30. Kapitel

Vor dem Krankenzimmer zögerte Hayley. Sie war nervös, was wirklich albern war. Schließlich wollte sie nur einem kranken Jungen etwas zu essen bringen, mehr nicht. Wobei … So ganz stimmte das nicht. Abgesehen von Burger, Pommes frites und einem Milchshake, um den er gebeten hatte, hatte sie auch einen Stapel Bücher dabei. Trotzdem, was war, wenn Noah nicht mit ihr reden wollte?

Nach einem tiefen Atemzug straffte sie die Schultern und betrat das Zimmer.

»Hi, Noah.«

Der Junge schaute auf und grinste, als er sie sah. »Hayley. Ich war mir nicht sicher, ob Sie wiederkommen würden.«

»Das habe ich doch aber versprochen, oder? Außerdem, was sollte ich hiermit sonst machen?« Sie hielt die Papiertüte von Gary’s Café hoch. »Wie bestellt: ein Cheeseburger, Pommes frites und ein Schokomilchshake.«

Noah fuhr das Kopfteil des Betts hoch. »Das klingt super. Vielen Dank. Ich weiß allerdings nicht, wie viel ich essen kann. Ich hatte eine ziemlich schlechte Nacht.«

Hayley zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Du musst gar nichts davon essen. Ich kann es auch gerne nach draußen bringen, wenn der Geruch dich stört.«

»Auf keinen Fall. Ich will es zumindest versuchen.« Er grinste. »Es ist lange her, dass ich einen Burger hatte.«

Hayley zog den Rolltisch näher ans Bett und stellte die Tüte darauf. Als Noah den Burger herausnahm, versuchte sie, nicht seinen kahlen Kopf anzustarren. Es war nur … Er sieht so verletzlich aus, dachte sie. Schutzlos. Als Kind gegen den Krebs kämpfen zu müssen, war schon schlimm genug, aber dann auch noch ganz allein? Das konnte sie sich nicht mal ansatzweise vorstellen. Wenn sie das gewesen wäre, hätten ihre Eltern quasi im Krankenhaus gewohnt und sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Und Morgan hätten sie auch mitgeschleppt. Ihre Schwester hätte sich laut darüber beschwert, dass Hayley die gesamte Aufmerksamkeit bekam, aber sie wären für sie da gewesen.

Weil sie meine Familie sind, dachte sie. Mit allen Fehlern und Schwächen. Sie bedauerte es, die Szenen ihrer Kindheit in etwas Schlechtes verdreht zu haben. In etwas, das ihr Angst machte. Vor allem, weil es vollkommen unnötig gewesen war.

Noah nahm einen Biss und kaute. Seine Augen weiteten sich.

»Wow«, murmelte er mit vollem Mund.

»Ja, ich kenne die besten Burgerbuden der Stadt«, witzelte Hayley. »Halt dich immer schön an mich, Kleiner.«

Grinsend nahm er noch einen Bissen und bot Hayley dann die Pommes frites an.

Sie nahm einen. Er war noch warm und schön salzig.

»Wie geht es Ihrem Neffen?«, fragte Noah.

»Die Operation ist gut gelaufen, und er darf vermutlich morgen früh nach Hause. Er wird ein paar Wochen Schule verpassen, was ihn wahnsinnig freut.«

Noah verdrehte die Augen. »So viele Kinder mögen die Schule nicht, aber ich schon. Es bringt Spaß, Neues zu lernen. Und es ist besser, als krank zu Hause zu sein.«

Sie nahm an, dass wohl ziemlich alles besser war als das. »Wie lange wirst du noch im Krankenhaus bleiben?«

»Ein paar Wochen. Das ist meine zweite Runde Chemo, und sie denken, es wird auch die letzte sein.« Er legte den Burger ab. »Sorry. Mehr kann ich grad nicht essen.«

Er hatte zwei Bissen zu sich genommen.

