4. Kapitel

»Noch mal!«, forderte Tyler begeistert. Er klang überhaupt nicht müde, obwohl es schon eine gute halbe Stunde nach seiner üblichen Bettgehzeit war. »Lies es mir noch mal vor.«

Nicole beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Denkst du zu viel nach?«, fragte sie ihren Sohn.

Er grinste sie an. »Total. Ich bin so aufgeregt, Mommy. Das ist besser als Weihnachten.«

Wenn das nur wahr wäre, dachte Nicole. Sie wusste, man konnte einen Sechsjährigen nicht auf eine potenzielle Enttäuschung vorbereiten, aber dennoch wollte sie es versuchen.

Sie hatten den Samstag zusammen verbracht. Daran musste sie sich immer noch gewöhnen. Die Scheidung von Eric war auf vielen Ebenen schwierig gewesen, aber zum Glück nicht auf der finanziellen. Seinen Sohn sah er zwar nicht oft, doch er bezahlte immer pünktlich den Unterhalt. Dieses Geld hatte es ihr ermöglicht, ein paar weitere Trainer in ihrem Pilates-Studio Mischief in Motion einzustellen, um weniger Abendkurse geben zu müssen und die Samstage freizuhaben. Das war für sie wahrer Luxus. In wenigen Jahren würde Tyler zu sehr mit seinen Schulaktivitäten und Freunden beschäftigt sein, um Zeit mit seiner Mom verbringen zu wollen, aber bis dahin würde sie jede Sekunde nutzen, die sie zusammen hatten.

Sie strich ihm über den Kopf. »Den Autor von Brad der Drache zu treffen, wird bestimmt toll«, setzte sie an.

»Ich weiß! Er ist bestimmt lustig und nett und bringt uns alle zum Lachen.«

Nicole wünschte sich sehr, dass es so kommen würde. Aber hatten Autoren ihren Beruf nicht aus einem bestimmten Grund gewählt? Sie könnte niemals den ganzen Tag allein vor ihrem Computer verbringen und vor sich hin tippen. Sie brauchte Bewegung und Leute um sich.

Vielleicht war ihre Vorstellung vom Leben eines Schriftstellers auch ganz verkehrt. Eric schrieb Drehbücher, und auch wenn er einen Großteil seiner Zeit allein vor dem Computer verbrachte, ging er morgens meistens ein paar Stunden surfen. Er nahm an Meetings teil, ging auf Partys und tat das, was ein Drehbuchautor nun mal so tun musste – was immer auch das war. Vielleicht war Jairus genauso. Vielleicht schrieb er fünfzehn Minuten an seinem neuesten Bilderbuch und zählte den Rest des Tages sein Geld.

Nicole seufzte. Sie sollte wirklich an ihrer Einstellung arbeiten. In wenigen Tagen würde sie den Mann treffen, und sie wollte ihn nicht in den ersten drei Sekunden anschreien. Das sparte sie sich besser für die zweite Stunde auf.

Der Gedanke, den Geld hortenden Idioten anzubrüllen, ließ sie lächeln. Tyler erwiderte das Lächeln.

»Du bist auch aufgeregt«, sagte er.

»Das stimmt.« Diese kleine Lüge ist erlaubt, weil ich seine Mom bin, versicherte sie sich.

»Und du wirst es nicht vergessen?«

»Auf keinen Fall. An dem Vormittag gebe ich einen Kurs im Seniorenzentrum, aber mein Nachmittag ist komplett für Brad den Drachen reserviert. Nur du und ich und du weißt schon wer.«

Während sie sprach, kitzelte sie Tyler, der sich lachend unter ihren Händen wand und sich dann hinlegte. »Einmal noch«, bat er und zeigte auf das Buch. »Ich versuch auch, nicht zu denken. Versprochen.«

»Okay, weil du es bist«, murmelte sie.

