1. Kapitel

War es wirklich falsch, allein auf Toilette gehen zu wollen? Über diese Frage hatte Gabrielle Schaefer bestimmt vierhundertmal innerhalb der letzten Monate nachgedacht. Ja, sie liebte alles an ihrem Leben: ihren Ehemann, ihre fünfjährigen Zwillingstöchter, die Haustiere, ihr Haus. Sie hatte sehr viel Glück gehabt, das alles war ein unglaubliches Geschenk, das wusste sie. Aber ab und zu … okay, mindestens einmal am Tag wollte sie in der Lage sein, allein ins Bad zu gehen, wie jeder normale Mensch. Sich auf die Toilette zu setzen und zu pinkeln.

Und zwar ungestört. Ohne dass jemand die Tür aufstieß und sich beschwerte, dass sie Hunger hatte oder Kenzie ihr die Puppe geklaut hatte. Ohne dass Andrew mit je einem Paar Socken in der Hand hereinkam, um sie zu fragen, welches die bessere Wahl wäre. Ohne dass sich eine rosige Katzenpfote unter der Tür hindurchstreckte oder der Basset leise auf der anderen Seite wimmerte und darum bettelte, hereingelassen zu werden. Allein. Oh, diese dreißig oder vierzig Sekunden allein sein zu können. In aller Ruhe spülen und sich allein die Hände waschen.

Gabby setzte den Blinker, um auf die linke Fahrbahn zu wechseln, dann wartete sie darauf, dass sie abbiegen konnte. Siebenundfünfzig Tage, rief sie sich in Erinnerung. Sie hatte noch siebenundfünfzig Tage, bis die Zwillinge in die Vorschule kamen und sie zur Arbeit zurückkehren würde. Nur in Teilzeit, aber immerhin. Es würde wundervoll werden. Auch deshalb, weil sie dann endlich mal allein pinkeln könnte.

»Was ist so lustig?«, fragte Kenzie vom Rücksitz. »Warum lächelst du?«

»Erzählst du dir einen Witz?«, fragte Kennedy. »Dürfen wir ihn auch hören?«

Ja, sie sind in dem Alter, in dem sie tausend Fragen am Tag stellen, dachte Gabby, den Blick fest auf den entgegenkommenden Verkehr gerichtet. Als sie eine Lücke sah, bog sie auf den Parkplatz ein und fuhr zum Ende der Ladenzeile. Direkt vor Supper’s in the Bag waren noch ein paar Plätze frei. Sie bog auf einen ein und stellte den Motor ab.

»Ich habe nur lustige Gedanken«, erklärte sie ihren Mädchen. »Ich kenne keine Witze.«

Kennedy zog die Nase kraus. »Okay.«

Ihr war die Enttäuschung anzuhören. Beide Mädchen wussten, dass Dinge, die Erwachsene lustig fanden, und wirklich lustige Dinge nicht dasselbe waren.

Gabby nahm ihre Handtasche mit dem langen Schulterriemen, der es ihr erlaubte, sie quer über dem Körper zu tragen, und stieg aus. Dann ging sie zur hinteren Tür und öffnete sie.

»Bereit?«, fragte sie.

Beide Mädchen nickten. Sie waren bereits dabei, ihre Sicherheitsgurte zu lösen.

Sie aus den Kindersitzen herauszukriegen, war nie ein Problem. Sie hineinzubekommen, das war eine ganz andere Frage. Obwohl die Sitze für Kinder bis zu dreißig Kilo gemacht waren, wollten die beiden lieber nur eine Sitzerhöhung statt der Kindersitze. Nur Babys hatten Kindersitze, war Gabrielle schon mehrfach aufgeklärt worden. Die Tatsache, dass Kindersitze sicherer waren, schien in der Diskussion keine große Rolle zu spielen.

Andrew und ich müssen eine bessere Strategie entwickeln, dachte sie, als sie zuerst Kennedy und dann Kenzie half, aus dem Auto zu steigen. Denn so langsam ging ihr das schwer auf die Nerven. Jeden Tag der gleiche Stress. Außerdem wurden die Kindersitz-Diskussionen immer länger, sodass sie jedes Mal fünf bis zehn Minuten mehr einplanen musste, nur um rechtzeitig da zu sein.