»Aber er war wirklich gut.«

Hayley schüttelte den Kopf. »Das mit dem Burger und den Pommes war also nur leeres Gerede?«, zog sie ihn auf.

Er grinste. »Tja. Aber ich glaube, ich kann den Milchshake trinken.«

»Mach dir keine Sorgen, wenn es nicht geht.«

Eine Krankenschwester in einem bunten Kittel kam herein. »Hey, Noah.«

»Hi, Minerva. Das ist Hayley.«

Minerva wirkte überrascht. »Schön, Sie kennenzulernen. Sind Sie Noahs Pflegemutter?«

»Sie ist eine Freundin«, erklärte Noah schnell. »Ihr Neffe hat sich das Bein gebrochen, und sie ist zu Besuch.«

»Oh, das tut mir leid.« Minerva wandte sich an Noah. »Ich muss dir Blut abnehmen.«

Noah seufzte. »Minerva ist halber Vampir, aber ich mag sie trotzdem.«

»Ich kann nicht anders. Dein Blut zieht mich magisch an.«

Hayley stand auf. »Dann gehe ich mal aus dem Weg.«

Minerva winkte ab. »Das müssen Sie nicht. Das läuft über den Port, den wir Noah gelegt haben.«

»So ist es einfacher«, erklärte Noah. »Sie können mir jederzeit Blut abnehmen und mich mit Medikamenten vollpumpen. Irgendwie ist es eklig, aber ich habe mich daran gewöhnt. Es tut auch nicht weh.«

Hayley sah zu, wie die Krankenschwester die Bettdecke zurückschlug und einen venösen Zugang unterhalb von Noahs Schlüsselbein freilegte. Sie riss die sterile Verpackung einer Spritze auf, und instinktiv griff Hayley nach Noahs Hand. Er drückte ihre Finger.

»Ist schon gut«, versicherte er ihr.

»Ich versuche, dich zu beruhigen. Nicht andersherum.«

Er grinste. »Okay. Wenn Sie darauf bestehen.«

»Das tue ich.«

Nachdem Minerva gegangen war, blieb Hayley noch ein paar Minuten, dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. »Ich muss wieder zur Arbeit. Hättest du heute Abend gerne etwas Gesellschaft?«

»Klar. Wenn Sie Lust haben vorbeizukommen?« Er sah sie an. »Sie müssen das nicht tun. Ich meine, mich besuchen. Ich bin es gewohnt, mich allein um mich zu kümmern.«

»Das glaube ich dir. Aber ich würde trotzdem gern vorbeikommen. Gibt es noch etwas, das du gerne essen möchtest?«

»Schoko-Chips-Kekse«, sagte er lachend.

»Wird erledigt.«

Gabby machte sich nicht die Mühe, die Tür zum Badezimmer zu schließen. Es war kurz vor der Essenszeit für die Tiere, die ihr deshalb überallhin folgten. Egal, wie oft sie auf die Uhr zeigte und erklärte, dass es bis zur Fütterungszeit noch eine Stunde war – die beiden blieben ihr weiter auf den Fersen. Anscheinend hatten sie keine Lust zu lernen, wie man die Uhr las.

Also pinkelte sie, während Boomer geduldig auf dem Vorleger vor der Badewanne lag und Jasmine um ihre Beine streifte. Als sie in das Chaos der Küche zurückkehrte, saß Makayla mit den Zwillingen am Tisch und malte. Der Geruch nach Rosmarin und Knoblauch von der Marinade, die sie vorher angerührt hatte, erfüllte den Raum. Die frisch gebackenen Brownies kühlten auf einem Gitter ab. Der Salat stand im Kühlschrank. Sie hatte das Gemüse und die Koteletts, die sie nachher auf den Grill legen wollten, bereits eingelegt. Andrew hatte versprochen, pünktlich um halb sechs zu Hause zu sein. Wenn er das schaffte, wäre er für das Grillen verantwortlich, ansonsten würde sie schon mal damit anfangen.

