»Das ist unglaublich.« Hayleys Stimme war ihre Bewunderung anzuhören. »Du weißt, ich bin kein Fan, aber … wow.«
Nicole zog die Nase kraus. »Mir ist aufgefallen, dass ich Brad nicht mehr ganz so sehr hasse. Auch wenn Jairus mich immer noch verwirrt.«
Sie standen gemeinsam in Tylers Zimmer. Es war Samstagnachmittag, und ihr Sohn war auf der Geburtstagsfeier eines Freundes. Nicole hatte Hayley für einen Mädelsnachmittag eingeladen, und nun waren sie hier und betrachteten das beinahe fertige Wandgemälde.
»Tyler liebt es bestimmt.« Sanft fuhr Hayley den Umriss von Brads Kopf nach. »Es ist groß und bunt, und es zeigt seine Lieblingsfigur. Warum bist du dann verwirrt?« Sie musterte das Gemälde. »Hm, lass mich raten. Eric hat hier jahrelang gewohnt und ist am Ende doch nur mit ein paar Umzugskartons ausgezogen. Jairus kennst du erst seit vier oder fünf Monaten, und sieh dir an, was er schon für einen Abdruck in diesem Haus hinterlassen hat.«
»Autsch«, murmelte Nicole. »Können wir wenigstens so tun, als wäre mein Problem subtiler und ich nicht so leicht zu durchschauen?«
»Tut mir leid. Aber das scheint mir ziemlich offensichtlich zu sein. Oder irre ich mich?«
Nicole ging voran zurück ins Wohnzimmer. »Nein. Ich wünschte, du würdest es tun, aber nein.«
»Juckt es dir in den Fingern, das Bild zu übermalen?«
»Jeden Tag. Die Farbeimer stehen schon im Flurschrank.«
Auf dem Tisch vor dem Sofa standen Gläser mit Eistee und ein Teller mit den Ananas-Paleo-Muffins, die Nicole am Morgen zum ersten Mal ausprobiert hatte. Die Freundinnen setzten sich.
Hayley trank einen Schluck, dann zeigte sie auf die Muffins. »Sind die eklig?«
»Sie sind seltsam, aber nicht eklig.«
»Du musst doch gar nicht abnehmen.«
»Ich weiß. Ich versuche nur, mich gesünder zu ernähren.«
»Das freut mich für dich. Aber ich bleibe lieber bei Schokolade.« Sie stellte ihr Glas ab. »Also, wo liegt das Problem?«
Das war mal eine unverblümte Frage. »Jairus sorgt dafür, dass ich mich unbehaglich fühle.«
»Wie und warum?«
Nicole widerstand dem Drang, sich zu winden. »Er ist in mich verliebt.«
»Der Scheißkerl!«
»Hör auf. Du weißt, was ich meine. Er ist nett. Liebevoll. Er kommt, wenn er sagt, dass er kommt. Er ist gut zu Tyler. Er hat ihm ein Wandgemälde gemalt. Er ist gut im Bett.«
Hayley zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dazu will ich später mehr hören, aber jetzt lassen wir uns nicht vom eigentlichen Thema ablenken.«
»Darüber will ich aber nicht nachdenken.«
»Was irgendwie das Problem ist.« Hayley seufzte. »Also werde ich es jetzt einfach sagen. Bereit?«
Nicole verschränkte die Arme vor der Brust und atmete tief ein. Bevor sie nickte, ermahnte sie sich, dass sie ja mit ihrer Freundin hatte reden wollen, um herauszufinden, was mit ihr los war. Sie wollte das nagende Gefühl der Panik verstehen, das sie erfüllte, wann immer sie an Jairus, ihre Beziehung und die Zukunft dachte.
»Schieß los«, sagte sie schließlich tapfer.