Das Problem ist, dass beide Mädchen nach ihrem Vater kommen, dachte sie amüsiert. Er war ein hochtalentierter Verkaufsleiter und verfügte über sehr viel verbalen Charme. Selbst mit ihren fünf Jahren fingen die Zwillinge schon an, sich aus Schwierigkeiten herauszureden.

»Ist Tyler da?«, wollte Kennedy wissen.

Gabby strich ihrer Tochter die Haare aus den Augen. Der verdammte Pony musste mal wieder geschnitten werden. »Ja, ganz bestimmt.«

Die Mädchen jubelten. Tyler, der Sohn ihrer Freundin Nicole, war sechs und würde bald in die erste Klasse kommen. In den Augen der Zwillinge, die bald in die Vorschule gingen, war Tyler ein Mann von Welt. Er wusste vieles, und die beiden beteten ihn förmlich an.

Gabby griff um die verhassten Kindersitze herum nach den leeren Einkaufstaschen, die sie für ihre Mitgliedschaft erhalten hatte. Sie waren hellgrün und mit dem Logo von Supper’s in the Bag bedruckt. Alle zwei Wochen nahm sie mit ihren Freundinnen an einer dreistündigen Session im Supper’s in the Bag teil, und wenn sie ging, hatte sie sechs vollständige Mahlzeiten für ihre Familie dabei. Mahlzeiten, die in den Ofen geschoben oder auf den Grill geworfen werden konnten. Sie waren gewürzt, vorportioniert und mussten nur noch zubereitet werden.

Der Grundsatz von Supper’s in the Bag war einfach: Jeder Termin dauerte ungefähr drei Stunden. In der großen Industrieküche gab es acht verschiedene Stationen, die je einem anderen Hauptgericht gewidmet waren. Man folgte den schriftlichen Erklärungen, wog Fleisch ab, gab Gemüse in wiederverwendbare Schüsseln und würzte gemäß den Anweisungen. Und schon hatte man mehrere Mahlzeiten, die man später nur noch aufzuwärmen brauchte.

Anfangs hatte Gabby sich schuldig gefühlt, weil sie sich für diesen Service entschieden hatte. Sie war Hausfrau und Mutter, da sollte sie sich doch so weit im Griff haben, dass sie für ihre Familie kochen konnte. Und doch, dachte sie und ging mit ihren Töchter in Richtung Ladentür – die Tage rannen ihr nur so durch die Finger. Zum Glück war die Besitzerin von Supper’s in the Bag die Schwester einer engen Freundin. Sich zu sagen, dass sie ein örtliches Unternehmen unterstützte, half, die Schuldgefühle zu mindern.

Und weil Andrew zu den Guten gehörte, ermutigte er sie, den Service zu nutzen. Mindestens einmal pro Woche gingen sie zum Essen aus. Wenn sie also alle vierzehn Tage sechs Mahlzeiten vorbereitete, musste sie nur sechs weitere Mahlzeiten selber zubereiten.

Der Raum war groß und offen, und die Kochstationen verteilten sich an den Wänden. In der Mitte standen Industrieregale, die mit Lebensmitteln gefüllt waren. An der Tür gab es weitere Regale, in denen die Kunden Taschen und Einkaufstüten ablegen konnten. Die Arbeitsflächen waren, genau wie die Spülbecken, aus rostfreiem Edelstahl.

Zur Linken befand sich eine kleine Essecke, in der die Kunden sich aufhalten und miteinander reden konnten. Zur Rechten war ein Bereich abgetrennt und in bunten Farben gestrichen. Hier gab es Stühle und Tische in Kindergröße, ein paar Spielzeuge, Wachsmalkreiden und Unmengen an Malbüchern. Cecelia, die Kinderbetreuerin, war bereits da. Die zierliche College-Studentin mit den lockigen Haaren grinste, als sie die Zwillinge sah.

»Ich hatte gehofft, dass ihr beide heute kommt«, sagte sie und winkte ihnen zu. »Wir werden so viel Spaß haben.«

»Cece!«

Die Zwillinge ließen die Einkaufstaschen fallen und rannten los, um das Mädchen zu begrüßen. Es folgte eine wilde Umarmung.

»Kommt Tyler auch?«, fragte Kenzie angespannt.

»Ja. Bestimmt haben er und seine Mom sich nur mal wieder verspätet.« Cecelia führte die Mädchen zu einem der Tische. »Okay, fangen wir mit einem Bild an, während eure Mom sich um die Mahlzeiten kümmert«, sagte sie.