Sie ging zum Tisch und legte Makayla eine Hand auf die Schulter. Das Mädchen lächelte sie an und reichte Kenzie einen weiteren Wachsmalstift.

Das will ich, dachte Gabby, Zeit mit meiner Familie. Sie wollte nicht den verrückten Stress ihres angeblichen Teilzeitjobs. Nicht Berichte lesen und neue Gesetze analysieren. Sie wollte mit echten Menschen arbeiten, mit Kindern und Erwachsenen. Sie wollte auf eine Weise helfen, dir ihr sinnvoll erschien.

Später am Abend, als die Zwillinge im Bett waren, saßen Gabby, Andrew und Makayla am Küchentisch. Sie hatten bereits über die drei Paare gesprochen, die es in Makaylas nähere Auswahl geschafft hatten. Andrew hatte ein paar sehr gute Fragen gestellt, war aber am Schluss mit Gabby einer Meinung gewesen.

»Es gibt keine falsche Entscheidung. Du musst das tun, was du für richtig hältst.«

Makayla nickte. »Das Paar aus Maine gefällt mir am besten. Ich möchte, dass sie es werden.«

»Wieso nimmst du dir nicht ein paar Tage Zeit?«, setzte Andrew an, doch Makayla unterbrach ihn.

»Dad, ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich weiß, ich habe mich in vielen Dingen sehr unreif verhalten. Vor allem, als ich anfangs den Verdacht hatte, vielleicht schwanger zu sein. Als ich noch dachte, Boyd und ich würden immer zusammen sein. Tja, das war einfach nur dumm.«

Gabby beugte sich zu ihr. »Nein, war es nicht. Du hast ihm vertraut und an ihn geglaubt. Das ist nicht unreif, und es ist nicht falsch. Boyd ist derjenige, der einen Fehler gemacht hat, nicht du.«

»Meine Vorstellungen waren total daneben. Ich bin fünfzehn, und er ist nur ein Jahr älter. Wie hätten wir zusammen ein Kind großziehen sollen? So ist es besser. Ich will das Baby nicht behalten. Der Kleine braucht ein gutes Zuhause mit Eltern, die für ihn bereit sind.«

Gabby umarmte sie. »Du machst das wirklich gut.«

»Danke.«

Gabby richtete sich wieder auf. »Okay, jetzt bin ich dran.« Sie sah ihren Mann an. »Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Makayla fühlt sich an der Highschool nicht wohl, und ich finde, sie sollte da nicht weiter hingehen müssen.«

Andrew musterte sie abwartend. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Wo sollte sie sonst hin?«

Gabby dachte an die Recherchen, die sie angestellt hatte. »Es ist nur eine Idee, aber ich könnte sie für den Rest des Schuljahres hier zu Hause unterrichten. Ich habe mich im Internet erkundigt, und es gibt einige ausgezeichnete Programme.«

Es gab noch so viel mehr, was sie sagen wollte – akademisch betrachtet wäre es eine Herausforderung. Gabby würde ein angesehenes, aber herausforderndes Programm aussuchen, sodass Makayla, wenn sie im September in die Schule zurückkehrte, ihren Klassenkameraden voraus war.

Aber sie kam nicht dazu, das zu sagen, denn Andrew starrte sie mit offenem Mund an, und Makayla war aufgesprungen und hüpfte auf und ab.

»Ja!«, rief sie. »Das will ich. Ich werde auch alles tun, was du sagst. Ich mache meine Hausaufgaben und lerne und werde die perfekte Schülerin sein. Ja. Ja!«

Andrew riss sich so weit zusammen, dass er fragen konnte: »Gabby, bist du dir da sicher?«

»Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach.«

»Du müsstest deinen Job kündigen.«

»Ich weiß. Um ehrlich zu sein: Ich will da nicht mehr arbeiten. Ich hasse es. Ich weiß nicht, wann sich das verändert hat, aber ich merke, dass ich keine Anwältin mehr bin. Ich möchte Makayla zu Hause unterrichten, und wenn sie wieder zur Schule geht, will ich aufs College und meinen Master in Bildungsverwaltung machen.«