»Du hast Angst.« Hayley zuckte mit den Schultern. »Du hast dir Eric ausgesucht, und er war ein Blödmann, also bist du jetzt vorsichtig. Es ist nicht leicht, das Risiko einzugehen und Jairus dein Herz zu schenken. Du bist älter als damals, hast einen Sohn und ein Leben. Jairus ist zu gut, um wahr zu sein. Er ist nett und süß und lustig und erfolgreich. Was, wenn er dir das Herz bricht? Was, wenn er Tyler das Herz bricht?«
»Ich weiß. Darüber mache ich mir ja Sorgen.«
»Und deshalb willst du weglaufen. Aber die Sache ist die: Das echte Problem ist nicht, was passieren könnte. Das echte Problem bist du. Du glaubst nicht, dass du Jairus verdient hast. Aus irgendeinem Grund glaubst du, nicht gut genug zu sein.«
Nicole rutschte auf dem Sofa nach hinten. Ihre Wangen brannten, und sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. »Das stimmt nicht!«
»Oh doch«, widersprach Hayley ganz sanft. »Ich weiß nicht, ob es an deiner Mom liegt oder daran, dass du es als Tänzerin nicht geschafft hast oder an etwas ganz anderem, aber du glaubst nicht an dich. Du hast eine erfolgreiche Firma, ein tolles Kind, und dir gehört ein Haus. Du bist unglaublich. Aber das siehst du nicht. Du hast beinahe sechs Monate gebraucht, um den Mut aufzubringen und dir ein neues Auto zu kaufen, obwohl du es dringend benötigt hast und auch das Geld hattest. Du hast solche Angst davor, etwas falsch zu machen, dass du dich lieber zurückziehst, anstatt nach vorne zu gehen. Du versuchst es nicht, und damit verpasst du so viel. Das ist, wie wenn du Klamotten brauchst. Die kaufst du lieber secondhand als neu. Was normalerweise in Ordnung ist, aber bei dir ist es symptomatisch.«
Hayley beugte sich vor. »Du musst nicht anfangen, Designerklamotten zu kaufen, aber gönn dir ab und zu was. Du hast es verdient. Vertrau deinem Urteil. Ich verstehe, warum du auf Nummer sicher gehen willst, aber Männer wie Jairus tauchen nicht oft in unserem Leben auf. Und wäre es nicht traurig, ihn zu verlieren, nur weil du Angst hast?«
Nicole biss sich auf die Unterlippe. Hayley irrte sich. Und zwar in allem. Sie verstand es nicht. Nein, dachte Nicole. So war sie nicht. So durfte sie nicht sein. Sie war …
»Ich bin ein Wrack«, gestand sie. »O Gott. Was ist, wenn du recht hast? Ich bin ein totales Wrack.«
»Das bist du nicht. Hör auf damit. Du kannst nicht immer nur das Schlechte heraushören, so funktionieren Unterhaltungen nicht. Du musst auch mal das Gute registrieren. Sieh dir doch mal an, was du alles geschaffen hast. Und hab ein wenig Vertrauen in dich, Nicole.«
War das möglich? Vertrauen zu haben? Das Gute zuzulassen? Sie war nicht sicher, warum sie das so ängstigte, aber das tat es.
»Wenn Jairus heute aus deinem Leben verschwinden würde«, fuhr Hayley fort. »Was würdest du dann tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich würde ihn vermissen. Und ich würde versuchen, Tyler über seinen Verlust hinwegzuhelfen. Außerdem wäre ich vermutlich verletzt und wütend.«
»Würdest du dein Studio verkaufen?«
»Was? Natürlich nicht. Das hat nichts mit ihm zu tun.«
»Und das Haus? Würdest du es behalten?«
Nicole erkannte, worauf Hayley hinauswollte. »Du meinst, dass ich überleben würde. Dass mein Leben weitergehen würde. Dass Jairus toll ist, aber nicht der Mittelpunkt meines Universums.«
»Ja, so in der Art.«
Das war zu viel, um darüber nachzudenken. Um es zu verstehen. Es war alles so verwirrend.