Sie nahm das Buch in die Hand und schlug die erste Seite auf. »Brad der Drache hatte sich schon immer für Blumen interessiert …«

Da sie diese Geschichte – so wie alle anderen – beinahe auswendig kannte, musste sie sich nicht auf das Lesen konzentrieren. Das Aufregende an B dem D war, dass er sich entwickelte. Zum Glück endete die Serie mit Brads zehntem Geburtstag. Auf keinen Fall wollte sie lesen, wie B der D als nerviger Teenager seinen Führerschein machte.

Nicole beendete die Geschichte und gab Tyler einen Gutenachtkuss. Seine Augen waren schon geschlossen und seine Stimme ganz schläfrig, als er flüsterte: »Ich hab dich lieb, Mommy.«

»Ich dich auch, mein Großer.«

Leise verließ sie das Zimmer und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, damit Tyler sich nicht einsam fühlte. Vielleicht war es aber auch sie, die diese Verbindung brauchte.

In der Küche räumte sie das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine. Normalerweise tat sie das immer direkt nach dem Essen, aber Tyler war so aufgedreht gewesen, dass sie stattdessen einen langen Spaziergang unternommen hatten. Während sie die Töpfe ausspülte und in den Geschirrkorb stellte, dachte sie darüber nach, wie sehr ihr vor dem Autoren-Event in Tylers Sommercamp graute.

Vielleicht war sie unfair. Es bestand immerhin die winzige Chance, dass der Mann nicht total schrecklich war. Und sie liebte die Fancy Nancy-Bücher, die eigentlich genauso aufgebaut waren wie B der D: Die Serie begann mit Bilderbüchern und ging dann in Bücher für ältere Kinder über. Das wusste sie, weil sie sie Gabbys Zwillingen vorlas, wenn sie bei ihnen einhütete.

Aber Fancy Nancy ist anders. Sie hörte selbst, wie weinerlich ihre innere Stimme klang. Die Heldin war süß und bezaubernd, und es gab immer eine wertvolle Lektion, die die Kinder lernen konnten. Ganz zu schweigen von den neuen Wörtern, die ihren Wortschatz erweiterten. Brad der Drache war hingegen einfach nur … nervig.

Nachdem sie die Küche aufgeräumt und den Geschirrspüler angestellt hatte, ging sie ins Wohnzimmer hinüber. Das Haus – eine Schönheit im spanischen Stil, die sie kurz vor dem Platzen der Immobilienblase zu einem Spottpreis erworben hatte – war ein Zeugnis echter Handwerkskunst. Es gab Rundbögen und dicke Wände, viele Fenster und einen wunderschönen Garten. Sie liebte ihr Haus. Und sie liebte es, dass Tyler hier aufwachsen konnte. Wenn ihr ab und zu ein wenig männliche Gesellschaft fehlte … Nun ja, das war okay. Was den Rest ihres Lebens anging, konnte sie sich nicht beschweren.

Ihr Handy vibrierte mit einer eingehenden Textnachricht. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet Nicole, dass es schon nach neun war. Sofort dachte sie an Hayley und ihren fragilen Zustand und beeilte sich, die Nachricht aufzurufen. Während sie sich sagte, dass sie, wenn es etwas Schlimmes wäre, einen Anruf erhalten hätte, hielt sie den Atem an, bis sie den Text gelesen hatte.

»Verdammt soll er sein!«

Sie las die Nachricht dreimal, bevor sie das Handy aufs Sofa warf. »Lügender, egoistischer Mistkerl.«

Sie nahm das Handy wieder in die Hand, bereit, Eric die Meinung zu geigen. Dann las sie die Worte noch einmal.

Schaffe es morgen nicht. Sorry. Aber nächstes Mal bestimmt.

Unter ihre Wut mischte sich Traurigkeit. Denn morgen früh würde sie ihrem Sohn erzählen müssen, dass sein Vater ihn nicht besuchen käme. Es gäbe keinen Ausflug mit Eric, keine Zeit, die Tyler mit seinem Dad verbringen würde.

Aber das Schlimmste war: Tyler würde das egal sein. Er würde mit den Schultern zucken und sich wieder dem widmen, was er gerade tat. Denn Eric hatte häufiger abgesagt, als seine Termine eingehalten, und Tyler zeigte immer weniger Interesse daran, den Mann zu treffen.

