aber in den letzten Wochen habe ich nachgedacht. Vielleicht war alles ganz anders. Vielleicht haben sie sich aus Selbstschutz so verhalten.«

»Um sie davon abzuhalten, das Haus niederzubrennen?«, fragte Gabby.

»So etwas in der Art.«

»Ich fand das immer wahnsinnig spannend«, sagte Nicole, »dass ihr so unterschiedlich seid. Ich weiß, dass du adoptiert wurdest, aber da steckte noch mehr dahinter. Ihr habt komplett unterschiedliche Persönlichkeiten. Du bist sanft und gütig. Ein wirklich fürsorglicher Mensch. Morgan hingegen saugt sämtliche Luft aus dem Raum. Es muss sich immer alles um sie drehen.«

Hayley nickte. »Ja, sie schreit definitiv lauter als ich. Eigentlich als jeder. Also haben sie ihr zugehört, weil sie es mussten. Morgan schwört, dass ich der Liebling unserer Eltern war. Ich frage mich, ob ich alles zu sehr aus meiner Perspektive betrachtet und den Blick auf das große Ganze verloren habe. Vielleicht ist das mit Eric auch so. Du bist in deiner Sichtweise gefangen.«

»Wie sähe denn eine andere Sichtweise aus?«, fragte Nicole ehrlich interessiert.

Ihre Kellnerin kehrte zurück. Hayley schlug die Speisekarte auf und ergab sich dann dem Unvermeidlichen. »Einen Cookies-and-Cream-Milchshake«, sagte sie. »Und den Guacamole-Burger.«

»Wow«, hauchte Gabby. »Ich bin beeindruckt. Ich nehme einen Vanille-Milchshake und den Bacon-Burger.«

»Für mich Schoko-Minz-Milchshake«, sagte Nicole. »Und den Guacamole-Burger mit Süßkartoffel-Pommes-frites.«

»Du wildes Ding, du«, zog Gabby sie auf.

»Wem sagst du das.«

Hayley wartete, bis sie wieder allein waren, bevor sie fortfuhr. »Eric hat sein Kind im Stich gelassen. Ich kann verstehen, dass eure Ehe auseinandergegangen ist. Das passiert. Aber er hat keine Entschuldigung für das, was er Tyler antut. Ich denke, tief im Inneren weiß er, dass er ein Arsch ist, aber die meisten Leute können damit nicht leben. Also erzählen sie sich eine andere Geschichte. Was auch immer du auf der Leinwand gesehen hast, Nicole, warst nicht du. Das war, was er sich erzählt, um sein Handeln zu rechtfertigen. Wir alle haben unsere persönliche Wahrheit. Aber ich glaube, die hat nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun.«

Ihre Freundinnen starrten sie verblüfft an.

»Wow«, sagte Nicole langsam. »Das klingt wirklich weise. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass Eric sich vor sich selbst rechtfertigen muss. Aber das muss er, oder?«

»Er ist derjenige, der seinen Job hingeschmissen hat, ohne vorher mit dir darüber zu sprechen«, rief Gabby ihr in Erinnerung. »Er hat sich aus eurer Ehe zurückgezogen. Du hast versucht, es hinzukriegen, aber er wollte raus. Jetzt ignoriert er seinen Sohn förmlich. Am Zusammenbruch einer Ehe haben immer beide Schuld. Ich bin mir sicher, dass auch du Fehler gemacht hast. Aber das meiste geht auf ihn. Das muss er mit sich in Einklang bringen. Vielleicht ist dieser Charakter in seinem Film ein Teil davon.«

Nicole entspannte sich ein wenig. »So habe ich das noch nie betrachtet. Ich habe mich nur so gedemütigt gefühlt. Als würden alle mit dem Finger auf mich zeigen.«

»Was hast Jairus gesagt?«, fragte Gabby.

»Er glaubte nicht, dass ich das war.«

»Dann wird es auch niemand anderes glauben. Die Leute sind im Allgemeinen ziemlich dumm und selbstbezogen.«

Nicole sah sie an. »Sprichst du da über eine spezielle Person?«

»Candace.«

Hayley brauchte eine Sekunde, um den Namen einzuordnen. »Andrews Ex?«

»Genau die. Womit wir wieder beim Thema ›Elternteile, die geohrfeigt gehören‹ angelangt sind. Candace hat beschlossen, dass sie Makayla nicht mehr sehen will.« Gabby brachte ihre Freundinnen über die Ereignisse in ihrer Familie auf den neusten Stand.

Hayley dachte daran, was sie alles durchgemacht hatte, um ein Baby zu bekommen. Sie konnte Menschen nicht verstehen, die mit einem Kind gesegnet waren und es dann ignorierten. Das ergab keinen Sinn. Sie hätte für so eine Beziehung alles gegeben. Beinahe wäre sie dafür sogar gestorben.

»Makayla muss am Boden zerstört sein«, sagte sie.

»Das ist sie.« Gabby seufzte. »Ich würde ihr so gerne helfen, weiß aber nicht, wie. Ich hasse es, mich so nutzlos zu fühlen.«

Die Kellnerin brachte die Milchshakes. Hayley ließ die kühle, dickflüssige Süße auf ihrer Zunge schmelzen und merkte, wie mit dem Einsetzen des Zuckerrauschs ihre Welt wieder in Ordnung kam.