Gabby nutzte die Ablenkung, um sich am Empfang eine Schürze zu holen. Dann nahm sie den Zettel in die Hand, auf dem stand, welche Stationen sie heute in welcher Reihenfolge benutzen würde.

Supper’s in the Bag war keine einzigartige Idee. Angebote wie diese gab es im Land einige. Auch wenn Gabby nie ein großer Fan von Morgan gewesen war – der Frau, der das Geschäft gehörte –, musste sie doch ihren Hut davor ziehen, wie sie es schaffte, ihren Kunden noch den letzten Dollar aus der Tasche zu luchsen.

Kinder waren für den Preis von fünf Dollar pro Kind und Stunde willkommen. Für Gabby bedeutete das dreißig Dollar extra, aber es war besser, als selbst eine Babysitterin zu finden. Zu jedem Hauptgericht gab es eine Auswahl an passenden Weinen, die man ebenfalls extra kaufen konnte. Gabby schätzte, die Gewinnmarge lag bei gut hundert Prozent. Aperitif- und Dessertweine konnten natürlich auch erstanden werden.

Morgans Schwester, Gabbys Freundin Hayley, kam an mehreren Tagen in der Woche frühmorgens hierher, um die Lebensmittel vorzubereiten. Sie übernahm einen Großteil des Schnippelns und Schneidens, füllte die Gewürzgläser auf und öffnete die benötigten Dosen. Dafür bekam sie nichts weiter als ein paar kostenlose Mahlzeiten, wie Gabby wusste.

Während Hayley behauptete, damit den besseren Teil des Deals erwischt zu haben, hatte Gabby daran so ihre Zweifel. Egal, wie die Situation aussah, Morgan schien immer als Gewinnerin hervorzugehen, und Gabby bezweifelte, dass es bei dem Arrangement mit Hayley anders war.

Inzwischen waren weitere Frauen eingetroffen. An jeder Session konnten zweiunddreißig Leute teilnehmen, wobei es tagsüber meist um die fünfundzwanzig waren. Von Donnerstag bis Sonntag hatte Supper’s in the Bag auch nachmittags von vier Uhr bis abends um halb neun geöffnet.

Gabby erblickte Hayley, Nicole und deren Sohn Tyler. Nicole gab ihn bei Cecelia ab, dann trafen sie sich alle am Spülbecken, wo man sich die Hände waschen konnte.

»Hi«, sagte Gabby und umarmte ihre Freundinnen zur Begrüßung.

Nicole war groß, blond und beneidenswert schlank. Gabby war nicht sicher, inwieweit das genetisch bedingt war und wie viel daher rührte, dass Nicole als Pilates-Lehrerin arbeitete. Gabby versprach sich ständig, sich auch mal für einen Kurs anzumelden. Nach ihrer Schwangerschaft trug sie immer noch fünfundzwanzig überflüssige Pfunde mit sich herum. Und da ihre Kinder demnächst in die Vorschule kamen, musste sie entweder anfangen, Sport zu treiben, um die Kilos loszuwerden, oder aufhören, ihren Mädchen dafür die Schuld zu geben.

Hayley war auch dünn, aber auf eine Weise, die Gabby Sorgen bereitete. Wie üblich war ihre Freundin blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Doch zum ersten Mal seit Langem wirkte sie energiegeladen.

»Ich freue mich heute richtig auf das, was wir zubereiten werden«, verkündete Hayley. »Das Gemüse ist besonders frisch, und ich glaube, das neue Enchilada-Rezept ist der Hammer.«

»Du wirkst glücklich«, erwiderte Gabby, während sie sich die grüne Supper’s in the Bag-Schürze umband. »Was ist los?«

»Och, nicht viel.«

Gabby fragte sich, ob das stimmte. Hayleys Leben glich in emotionaler und körperlicher Hinsicht einer Achterbahnfahrt. Grund dafür waren die verzweifelten Versuche, eine Schwangerschaft bis zum Ende durchzustehen. Hayleys letzte Fehlgeburt lag erst ein paar Monate zurück, und nun machte sie auf Anordnung der Ärzte eine Pause.

Nicole band sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Du wirkst so hibbelig.«

Hayley lachte. »Ich glaube nicht, dass das eine schmeichelhafte Beschreibung ist.«

Die drei Freundinnen gingen zu ihrer ersten Station. Die Anleitungen standen auf einer laminierten Karte, und die Zutaten für den Auflauf warteten schon in Schüsseln und Tüten auf sie. Alle Gewürze waren eindeutig beschriftet.