Diese Entfremdung hatte schon lange vor der Scheidung angefangen, das wusste Nicole. Es war irgendwann um den Zeitpunkt herum geschehen, als Eric angefangen hatte, sein Drehbuch zu schreiben. Er hatte sich von seiner Familie zurückgezogen, seine Zeit damit verbracht, surfen zu gehen, zu schreiben und zu seinen Kritikgruppen zu gehen. Nachdem er das Drehbuch verkauft hatte, war er vollauf mit der Überarbeitung und mit neuen Projekten beschäftigt gewesen. Nicole und Tyler waren für ihn immer unwichtiger geworden.

Sie hatte gefürchtet, sich wegen des Sorgerechts mit ihm streiten zu müssen, aber Eric hatte nicht mehr als alle vierzehn Tage einen Sonntag mit seinem Sohn verlangt. Das war’s. Und diese Sonntage sagte er immer öfter ab.

Nicole richtete den Blick auf ihr Handy, doch anstatt ihrem Exmann zu schreiben, schickte sie Hayley eine Nachricht.

Der Mistkerl hat sein Kind schon wieder im Stich gelassen. Ist es falsch von mir, ihn zu hassen?

Hayleys Antwort kam innerhalb von wenigen Sekunden.

Nein. Aber wenn du dich dann besser fühlst, hasse ich ihn für dich. Geht es dir gut?

Ich werde es überleben. Danke.

Nicole setzte sich aufs Sofa, zog die Knie an die Brust und legte ihren Kopf darauf. Sie wusste nicht, wie sie ohne ihre Freundinnen das letzte Jahr überlebt hätte. Alles war völlig schiefgelaufen. Sie und Eric hätten eine Familie sein, ihren Sohn gemeinsam aufziehen sollen. Das hatte sie sich immer gewünscht, darauf hatte sie immer gehofft. Ihren eigenen Vater hatte sie nie kennengelernt. Schon vor ihrer Geburt hatte er die Familie verlassen. Mit Eric hatte sie geglaubt, einen Guten gefunden zu haben. Damals, als er noch Software-Ingenieur gewesen war. Sie hatte gedacht, er würde für ihre Kinder da sein.

Doch da hatte sie sich geirrt. Und zwar in allem. Einen Teil der Schuld trug sie sicher auch, aber für viele Dinge war er allein verantwortlich. Sein Sohn war ihm einfach egal.

Wie sehr hatte sie gehofft, er würde sich ändern. Würde erkennen, was ihm entging. Aber bisher gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass er Zweifel bezüglich ihrer Sorgerechtsvereinbarung hatte. Und Tyler redete nicht mehr davon, dass er seinen Dad vermisste.

Nicole fürchtete, dass es, wenn Eric irgendwann aufwachte und erkannte, was er verpasst hatte, zu spät wäre. Dass Tyler für ihn dann unerreichbar wäre. Aber schlimmer war der Gedanke, dass Eric nie aufwachen würde. Niemals um eine zweite Chance bitten würde. Dass das jetzt so gut war, wie es je werden würde.

Ihr Blick fiel auf das Stofftier. Brad saß auf dem Regal neben dem Fernseher. Der kleine Drache leuchtete in einem fröhlichen Rot und hatte große blaue Augen. Sie funkelte ihn wütend an.

»Das ist alles deine Schuld«, flüsterte sie. Natürlich wusste sie, dass das nicht stimmte. Trotzdem fühlte es sich richtig gut an, jemanden zu haben, dem sie die Schuld geben konnte.

»Warum riecht Boomer nach Mais-Chips?«, fragte Kennedy, die neben dem Hund auf dem Boden saß.