»Er liebt dich«, rief Hayley ihr in Erinnerung. »Das weiß ich mit Sicherheit. Liebe kommt nicht jeden Tag vorbei. Du musst natürlich deine eigenen Entscheidungen treffen, aber wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich ihn mit beiden Händen festhalten.«
Jemanden festzuhalten, war beängstigend. Aber Jairus zu verlieren, war schlimmer. Seufzend ließ Nicole ihren Blick über den Wohnzimmertisch gleiten. »In der Speisekammer habe ich noch M&M’s.«
»Ah, wesentlich besser. Siehst du, du kannst ja doch das Richtige tun.«
Nicole lachte. »Ich bin mir nicht sicher, dass M&M’s statt Paleo-Muffins das Gleiche ist, wie sich mit Haut und Haaren auf Jairus einzulassen.«
»Vielleicht nicht, aber es ist ein Anfang.«
»Gott sei Dank, du bist da!«, rief Morgan und zog Hayley mit erstaunlicher Kraft an sich. »Es war so schrecklich. Er hat sich sein Bein gebrochen, und der Knochen guckte raus.«
Hayley schluckte, weil ihr Magen zu rebellieren drohte. Auch ohne die Details war die Vorstellung von herausstehenden Knochen beängstigend genug.
»Was ist passiert?«
»Christopher hat in der Schule an der Kletterstange gespielt und versucht, irgendeinen dummen Trick nachzumachen, den er in einem Computerspiel gesehen hat.« Morgan schob Hayley von sich und funkelte sie an. »Ein Computerspiel! Das sind keine echten Menschen. Aber kapiert er das? Wo ist Brent? Er hat gesagt, er würde sofort kommen.«
»Atme. Es herrscht ziemlich viel Verkehr. Er wird kommen. Was hat der Arzt gesagt?«
Morgan schlug sich die Hände vors Gesicht. »Christopher muss operiert werden. Sie müssen sein Bein richten, und dann muss er über Nacht im Krankenhaus bleiben – wenn nicht länger. Ich kann nicht klar denken.«
»Wo sind die anderen Kinder?«
»Bei Brents Mutter. Ich bin sicher, sie nutzt die Zeit, um sie gegen mich aufzuwiegeln.«
Hayley unterdrückte ein Lächeln. Selbst inmitten einer Katastrophe wusste Morgan, was in ihrer Welt wirklich wichtig war.
»Du bist ein Freak, das weißt du, oder?«, fragte sie.
»Vielleicht. Aber du wirst mich nicht los.«
Hayley nickte und gab innerlich zu, dass sie damit leben konnte. Ihre Schwester war nicht perfekt, aber sie waren trotzdem eine Familie, komme, was wolle.
Gemeinsam setzten sie sich in den Krankenhauswarteraum. Der panische Anruf war vor einer Stunde erfolgt. Hayley hatte sofort das Büro verlassen und war hergekommen. Kurz hatte sie überlegt, Rob anzurufen, aber sie wusste, dass er viel zu tun hatte. Brent würde bald hier sein und das Kommando übernehmen.
Keine zehn Minuten später kam Morgans Mann ins Wartezimmer gestürmt. Morgan eilte auf ihn zu, und sie umklammerten einander wie Ertrinkende.
»Erzähl mir alles«, wies Brent sie an.
Während Morgan erklärte, was ihrem ältesten Sohn zugestoßen war, beobachtete Hayley die beiden. Morgans Anspannung und Rastlosigkeit waren verflogen. Trotz all ihrer Klagen liebte sie ihren Mann, das war offensichtlich. Vielleicht würde diese Krise sie enger zusammenbringen. Hayley hoffte es.
Sobald die OP vorbei und Christopher im Aufwachraum zu sich gekommen war, wurde er auf ein Zimmer auf der Kinderstation verlegt. Morgan und Brent stritten sich darum, wer bei ihm bleiben würde. Am Ende beschlossen sie, beide dort zu übernachten. Hayley umarmte sie zum Abschied und ging dann zum Fahrstuhl.
Es erstaunte sie, wie viele Kinder in diesem Krankenhaus waren. Aber klar, Kinder wurden auch krank oder verletzten sich. Sie kam an Zimmern mit gedimmtem Licht vorbei, in denen Eltern auf Stühlen saßen oder auf Beistellbetten schliefen. Einige der Zimmer waren mit Luftballons und Stofftieren geschmückt. Andere hatten Zeichnungen an den Wänden hängen, als würde der Aufenthalt hier länger dauern. Direkt neben dem Fahrstuhl sah sie Licht aus einer Tür fallen.