Andrew lachte. »Du willst Schuldirektorin werden?«

»Irgendwann, ja. Ich habe durch Makaylas Schwangerschaft eine Menge gelernt und glaube, ich könnte helfen.«

»Verdammt, du überraschst mich immer wieder.« Er sah seine Tochter an. »Dann sind wir uns also einig? Gabby wird dich bis Ende Juni zu Hause unterrichten.«

Makayla umarmte sie beide. »Ja. Das wird super, ihr werdet sehen.«

»Zumindest wird es interessant«, schmunzelte Gabby und drückte das Mädchen. »Ich habe schon ganz viele Ideen, was wir alles machen können.«

»Ich kann es kaum erwarten, sie zu hören.« Makayla richtete sich auf. »Aber jetzt gehe ich nach oben und schreibe einen Brief an das Paar aus Maine. Oh, meinst du, dass wir ihre Namen erfahren, sobald wir Amanda von unserer Entscheidung erzählen?«

»Da bin ich mir sicher.«

»Cool.«

Sie ging. Andrew stand auf und zog Gabby auf die Füße. Dann küsste er sie.

»Wie kann ich dir nur danken?«, fragte er.

»Das musst du nicht. Ich möchte gern helfen.« Sie legte ihre Hände flach auf seine Brust. »Es ist seltsam. Als ich von ihrer Schwangerschaft erfahren habe, fühlte ich mich gefangen. Und ich war wütend. Aber irgendwie hat die Erfahrung uns beide einander nähergebracht. Genauso geht es mir mit Makayla. Sie ist mir sehr wichtig, und ich möchte, dass sie glücklich ist. Wenn sie das nächste Mal schwanger wird, wird es unser Enkelkind sein, nicht nur deins.«

Er küsste sie erneut. »Danke, Gabby.«

»Ich danke dir. Wenn wir uns nicht ineinander verliebt hätten, hätte ich nichts von alldem hier.« Sie lehnte sich an ihn. »Du bist mein Prinz, Andrew. Selbst wenn du mich in den Wahnsinn treibst.«

»Dann ist mein Werk hier vollbracht.« Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Also, was fangen wir mit dem Rest des Abends an?«

»Wie wäre es mit etwas Ungezogenem?«

Nicole wischte die Hände an dem Handtuch ab und trat einen Schritt zurück, um das Wandgemälde zu betrachten. Obwohl sie beinahe jeden Tag daran gearbeitet hatte, ging es nur langsam voran. Was vermutlich daran lag, dass sie weder Jairus’ Talent noch seine Geduld besaß. Aber für Tyler war es wichtig, und wenn ihr Sohn seinen Freund Jairus nicht mehr treffen konnte, sollte er zumindest sein Werk sehen.

Beinahe eine Woche war vergangen, seitdem sie das letzte Mal mit Jairus gesprochen hatte. Eine Woche, bestehend aus schlaflosen Nächten und langen, traurigen Tagen. Eine Woche, in der Tyler immer wieder gefragt hatte, wann Jairus nach Hause kam.

Denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Nicole ihren Sohn angelogen. Anstatt ihm die Wahrheit zu sagen, hatte sie erzählt, dass er wieder auf Lesereise wäre. Sie hatte sich versprochen, dass sie alles erklären würde, sobald sie herausgefunden hatte, was sie sagen sollte. Oder besser, wie sie es formulieren sollte. Denn das, was passiert war, war schrecklich gewesen … und ganz allein ihre Schuld. Sie würde ihrem Sohn sagen müssen, dass sie keine Zeit mehr mit Jairus verbringen würden, weil sie Angst hatte.