»Ich habe keine Ahnung.«

Gabby überlegte zu sagen, dass das besser war als der Geruch der meisten Hunde, war aber klug genug, lieber keine Unterhaltung über Gerüche zu ermutigen. Das könnte in eine Diskussion über Fürze, Rülpser und andere Themen ausarten, die zwar lustig waren, in Gegenwart von anderen Menschen aber oft zu unangenehmen Situationen führten. Sie versuchte immer noch, sich von dem »Die Frau hat gepupst«-Vorfall im Supermarkt vor drei Wochen zu erholen. Ihr war es unendlich peinlich gewesen, der älteren Dame war es unendlich peinlich gewesen, und die Zwillinge hatten es für das Lustigste gehalten, was sie je erlebt hatten. Sie hatten es beinahe jedem, den sie getroffen hatten, erzählt. Deshalb bemühte sich Gabby seitdem, die beiden so selten wie möglich in den Supermarkt mitzunehmen.

Sie hielt ein rosafarbenes T-Shirt hoch. »Das mag ich am liebsten.«

Kenzie, die eine unglaublich geduldige Jasmine bürstete, nickte. »Ich auch.«

Kennedy machte sich nicht die Mühe zu antworten. Normalerweise hatte sie bei den Zwillingen das Sagen, aber was Klamotten anging, war Kenzie die Anführerin. Gabby war nicht sicher, wie die beiden ihre Regeln festlegten, aber meistens fügte sie sich ihnen einfach.

»Und schon sind wir fertig.« Sie betrachtete die zwei mal fünf Outfits, die sie für die kommende Woche zusammengestellt hatten.

Um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, das ausgebrochen war, sobald die Mädchen in den Kindergarten gekommen waren, stellte sie die Outfits für die Woche vorab zusammen. Inzwischen war es ihr sonntägliches Ritual. Es half, den Wahnsinn am Morgen zu mindern, und war eine gute Gelegenheit für sie alle, ein wenig Zeit miteinander zu verbringen.

Die Zwillinge wandten sich von ihren Haustieren ab, um ihre Sachen in eine spezielle Schublade in den jeweiligen Kommoden zu legen. Als sie damit fertig waren, schauten sie Gabby erwartungsvoll an.

»Als Nächstes ist Daddy dran«, verkündete Gabby fröhlich.

Kenzie beugte sich vor und hob Jasmine auf. Die Katze ergab sich ihrem Schicksal, halb zum Kleiderschrank getragen, halb gezogen zu werden. Boomer folgte auf seinen eigenen Beinen und ließ sich im Türrahmen nieder. Kennedy legte sich sofort quer über ihn, während Kenzie sich in der Mitte des Zimmers auf den Boden setzte, bereit, modische Ratschläge zu geben. Jasmine gesellte sich zu ihr und begann mit ihrer ausgiebigen Fellpflege.

Gabby nahm den Zettel zur Hand, den Andrew ihr jeden Freitagabend daließ. Es war sein Terminplan für die kommende Woche. Seine Assistentin schickte ihr per E-Mail ein Update, sobald eine Geschäftsreise dazukam oder sich sonst etwas veränderte, doch Andrew sorgte dafür, dass seine Frau immer wusste, wo er gerade war. Damit hatte er angefangen, als sie frisch verheiratet gewesen waren. Gabby erinnerte sich noch daran, wie sie ihm durch die Wohnung gefolgt war, in der sie gewohnt hatten, während sie darauf gewartet hatten, dass der Hauskauf über die Bühne ging.

»Wann kommst du zurück?«, hatte sie gefragt und gewusst, dass sie quengelig klang. »Es ist so schwer, wenn du nicht da bist.«

Er hatte sich zu ihr umgewandt, und in seinen blauen Augen hatte sie Besorgnis gesehen. »Hast du Angst, wenn du allein in der Wohnung bist? Soll ich eine Alarmanlage installieren lassen?«

»Nein, Dummerchen. Du fehlst mir nur so.«

Er hatte sie sehr lange angeschaut. Sie hatte gesehen, wie die Verwirrung in seiner Miene erst von Verständnis, dann von Erleichterung und schließlich von Liebe abgelöst wurde. Er hatte sie so fest in seine Arme gezogen, dass sie keine Luft mehr bekommen hatte. Aber das war in Ordnung gewesen. Andrew war wichtiger als Luft.