Jede von ihnen nahm sich eine Auflaufform. »Kaum zu glauben, dass schon Mitte Juli ist«, sagte Nicole, während sie die Maistortilla auf dem Boden der Form auslegte. »Ich hatte gehofft, mit Tyler ein paar Tage wegfahren zu können, aber irgendwie sehe ich das gerade nicht. Dazu muss ich zu viel arbeiten.«

»Du bist Geschäftsinhaberin«, meinte Gabby und unterdrückte einen Anflug von Schuldgefühlen. Ich sollte auch ein Geschäft haben, dachte sie. Oder mehr als nur zwanzig Stunden in der Woche arbeiten. Und alle Mahlzeiten selbst zubereiten. Ehrlich, sie hatte keine Ahnung, wohin die Zeit war. Die Zwillinge waren jeden Tag von acht bis eins im Sommercamp. Makayla, ihre fünfzehnjährige Stieftochter, war in einem anderen Camp, das von acht bis vier ging. In der Zeit sollte sie es doch schaffen, ihre Einkäufe zu erledigen, Wäsche zu waschen, Essen zu kochen und etwas zur Rettung der Welt beizutragen. Aber irgendwie kam es nie dazu.

»Ihr könntet ins Disneyland fahren«, schlug Hayley vor, während sie die gewürfelte Hühnerbrust in ihre Auflaufformen gab. Anstatt eine große Form zu nutzen, hatte Hayley sich zwei kleine genommen, was ihre Anzahl an Mahlzeiten verdoppelte. Aber bei ihr aßen ja auch nur sie und Mann Rob.

»Tyler liebt Disneyland«, erzählte Nicole. »Es kommt mir nur irgendwie wie Mogeln vor.«

»Sei doch dankbar, dass ihr es nicht weit habt«, warf Gabby ein.

Der große Vergnügungspark lag nur ungefähr dreißig Meilen von Mischief Bay entfernt. Wenn die Verkehrsgötter einem wohlgesinnt waren, bedeutete das eine Fahrt von etwas unter einer Stunde.

Gabby legte einen Arm um Nicoles Schultern. »Es könnte schlimmer sein. Es könnte ein Brad-der-Drache-Land geben. Dann wärst du wirklich gearscht.«

Nicole grinste. »Ich wäre verleitet, es in Brand zu stecken.«

Hayley und Gabby lachten.

Brad der Drache war eine beliebte Kinderbuchserie. Viele kleine Jungen, einschließlich Tyler, liebten B den D, wie er von Eingeweihten genannt wurde. Aus Gründen, die Gabby nie verstanden hatte, mochte Nicole die Figur nicht und hatte einen regelrechten Hass auf den Autor. Sie behauptete, dass sie einmal einen Artikel gelesen hatte, in dem stand, dass Jairus Sterenberg nur auf Geld aus sei, dass er bösartig sei und vermutlich verantwortlich für jede Zombie-Apokalypse, die ihres Weges kommen würde. Gabby war sich dessen nicht so sicher. Aber es gab auch genügend Eltern, die nichts mehr sehen konnten, was mit Frozen oder den Minions zu tun hatte.

»Wie war Hawaii? War es so unglaublich schön, wie alle immer sagen?«, fragte Nicole.

Gabby nickte und erinnerte sich an die zehn Tage, die sie und Andrew mit den Zwillingen letzten Monat in einem Apartment auf Maui verlebt hatten. Es waren nur sie vier gewesen. Makayla hatte die Zeit bei ihrer Mutter verbracht.

»Es war wunderschön! Großartiges Wetter und man kann viel unternehmen. Die Mädchen hatten eine fabelhafte Zeit.«

»Wie ist Makayla damit zurechtgekommen, bei ihrer Mutter zu bleiben?«, wollte Hayley wissen.

Gabby seufzte. »Ganz okay. Ihre Mom kommt nicht gut damit zurecht, wenn sie länger als ein Wochenende bei ihr ist, was die Sache schwierig macht. Ich verstehe das nicht. Makayla ist fünfzehn. Gut, sie kann ein bisschen vorlaut sein, aber sie ist ihre Tochter. Man soll seine Kinder doch lieben.«

»Ist sie jetzt wieder bei euch?«, hakte Nicole nach.