Sie gab ihrer Neugierde nach und ging in diese Richtung. Auf dem Bett saß ein Junge von vielleicht neun oder zehn Jahren. Sein Kopf war kahl, und er trug einen Krankenhauskittel. Abgesehen von den medizinischen Geräten war das Zimmer leer – keine Luftballons, keine Stofftiere.
Der Junge war dünn und hatte große braune Augen. Als Hayley im Türrahmen stehen blieb, hob er den Kopf von dem Buch, das er gerade las, und lächelte.
»Sie arbeiten aber noch spät.«
»Wie bitte?«
»Sie sind doch vom Jugendamt, oder? Manchmal kommt noch jemand etwas später zu mir, aber so spät war es noch nie.« Er fuhr das Kopfteil des Betts ein Stück höher. »Ich weiß schon, was sie fragen wollen. Ja, die Behandlung läuft gut. Ja, ich verstehe, was man hier mit mir macht. Das Essen ist okay. Manchmal bekomme ich von der Krankenschwester eine Extraportion Eiscreme. Also, wenn ich sie bei mir behalten kann. Mit den Hausaufgaben bin ich auf dem Laufenden. Mathe ist immer noch mein Lieblingsfach, was seltsam ist, also verraten Sie es bitte keinem.«
Hayley betrat das Zimmer. »Ich bin nicht vom Jugendamt.«
Der Junge lachte. »Dann wissen Sie jetzt viel zu viel über mich. Wer sind Sie?«
»Hayley. Und du?«
»Noah. Wieso sind Sie hier?«
»Mein Neffe ist gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Er ist gerade operiert worden. Ich habe ihn besucht und sah dann das Licht in deinem Zimmer.«
»Tut mir leid für Ihren Neffen.« Um Noahs Mund zuckte es. »Aber er kann bald wieder nach Hause, oder?«
Hayley nickte. »Darf ich mich kurz setzen?«
»Klar.« Er zeigte auf einen der Plastikstühle. »Ich bekomme nicht viel Besuch.«
»Woran liegt das?«
»Ich habe keine Familie. Ich bin Waise und lebe in einer Pflegefamilie.«
Sein Ton war lässig, als wäre das nicht wichtig. Aber seine Worte schnitten Hayley wie ein Messer ins Herz.
»Das tut mir leid.«
Er zuckte mit seinen knochigen Schultern. »Tja, kann man nichts gegen machen.«
»Wie lange bist du schon im Krankenhaus?«
»Eine Weile. Ich habe noch ein paar Wochen. Krebs. Ein Lymphom. Mir macht es nichts aus, darüber zu reden. Meine Pflegeeltern flüstern immer, wenn sie das sagen. Als wäre es ansteckend. Aber das ist es nicht. Meine Form kann man heilen. Klar, die Chemo ist ätzend, aber die Alternative ist schlimmer.«
»Wie alt bist du?«
»Elf.«
Er klang so viel älter, weiser. Und er hatte schon so viel durchgemacht.
»Kommen deine Pflegeeltern dich nicht besuchen?«, fragte sie.
»Nö. Dazu haben sie zu viel zu tun. Es gibt bei ihnen noch andere Kinder, und ich kann mich um mich selbst kümmern.«
Traurigkeit stieg in Hayley auf, doch sie versuchte, sie zu verbergen.