Am nächsten Morgen hatte sie die erste E-Mail von seiner Assistentin erhalten. Am folgenden Freitag hatte Andrew seinen Terminplan für die anstehende Woche mitgebracht. Ja, so ein Mann war er. Er wollte nicht, dass sie sich wegen irgendetwas Sorgen machte.

Ein knappes Jahr nach ihrem Kennenlernen hatten sie geheiratet. Andrew hatte ihr von seiner ersten Ehe erzählt und davon, was seiner Meinung nach schiefgelaufen war. Gabby hätte geschworen, dass sie alles über ihn wusste. Aber bis zu jenem Abend in ihrer kleinen Wohnung hatte sie nicht wirklich verstanden, was er ihr gesagt hatte.

Candace war er nicht wichtig gewesen. Sie hatte sich keine Mühe gemacht, seine Geschäftsreisen im Kopf zu behalten oder zu fragen, wann er nach Hause kam. Sie hatte sich auch nur selten Zeit für Makayla genommen, weil ihre wahre Leidenschaft ihrem Beruf galt. Gabby verstand durchaus, dass man seine Arbeit lieben konnte, aber doch nicht auf Kosten anderer Leute.

Jetzt warf sie einen Blick auf Andrews Terminplan und sah, dass verschiedene Meetings, aber keine Geschäftsreisen anstanden.

»Daddy wird die ganze Woche über zu Hause sein«, verkündete sie den Zwillingen.

»Juchhu!«

»Können wir Brownies für ihn backen?«, fragte Kenzie.

Gabby dachte daran, dass sie am letzten Freitag nicht in ihr Kleid gepasst hatte. Seitdem überlegte sie, wie sie etwas dagegen unternehmen konnte. »Äh, klar.«

Ich werde die Brownies ignorieren, sagte sie sich. Nur weil sie im Haus waren, hieß das nicht, dass sie sie auch essen musste.

Schnell ging sie Andrews Anzüge und Hemden durch. Auch wenn der Haufen an Hemden, die sie am Montag in die Reinigung bringen musste, schon ganz schön groß war, gab es noch genügend Auswahl. Sie hielt einen grauen Anzug mit einem hellblauen Hemd hoch.

»Welche Krawatte?«

Nur Kenzie dachte über die Frage nach. »Die mit den blauen und rosanen Streifen.«

Gabby fand sie und hängte Anzug, Hemd und Krawatte zusammen auf einen Bügel, bevor sie sich an das nächste Outfit machte.

Andrew war natürlich in der Lage, sich seine Kleidung selbst herauszusuchen, doch Gabby tat es gerne für ihn. Es war eine Verbindung, eine Möglichkeit, stumm auszudrücken, dass sie ihn liebte und er ihr wichtig war. So wie er es mit seinem Terminplan machte, den er ihr mitbrachte.

Als sie fertig waren, führte sie die Truppe in die Küche. Ihre eigene Garderobe musste sie nicht herauslegen, und Makayla war noch nicht von ihrer Mom zurück. Und selbst wenn sie zu Hause gewesen wäre, hätte sie sehr deutlich gemacht, dass sie keine Hilfe brauchte oder wollte. Immerhin war sie fünfzehn.

Gabby überlegte kurz, ob sie in dem Alter genauso schwierig gewesen war. Vermutlich schon. Das gehörte einfach dazu. Aber dieses Wissen ließ sie nicht gerade begieriger auf Makaylas Rückkehr warten. Die Sonntagabende nach den Wochenenden bei Candace waren immer schwierig. Die Besuche bei ihrer Mutter liefen normalerweise nicht gut, und Makayla kehrte verletzt und wütend nach Hause zurück. Dann brauchte sie jemanden, den sie für das büßen lassen konnte, was sie durchgemacht hatte, und dieser Jemand war normalerweise Gabby.