»Ihre Mom hat sie noch am Abend unserer Heimkehr bei uns abgesetzt.«

»Zu schade, dass ihr sie nicht mitnehmen konntet«, sagte Hayley.

»Hmhm«, murmelte Gabby und verstreute Käse auf ihrem fertig geschichteten Auflauf, bevor sie den Plastikdeckel daraufsetzte. Vermutlich hätte sie sich wünschen sollen, dass Makayla mitkam, aber in Wahrheit war sie froh über die Pause von ihrer Stieftochter gewesen.

Nachdem sie ihre erste Mahlzeit erfolgreich zusammengestellt hatten, gingen sie mit ihren Auflaufformen zu der Wand aus Kühlschränken und stellten sie auf die für sie reservierten Regalböden. Dann wanderten sie zur nächsten Station weiter. Hayley fing an, die Gewürzgläser herunterzuholen, während Gabby und Nicole die Anweisungen überflogen.

»Ein Eintopf … klingt interessant«, kommentierte Nicole mit leichtem Zweifel in der Stimme. »Aber die Informationen über den Schmortopf hören sich gut an.«

»Du wirkst nicht sonderlich überzeugt«, wandte Gabby leise ein.

»Wir haben Sommer. Im Sommer will ich nicht mit dem Schmortopf kochen.« Nicole schüttelte den Kopf. »Ein klassisches Erste-Welt-Problem, oder? Aber so oder so – Tyler liebt Eintöpfe, also bin ich dankbar für ein Gericht, das leicht zuzubereiten ist und das er garantiert essen wird. Ich bin also dabei.«

»Ausgezeichnete Einstellung«, lobte Gabby sie augenzwinkernd. »Du bekommst heute ein Goldsternchen.«

»Ich lebe für die Goldsterne.«

Hayley deutete auf die Gewürzgläser, die sie ordentlich aufgereiht hatte. »Das wird köstlich«, versprach sie. »Du wirst es lieben. Und an der nächsten Station dreht sich alles ums Grillen über offenem Feuer.«

»Du hast heute wirklich gute Laune«, sagte Nicole. »Was ist los? Hat dein Chef dir eine Gehaltserhöhung gegeben?«

»Nein. Und das ist auch in Ordnung.« Hayley öffnete eine der bereitliegenden Gefriertüten und gab die abgewogenen Gewürze hinein. »Gabby hat heute auch schon eine Bemerkung zu meiner Stimmung gemacht. Bin ich sonst wirklich so nörgelig?«

»Überhaupt nicht«, widersprach Gabby schnell. Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte. Hayley wirkte glücklich und entspannt. Hätte Gabby nicht gewusst, dass ihre Freundin gerade eine Pause bei den Versuchen, schwanger zu werden, einlegte, hätte sie sich gefragt, ob sie wohl in freudiger Erwartung war. Doch bevor sie sich entschieden hatte, ob sie Hayley darauf ansprechen sollte, nahm die schon eine Flasche Rotwein vom Tisch, maß ein halbes Glas ab und goss es in den Gefrierbeutel.

Nein, dachte Gabby. Nicht schwanger. Aber irgendetwas war los.

Sie arbeiteten sich durch die restlichen Stationen und packten ihre Mahlzeiten am Ende in die Einkaufstaschen. Gabby brachte ihre schnell zum Auto, bevor sie die Mädchen abholte.

»Seid ihr so weit?«, fragte sie.

Kenzie und Kennedy schauten einander an, dann nickten beide.

»Sie waren toll«, erklärte Cecelia.

»Wir waren sehr artig«, fügte Kenzie an.

»Dessen bin ich mir sicher.«

Die Zwillinge waren in dem Alter, in dem sie sich allen Leuten gegenüber wie die reinsten Engel verhielten – nur bei ihr nicht. Sie hatte dutzende Bücher über Kindererziehung gelesen, und laut Experten kämpfte in diesem Alter das Bedürfnis nach Unabhängigkeit mit dem Bedürfnis nach Nähe zur Mutter. Während also alle anderen ein strahlendes Lächeln und hervorragendes Benehmen sahen, bekam Gabby Widerworte und Tränen.

Sie wartete, während die Zwillinge Cecelia zum Abschied umarmten. Wirklich unglaublich, wie schnell die beiden wachsen, dachte sie zufrieden. Ihre Mädchen waren klug, wissbegierig und liebevoll. Bei so viel Glück konnte Gabby mit ein paar Widerworten hier und da gut leben.