»Das hier kann nicht schlecht sein«, flüsterte sie.

»Wem sagst du das.« Gabby grinste.

Nicole lachte.

»Irgendwie ist es lustig«, überlegte Hayley laut. »Es wirkt, als würdet du und Makayla euch jetzt wesentlich näher als vorher stehen. Ich hätte nie gedacht, dass sich das mal so entwickelt.«

»Ich auch nicht. Andrew und ich bemühen uns immer noch, nicht darüber zu sprechen, was wir machen, wenn das Baby erst da ist.« Gabby nahm einen Schluck von ihrem Milchshake. »Okay, das klingt jetzt vermutlich total verrückt, aber ich denke tatsächlich darüber nach, ob er nicht recht hat. Also damit, dass ich mit dem Kind zu Hause bleiben sollte.«

Hayley riss die Augen auf, und Nicole blieb der Mund offen stehen.

»Meinst du das ernst?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Gabby senkte den Blick, bevor sie ihre Freundinnen wieder anschaute. »Ich liebe meinen Job nicht. Er ist so unglaublich langweilig, und ich arbeite wesentlich mehr Stunden, als ich bezahlt bekomme. In der ersten Woche dachte ich, es liegt daran, dass ich ein wenig eingerostet bin. Aber jetzt denke ich, sie schieben mir immer mehr zu, um zu sehen, wie viel sie aus mir herausquetschen können. Ich weiß, es ist eine Non-Profit-Organisation, aber ich soll eigentlich nur zwanzig Stunden in der Woche arbeiten. Doch im Moment sind es eher vierzig.«

Hayley zuckte zusammen. »Wie schaffst du das bei drei Kindern, einem Mann und einem Haushalt?«

»Gute Frage. Ich bleibe lange wach und stehe früh auf. Es ist echt schwer. Vor allem, wenn ich daran denke, wie wenig Gehalt ich dafür bekomme. Ach, ich weiß es einfach nicht. Wenn ich an die ganzen Frauen denke, die sich abmühen müssen, um für ihre Familie überhaupt Essen auf den Tisch zu bekommen, schäme ich mich für mein Gejammer.«

»Du hast guten Grund zum Klagen«, versicherte Nicole ihr. »Den haben wir alle. Die Lebensumstände anderer Menschen ändern nichts daran, dass es für dich gerade schwer ist.«

»Das klingt so rational«, murmelte Gabby. »Wenn ich es nur glauben könnte.«

Das konnte Hayley verstehen. Schuldgefühle waren sehr mächtig. Genau wie Angst – sie saugten allen Sauerstoff aus der Luft, bis man nicht mehr atmen konnte.

»Was sagt Andrew zu deiner möglichen Meinungsänderung?«, wollte Nicole wissen.

»Davon weiß er noch nichts. Ich habe es noch nicht zu Ende durchdacht. Bevor ich eine Entscheidung treffe, will ich sicher sein, dass ich nicht vor der Arbeit davonlaufe. Versteht ihr, was ich meine? Ich will die Entscheidung aus einer Position der Stärke heraus treffen und nicht, um einen Job loszuwerden, der mir nicht gefällt. Makaylas Baby aufzuziehen, ist eine große Verantwortung. Und ich werde den Gedanken nicht los, dass das, was ich im Moment tue, nicht reicht.«

»Ist sich um das Baby zu kümmern die einzige Alternative?«, fragte Hayley.

»Nein. Ich habe auch darüber nachgedacht, wieder aufs College zu gehen. Ich glaube, ich will nicht mehr Anwältin sein. Aber ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich sonst tun könnte.«

»Wow, das wäre ein großer Schritt«, sagte Nicole.

Hayley nickte. Sie war nur ein paar Semester aufs College gegangen, dann hatte sie Rob kennengelernt. Was würde sie jetzt wohl arbeiten, wenn sie ihr Studium beendet hätte? Sie hatte schon immer Ehefrau und Mutter sein wollen. Doch wenn sie alles tun könnte, was sie wollte, würde sie …

»Ich würde Krankenschwester werden«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung. »Also, wenn ich noch mal eine Ausbildung machen würde.«

Nicole lächelte. »Das überrascht mich nicht. Du bist gut darin, dich um Leute zu kümmern.«

»Ich wünschte, das wäre wahr.« Hayley seufzte. »In letzter Zeit habe ich nur an mich gedacht. Armer Rob. Wir finden langsam wieder zueinander, aber ich hätte ihn verlieren können. Ich bin froh, dass es nicht so weit gekommen ist.«

»Das sind wir auch«, versicherte Gabby ihr. »Was ist mit dir, Nicole? Was würdest du anders machen?«

»Ich weiß es nicht. Ich liebe mein Studio. Und ich kann nicht sagen, dass ich Eric nicht geheiratet hätte, weil ich ohne ihn Tyler nicht hätte. Ich werde also einfach mein Leben akzeptieren und damit glücklich sein.«

»Kannst du die Film-Sache loslassen?«, fragte Hayley.

»Ich gebe mein Bestes.«

Nicole erhob ihr Glas und stieß mit ihren Freundinnen an.

»Auf unser Bestes«, sagte Hayley.

»Das wir jeden Tag geben«, fügte Gabby an. »Selbst wenn wir dafür morgens um vier Uhr aufstehen müssen.«