Angst hatte zu lieben, Angst, verletzt zu werden. Angst zu vertrauen. Sie war ein Feigling. Und anstatt sich diesen Ängsten zu stellen, war sie einfach gegangen. Hatte Jairus den Rücken zugekehrt und damit nicht nur sich, sondern auch Tyler wehgetan.

Sie musterte das Gemälde, die bunten Farben, die sorgfältig gezeichneten Linien, die den immer fröhlichen Brad zum Leben erweckten. Ein Junge und sein Drache, dachte sie traurig.

Es klingelte an der Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte Nicole sich zu hoffen, dass es Jairus war. Dass er gekommen war, um ihr etwas Verstand einzutrichtern, um darauf zu bestehen, dass sie ihnen beiden eine zweite Chance gab. Aber als sie die Tür öffnete, stand davor nur eine schlanke Kurierfahrerin mit einem dicken Umschlag in der Hand.

»Wenn Sie bitte hier unterschreiben mögen, Ma’am«, sagte sie und hielt Nicole ihr Tablet ein.

Nicole kritzelte ihren Namen und nahm das Päckchen entgegen. Sie hatte nichts bestellt, und auf dem Umschlag stand kein Absender.

Einen Moment lang drehte sie das Paket in ihren Händen hin und her, bevor sie es öffnete. Darin war ein Buch. Nein, kein Buch, nur lose zusammengebundene Seiten. Auf dem Deckblatt sah sie den bekannten roten Drachen und den Titel: Brad der Drache und das Tango-Mädchen.

Nicole sank auf den Boden. Noch bevor sie zur ersten Seite umgeblättert hatte, schwammen ihre Augen in Tränen.

Die Geschichte war schlicht: Brad traf das Tango-Mädchen – eine hübsche blonde Drachenfrau, die gerne tanzte. Brad und Tango-Mädchen gingen zum Abendessen aus und an den Strand. Brad verliebte sich in Tango-Mädchen und bat sie, ihn zu heiraten, doch Tango-Mädchen sagte Nein. Auf der vorletzten Seite saß Brad und weinte dicke, fette Drachentränen. Die letzte Seite war leer bis auf ein Post-it, auf dem stand: Ich hoffe auf ein Happy End.

Mehr nicht.

Nicole schloss die Augen und sagte sich, dass alles gut werden würde. Das hier war keine große Sache. Ja, es war eine bezaubernde Geste, die aber keine Bedeutung hatte, wenn sie das nicht wollte. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, da würde sie sich nicht umstimmen lassen von …

Einem Buch? Die Geschichte war nicht das Problem. Auch nicht das offene Ende. Das Problem war einzig und allein sie. Wie stolz sie immer darauf gewesen war, niemanden zu brauchen. Sich um alles selbst zu kümmern. Ein gutes Vorbild für ihren Sohn zu sein. Aber was machte sie da gerade? Sie brachte ihm bei, dass es besser war, zu lügen und Angst zu haben, als die Wahrheit zu sagen. Dass es besser war, sich allein einzuigeln, als die Chance zu ergreifen, mit einem wundervollen Menschen zusammen zu sein und seine Liebe zu spüren.

Kopfschüttelnd stand sie auf und ging in Tylers Zimmer zurück. Das Wandgemälde dominierte den gesamten Raum. Alles daran war fröhlich und positiv. Jairus war nur ein paar Monate in ihrem Leben gewesen, und doch hatte er schon seinen Abdruck hinterlassen. Wollte sie ihn wirklich wegen etwas verlieren, das er vielleicht niemals tun würde?

Angst kämpfte gegen Hoffnung und Liebe. Nicole wusste, was sie wollte, und sie wusste, was richtig war. Und endlich einmal war beides ein und dasselbe.

Sie lief in die Küche und schnappte sich Handtasche und Handy. Das Buch hielt sie immer noch in der Hand.

Die Fahrt zu Jairus’ Haus dauerte nur zehn Minuten. Nicole rannte zur Haustür, die aufging, bevor sie sie erreicht hatte.