»Was liest du gerne?«
»Alles. Am liebsten Abenteuergeschichten. Aber ich bin nicht wählerisch. Und außerdem lese ich ziemlich schnell.« Er schaute sich um, wie um sicherzugehen, dass sie allein waren. »Verraten Sie es keinem, aber die Harry-Potter-Bücher gefallen mir echt gut. Auch wenn sie für Kinder sind.«
»Du bist ein Kind.«
Noah ließ ein Lächeln aufblitzen. »Manchmal schon. Haben Sie gewusst, dass es im Universal Orlando Resort einen Nachbau des Zugs gibt? Und den erreicht man über Bahnsteig 9 ¾.«
»Nein, das wusste ich nicht«, gab sie zu. »Ich habe die Bücher zwar auch gelesen, aber ich war noch nie in dem Themenpark.«
»Ich werde eines Tages hingehen«, erklärte Noah. »Wenn ich erwachsen bin.«
Denn im Moment gab es niemanden, der mit ihm dorthin gehen würde. Wenn seine Pflegeeltern sich nicht mal die Mühe machten, ihn im Krankenhaus zu besuchen, waren sie bestimmt nicht gewillt, mit ihm in den Urlaub zu fahren.
Hayley wollte sagen, dass sie ihm helfen konnte. Sie und Rob würden die Reise bezahlen. Aber mit wem würde er fahren? Er hatte ja niemanden.
»Was liest du jetzt gerade?«, wechselte sie das Thema.
Er hielt das Buch hoch. »Die Tribute von Panem. Das habe ich schon mal gelesen. Es ist gut. Aber ziemlich heftig, mit Gewalt und so. Ich finde es so seltsam, dass es so viele Bücher über Katastrophen gibt, in denen sich die Menschen danach dann trotzdem mies benehmen. Wie kommt das? Man würde doch meinen, wenn es einen großen Krieg oder so gibt, würden wir unsere Lektion lernen und uns besser verhalten, oder?«
»Das wäre vermutlich keine sonderlich interessante Geschichte.«
»Ja, vermutlich nicht.«
Hayley musterte den Jungen in dem Bett. »Okay, das klingt jetzt total seltsam und du darfst natürlich Nein sagen, aber hättest du gerne, dass ich dir eine Weile vorlese?«
Noah schaute sie sehr lange an, dann streckte er ihr das Buch hin. »Das wäre schön.«
Trotz ihrer Unterhaltung mit Hayley, trotz ihres Versprechens, stark zu sein, war Nicole zu dem Schluss gekommen, dass es für das Jairus-Problem nur eine Lösung gab. Nämlich, ihn nicht mehr zu treffen.
Sie saß ihm im Latte-Da gegenüber, die unangerührten Kaffeebecher zwischen ihnen auf dem Tisch.
»Ich habe ein schlechtes Gefühl, was deinen Wunsch für unser Treffen angeht«, gestand er ihr. »Nicole, tu es nicht.«
»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen will.«
»Aber ich fühle es. Du hast Angst. Das verstehe ich. Ich habe auch Angst. Ich war schon sehr lange nicht mehr verliebt, und noch nie habe ich für jemanden so empfunden wie für dich. Ich liebe dich. Und ich liebe Tyler. Bestraf mich nicht dafür.«
Wenn er ihr wehtun wollte, so hatte er gerade die genau richtigen Worte gefunden. »Jairus, es gibt vieles, was ich bedenken muss.«
»Nein. Gibt es nicht. Ich weiß, Eric hat dich verletzt. Ich weiß, du machst dir Sorgen, wieder einen Fehler zu begehen. Ich weiß, dass du an Tyler denken musst. Aber gib uns nicht auf. Geh nicht einfach.«
Er streckte seine Arme aus. »Nicole, ich will dich heiraten. Ich will Kinder mit dir haben und mit dir zusammen alt werden. Ich will dir alles geben, was ich habe, und immer für dich da sein.«
Seine Worte prasselten auf sie ein. Sie waren wundervoll und schmerzlich, und obwohl ein Teil von ihr sagen wollte: »Ja, tausendmal ja!«, riet der andere Teil ihr zu rennen. Zu flüchten, solange sie noch konnte, ohne dass sie oder Tyler einen Schaden davontragen würden.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie.