Gemeinsam verließen sie die Kinderecke und gingen in Richtung Ausgang. Heute hatten die beiden sich für die gleiche Kleidung entschieden. Blaue Shorts und blau-weiße T-Shirts mit kleinen Kätzchen darauf. Ihren Babyspeck hatten sie bereits verloren. Sie sahen schon aus wie richtige kleine Mädchen.

Obwohl die beiden zweieiig waren, sahen sie einander so ähnlich, dass die meisten Menschen sie für eineiige Zwillinge hielten. Sie hatten beide große braune Augen und rötlich-blondes Haar. Ihre Stimmen klangen gleich, und sie waren beide lebhaft und energiegeladen.

Aber es gab auch Unterschiede. Zum Beispiel die Kinnform. Außerdem hatte Kennedy dickere, leicht gewellte Haare, dafür war Kenzie ein wenig größer. Es wird interessant, wenn sie in die Schule kommen, überlegte Gabby. Kennedy war wesentlich aufgeschlossener, aber Kenzie verfügte über eine Geduld, die ihrer Schwester fehlte. Gabby war sich nicht sicher, welche Eigenschaft mehr Erfolg versprach.

Als sie den SUV erreicht hatten, öffnete Gabby die hintere Tür auf der Fahrerseite.

»Einsteigen.«

Die Mädchen rührten sich nicht.

»Wir wollen Sitzerhöhungen«, verkündete Kennedy entschlossen. »Kindersitze sind für Babys. Mommy, wir kommen bald in die Vorschule.«

»Das bedeutet, wir sind keine Kinder mehr«, fügte Kenzie an.

Gabby wusste nicht, welches Kind in dem Sommercamp etwas über Sitzerhöhungen und Kindersitze gesagt hatte, aber sie wünschte wirklich, der- oder diejenige hätte den Mund gehalten.

Ihre Gedanken gingen zu den Weinflaschen, die im Kofferraum in den Supper’s in the Bag-Taschen lagen. Sie könnte die Mädchen wieder bei Cecelia abgeben, sich ein paar Gläser genehmigen und dann Andrew anrufen, damit er sie alle zusammen nach Hause fuhr. Sie könnte auch mit dem Kopf gegen das Wagendach schlagen, bis der Schmerz größer war als der Ärger über die Diskussion. Oder sie könnte ihre Genervtheit herunterschlucken, sich daran erinnern, dass sie ein tolles Leben führte und dass diese Diskussionen sicher bald vorbei waren.

Obwohl das Szenario mit dem Wein wirklich verlockend war, entschied sie sich für die letzte Option.

»Ihr seid noch im Wachsen«, erklärte sie mit sanfter Stimme. »Und ich liebe euch sehr. Deshalb möchte ich, dass ihr so gut geschützt wie möglich seid. Bitte steigt in eure Sitze, damit wir nach Hause fahren und das Essen für euren Dad zubereiten können.«

Die Zwillinge blieben stur stehen.

Gabby unterdrückte ein Seufzen. Was konnte sie bei diesem Streit gewinnen? Sie würde sich nicht von Fünfjährigen erpressen lassen. »Boomer und Jasmine warten auch auf ihr Essen. Ich möchte nach Hause. Bitte steigt jetzt ein.«

»Nö. Machen wir nicht.« Kennedy verschränkte die Arme vor der Brust, und Kenzie tat es ihr gleich, denn Kenzie machte ihr immer alles nach.

»Für jede Minute, die wir hier warten, werdet ihr fünfzehn Minuten Fernsehzeit verlieren«, erklärte sie den Mädchen. Was eine ziemlich große Sache war, denn die Fernsehzeit im Hause Schaefer war sowieso schon begrenzt.

Die Zwillinge schauten einander an, dann wieder zu ihrer Mutter. Kenzie beugte sich zu ihrer Schwester.

»Fünfzehn Minuten sind ganz schön lang!«

Kennedy seufzte schwer und stieg dann in den Wagen. Kenzie war die Nächste. Gabby schwor sich, später mit ihrem Mann zu reden und gemeinsam mit ihm zu versuchen, eine Lösung zu finden. Oder zumindest ein Glas Wein zu trinken und einander daran zu erinnern, dass die Zwillinge in zehn Jahren anfangen würden auszugehen. Dann würden sie auf die Streitereien um Kindersitze zurückblicken und sich sagen, was für schöne Zeiten es gewesen waren.