Jairus stand im Türrahmen und lächelte sie an. »Ich hatte gehofft, dass Brad dich erreicht, wenn ich es nicht schaffe.«

Sie warf sich ihm an den Hals. Ihre Handtasche und das Buch fielen zu Boden, als sie ihren Kopf an seiner Schulter vergrub.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich hatte solche Angst. Nein. Ich war panisch. Ich liebe dich und will mit dir zusammen sein. Ich liebe dich, Jairus. Es tut mir leid, dass ich damit vorher nicht umgehen konnte.«

Er zog sich ein Stück zurück, um sie küssen zu können. »Ist schon okay, Tango-Mädchen. Du warst es wert zu warten.«

»Ich weiß, dass es einen anderen gibt.«

Hayley starrte ihren Ehemann an, der da so blass in der Küche stand und sie anschaute. Seine Schultern hingen herab, sein Mund war eine gerade, von Schmerz gezeichnete Linie.

»Ich habe versucht, es zu ignorieren«, fuhr er fort. »Aber du machst jeden Tag eine lange Mittagspause und verschwindest abends. Du versuchst nicht mal, es zu verheimlichen.«

»Woher weißt du von den langen Mittagspausen?« Das war eine lächerliche Frage, aber die erste, die ihr in den Sinn kam.

»Ich bin vorbeigekommen, um dich zu besuchen, da hat Steven es mir erzählt.«

Hintergangen von meinem Chef, dachte sie und wusste, dass die Situation unter anderen Umständen durchaus lustig gewesen wäre.

»Es gibt keinen anderen, Rob. Nicht auf die Art, wie du denkst.«

Er wirkte nicht überzeugt. »Ich liebe dich, Hayley. Ich dachte, wir hätten alles überstanden. Ich weiß, der Schmerz über das, was wir verloren haben, wird niemals ganz vergehen. Aber ich hatte gehofft, dass wir Fortschritte machen.«

»Das tun wir auch.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Rob, ich liebe dich so sehr. Du bist der einzige Mann, den ich je geliebt habe, und ich schwöre, das hat sich nicht geändert.«

Ihre Worte schienen ihn immer noch nicht zu überzeugen. »Was hast du dann die ganze Zeit gemacht?«

»Ich war im Krankenhaus.«

Er wurde kreidebleich. »Bist du krank?«

»Nein. Mir geht es gut. Tut mir leid, das hätte ich anders ausdrücken sollen. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Er atmete tief ein. »Sag mir, was los ist.«

»Da gibt es diesen Jungen. Noah. Er ist elf. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, und seine Mutter starb vor drei Jahren bei einem Autounfall. Er hat keine weiteren Verwandten, also ist er in eine Pflegefamilie gekommen. Was weißt du über Lymphome?«

Eine Stunde später wirkte Rob wesentlich entspannter. Während er weitere Fragen stellte, kehrte auch die Farbe in sein Gesicht zurück.

»Was ist mit einem Baby?«

»Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen«, gab Hayley zu. »Und ich war bei einigen Treffen einer Selbsthilfegruppe. Du hast ab und zu auch über ältere Kinder gesprochen, aber ich habe nie verstanden, wieso wir das wollen sollten.« Sie seufzte. »Die Wartelisten für einen Säugling sind endlos lang. Und wir würden ganz unten stehen. Es kann viel Geld kosten, und es gibt keine Garantie, dass es irgendwann klappt. Das hat mich frustriert. Ich will, dass wir eine Familie haben. Ich weiß, dass du ein Vater sein möchtest, und du wärst ein guter Dad. Und ich möchte Mutter sein. Aber bis ich Noah kennengelernt habe, wusste ich nicht, wie uns das gelingen soll.«