Er ließ seine Hände in den Schoß sinken. »Liebst du mich?«
Nicole senkte den Kopf. Lief es darauf hinaus? »Ich weiß es nicht.«
»Du hast gesagt, du tust es. Vorher. Ich glaube, das macht dir am meisten Angst. Mich zu lieben. Zu wissen, dass ich nicht abhauen, mich nicht entziehen werde. Denn damit das zwischen uns wirklich funktioniert, müsstest du dich ganz öffnen. Und das macht dich nervös. Du willst einen Teil von dir zurückhalten.«
Er stand auf und kam zu ihr herum. »Das werde ich nicht zulassen. Ich will alles, was du hast, Nicole. Keine Zurückhaltung. Keine Ausreden. Ich will einfach nur dein Herz.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich werde nirgendwohin gehen«, wiederholte er. »Nimm dir Zeit. Ich liebe dich. Das wird sich nicht ändern.«
Und dann war er fort.
Nicole saß vor ihrem kalt gewordenen Kaffee und bemühte sich, nicht zu weinen. So ist es besser, redete sie sich ein. Ja, nun war sie sicher. Hatte die praktische Entscheidung getroffen. Ihr und Tyler würde es gut gehen. Wenn es nur sie beide gab, konnte sie ihn beschützen. Ihre Welt war dann kleiner, aber das war es doch wert, oder?
Sie streckte die Hand über den Tisch aus, doch da war niemand mehr, der sie ergreifen konnte. Niemand, der sie anlächelte. Zum Lachen brachte. Das Richtige sagte. Sie spürte, dass sie schwach wurde. Jairus war nicht Eric.
Aber er kam trotzdem ohne eine Garantie. Eric hatte versprochen, sie für immer zu lieben. Die Scheidung konnte sie akzeptieren, aber nicht, dass er sich von seinem Sohn abgewandt hatte. Dass er ihr über seinen Anwalt Papiere hatte zukommen lassen, um Tyler nie wiedersehen zu müssen. Weil das zu anstrengend war.
Sie wollte Sicherheiten, doch Jairus konnte nur Versprechen geben. Und in ihrer Welt zählten Versprechen nicht mehr.
»Du kannst mit den Familien sprechen, wenn du möchtest«, sagte Amanda, eine attraktive Afroamerikanerin Mitte vierzig. »Wir haben mehrere Dutzend in unseren Akten. Du kannst dir deine zwei oder drei Favoriten aussuchen, und dann machen wir von da aus weiter.«
Gabby saß ganz dicht neben Makayla, die Hand auf den Rücken des Mädchens gelegt. Ihre Stieftochter war angespannt und hatte Probleme, der Adoptionsberaterin in die Augen zu schauen.
»Ich will niemanden, der in der Nähe wohnt«, flüsterte sie. »Ich will ein Paar, das auf der anderen Seite des Landes lebt.«
»Natürlich. Das ist kein Problem. Hast du sonst noch irgendwelche Kriterien?«
Makayla schüttelte den Kopf. »Nur, dass sie gut zu dem Baby sind.« Sie schniefte. »Gabby und ich waren gestern beim Arzt. Es ist ein Junge. Ist das wichtig?«
»Nein«, sagte Amanda sanft lächelnd. »Den meisten unserer möglichen Eltern ist das Geschlecht egal. Aber es ist schön, dass du es schon weißt.«
Gabby war nicht sicher gewesen, ob Makayla es wissen wollte. Doch als die Ärztin gefragt hatte, ob sie das Geschlecht erfahren wollte, hatte das Mädchen Ja gesagt.
»Für mich ändert es auch nichts«, gestand Makayla. »Es war nur eine Frage.«
Amanda erklärte ihnen, wie der Prozess ablaufen würde. Dann sprachen sie darüber, wie man die Eltern auswählte.
»Nach unserer Erfahrung läuft es am besten, wenn man ein oder zwei persönliche Treffen mit den Favoriten hat und dann eine Wahl trifft. Während der restlichen Schwangerschaft kannst du gerne mit ihnen in Kontakt bleiben.«
»Werden sie da sein, wenn das Baby auf die Welt kommt?«, wollte Makayla wissen.
»Das ist möglich.«
»Ich will, dass sie da sind. Ich will, dass sie ihn nehmen, sobald er geboren ist.«
Gabby legte ihre Hand auf Makaylas Oberschenkel, und das Mädchen ergriff sie und drückte sie fest.
»Ich will ihn nicht sehen.«
Amanda nickte. »Ich verstehe. Nun zum Erzeuger. Du hast erwähnt, dass er seine Rechte abgetreten hat?«
»Ich habe die Papiere dabei«, warf Gabby ein. »Er hat kein Problem damit, wenn Makayla das Baby zur Adoption freigibt.« Sie hatte vorsichtshalber noch mal Boyds Mutter angerufen, um sicherzugehen. »Wenn es noch weitere Formulare gibt, füllt er sie gerne aus.«
»Dann sollte das alles reibungslos über die Bühne gehen. Sprechen wir doch ein wenig über einige der Paare, auf die deine Kriterien zutreffen.«
Gabby blieb nah bei ihr, während Makayla sich die Mappen der möglichen Eltern anschaute. Sie versuchte, ihre Meinung für sich zu behalten, doch Makayla schaute sie immer wieder an und fragte: »Was meinst du?« Nach ein paar Stunden hatten sie die Liste auf drei Paare zusammengestrichen. Eins kam aus North Carolina, ein anderes aus Florida, und das letzte Paar wohnte in Maine.
»Die aus Maine gefallen mir am besten«, sagte Makayla, als sie mit Gabby zum Auto ging. »Sie arbeiten beide für die Forstverwaltung, also wird er viel draußen sein. Ich mochte auch ihre Briefe.«
Gabby nickte. »Ja, vor allem den von ihr.« Die Frau hatte sich als Teenager einer Operation unterziehen müssen und konnte keine Kinder mehr bekommen. »Außerdem stammen sie beide aus großen Familien, sodass er viele Cousins und Cousinen zum Spielen haben wird.«
»Das ist eine echt wichtige Entscheidung.« Makayla klang müde. »Ich will keinen Fehler machen.«
Gabby legte ihr einen Arm um die Schultern. »Das wirst du nicht. Alle Paare sind gründlich durchleuchtet worden. Alle drei wären eine ausgezeichnete Wahl. Wenn du das Ganze unter dieser Voraussetzung angehst, gibt es nur noch die Frage, welches der Paare dich am meisten anspricht.«
Sie schloss den SUV auf.
»Lass uns heute Abend mit deinem Dad sprechen und seine Meinung einholen. Die Entscheidung liegt ganz bei dir, aber vielleicht hilft es dir, wenn wir zu dritt darüber reden.«
»Ja, das wäre gut.« Makayla seufzte. »Ich schätze, du solltest mich jetzt zur Schule bringen. Ich bin immer noch früh genug dran für den Nachmittagsunterricht.«
Das offensichtliche Unbehagen des Mädchens weckte in Gabby den Wunsch, ihre Stieftochter vor der Welt zu beschützen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, schwanger durch die Flure der Highschool wandern zu müssen. Was für ein Albtraum.
»Warum nimmst du dir den Nachmittag nicht frei?«, bot sie an. »Wir können deine Aufgaben aus dem Internet herunterladen, und du kannst sie zu Hause machen.«
»Wirklich?« Erleichterung zeichnete sich in ihrer Miene ab. »Das wäre super. Danke.«
»Kein Problem.«
Während Gabby vom Parkplatz fuhr, sagte sie sich, dass es jetzt so weit war. Sie musste sich entscheiden. War sie dazu wirklich bereit? Denn sobald sie sich einmal entschieden hatte, gab es kein Zurück mehr.
Sie spürte in ihr Herz hinein und fand nur Liebe für das Mädchen neben sich. Was ihren Job anging – nun, das war ein Fehler gewesen. Sie hatte versucht, wieder die zu sein, die sie gewesen war, als sie mit der Arbeit aufgehört hatte. Doch diese Frau gab es nicht mehr. Sie musste daran denken, wer sie jetzt war und was sie jetzt wollte. Was später am Abend sicher zu einer sehr interessanten Unterhaltung mit Andrew führen würde.