Rob lächelte sie an. »Warum er?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe Licht in seinem Zimmer gesehen und bin einfach hineingegangen. Wir haben uns unterhalten. Ich mag ihn. Er hat eine alte Seele und viel durchgemacht. Er ist süß und stark und noch ein Kind. Er braucht uns, Rob. Nach allem, was ich im Internet gelesen habe, müssten wir uns als Pflegeeltern zertifizieren lassen. Sobald wir das getan haben, können wir ihn zu uns holen und gucken, wie es läuft. Wenn wir alle einverstanden sind, wäre der nächste Schritt, ihn zu adoptieren.«

Sie legte die Hände zusammen. »Ich weiß, ich lege hier ein enormes Tempo vor, aber ich kann nicht anders. Was meinst du? Wärst du bereit, ihn wenigstens kennenzulernen?«

Rob sah sie lange an, dann lächelte er. »Können wir gleich los?«

Es war beinahe sieben Uhr am Abend, als sie im Krankenhaus ankamen. In den meisten Zimmern der Kinderstation hatten sich Familien versammelt. Unterhaltungen und Gelächter hallten auf den Flur hinaus. Ab und zu hörte man auch ein Weinen, aber die meisten Gespräche schienen fröhlich zu sein.

Hayley ging vom Fahrstuhl aus voran. An der Tür zu Noahs Zimmer blieb sie stehen. Ihre Nerven lagen blank. Nicht, weil sie sich Sorgen machte. Denn auch wenn viel schiefgehen konnte, wusste sie tief im Herzen, dass alles gut laufen würde. Nein, ihre Nervosität war der Vorfreude geschuldet. Denn sie spürte, dass das hier der Anfang von einer wundervollen Reise war, die sie alle gemeinsam antreten würden.

Sie nahm Robs Hand und betrat gemeinsam mit ihm das Zimmer. Noah sah von seinem Buch auf und lächelte.

»Hi, Hayley.«

»Selber hi. Noah, das ist mein Mann, Rob. Rob, darf ich dir Noah vorstellen?«

»Schön, dich kennenzulernen, Noah.«

Die beiden schüttelten einander die Hand. Hayley zog derweil zwei Stühle heran.

»Du siehst besser aus«, sagte sie, als ihr die leichte Farbe in seinen Wangen auffiel. »War heute ein guter Tag?«

»Ja, war es. Ich habe mich nicht ein einziges Mal übergeben.«

Rob wirkte verblüfft. »Du solltest deine Ansprüche ein wenig höher schrauben.«

Noah legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Stimmt. Dass es ein guter Tag war, nur weil ich nicht spucken musste, ist irgendwie lasch.«

»Es könnte schlimmer sein«, erwiderte Rob. »Zum Beispiel, wenn ein guter Tag einer wäre, an dem du keine Kakerlaken im Essen findest.«

Noah grinste. »Oder Ratten unterm Bett.«

»Oder …«

»Ähem«, unterbrach Hayley die beiden. »Vielleicht können wir über etwas anderes reden?«

»Mädchen«, sagte Rob liebevoll. »Die können so empfindlich sein.«

»Wem sagen Sie das.« Noah schaute Hayley an. »Minerva sagte, wenn mir danach ist, kann ich für ein Eis in die Cafeteria gehen. Können wir das machen?«

»Auf jeden Fall.«

»Ich bin für den Rollstuhl verantwortlich«, verkündete Rob. »Und wir werden blitzschnell sein.«

Noah drückte den Rufknopf für die Schwester. Als sie mit dem Rollstuhl kam, hob Rob den Jungen hinein. Hayley sorgte dafür, dass sich der Infusionsschlauch nicht verhedderte. Dann marschierten sie zum Fahrstuhl. Während sie warteten, schaute Rob seine Frau an und reckte den Daumen in die Höhe.

In diesem Moment spürte Hayley, wie tief in ihrem Herzen eine Wunde verheilte. Sie würden nie ihr eigenes Baby in den Armen halten. Aber sie würden eine Familie sein. Liebe und Freude hingen nicht von der DNA ab. Sie waren ein Geschenk. Eines, für das sie jeden Tag ihres Lebens dankbar sein würde.