Sie hatte versucht, mit Andrew über die Launen, über die schnippischen Kommentare und das Türenknallen zu reden. Aber Makayla achtete immer darauf, nur auszuflippen, wenn ihr Vater nicht da war. Und wenn Andrew eine Schwäche hatte, dann waren es seine Töchter. Nicht nur Makayla, sondern alle drei.

Das bewundere ich an ihm, ermahnte Gabby sich. Sie würde also einfach weiterhin die Klügere sein und nachgeben. Oder es zumindest versuchen. Das war der einzige Ratschlag, den ihre Mutter ihr kurz vor der Hochzeit mit Andrew gegeben hatte.

»Die zweite Ehefrau zu sein, ist schwer. Das habe ich bei mehreren meiner Freundinnen gesehen. Lass dich nicht in irgendwelche Machtkämpfe verwickeln. Im Zweifelsfall ziehe dich lieber auf deine moralische Überlegenheit zurück und sage gar nichts. Das wird es leichter machen.«

Gabby war für den liebevollen Rat dankbar gewesen und hatte ihn sich zu Herzen genommen. Sie versuchte, ihr Gejammer über Makayla auf ein Minimum zu beschränken und so geduldig zu sein, wie sie nur konnte. Sie war nicht perfekt, aber sie gab ihr Bestes.

Der Wäschetrockner brummte. Gabby ließ die Zwillinge mit ihren Malbüchern am Küchentisch zurück und trug einen Berg frisch gewaschener Wäsche ins Schlafzimmer. Auch wenn heute nicht ihr Tag für Weißwäsche war, hatte sie die spezielle weiße Caprihose des Mädchens fertig haben wollen. Sie war nicht sicher, ob diese Geste als fürsorglich oder höhnisch angesehen würde, wusste aber, dass sie es in guter Absicht getan hatte. Das musste genügen.

Andrew schlenderte ins Schlafzimmer und ging ihr zur Hand. Er hob ein Paar unglaublich kleine Socken an und lächelte.

»Früher waren sie noch kleiner. Erinnerst du dich?«, fragte er.

»Ich weiß. Sie wachsen so schnell. Ich kann nicht glauben, dass sie schon mit der Vorschule anfangen.«

»Wie viele Tage noch?«

Sie lächelte. Er fragte sie nicht nach dem Beginn der Vorschule, sondern nach dem Beginn ihrer Arbeit.

»Fünfundvierzig Tage.«

»Freust du dich?«

»Ja. Und ich bin nervös. Was ist, wenn ich nicht mehr weiß, wie man arbeitet?«

»Davor musst du keine Angst haben. Du arbeitest hart und bist brillant. Sie können sich glücklich schätzen, dich zu haben.«

Gabby würde Teilzeit für eine Non-Profit-Organisation arbeiten. Die Aufgabe war nicht sonderlich aufregend – genauso wenig wie das Gehalt –, aber sie konnte im Einwanderungsrecht, ihrem Spezialgebiet, arbeiten und Menschen helfen, die sonst keine Hilfe fanden. Außerdem war da noch die Sache mit dem Alleine-pinkeln-Gehen.

»Ich kann von Glück sagen, dass sie gewillt sind, mir eine Chance zu geben.« Seit etwas mehr als fünf Jahren war sie jetzt aus dem Beruf raus. Das war verdammt lang. Auch wenn sie einige Online-Kurse belegt hatte, um sich über die Veränderungen im Einwanderungsrecht auf dem Laufenden zu halten, hatte sie sich Sorgen gemacht, ob jemand sie einstellen würde.

»Du wirst das großartig machen«, versicherte er ihr und legte ein weiteres Paar Socken zusammen. Dann griff er in die vordere Tasche seiner Jeans. »Ich habe hier was für dich.«

Er reichte ihr einen Gutschein für Nordstrom.

Gabby nahm ihn und sah dann ihren Mann an. »Ich verstehe nicht …«

»Für die Arbeit brauchst du ein paar neue Sachen. Alles, was du aus der Zeit vor den Zwillingen hast, ist schon fünf Jahre alt. Ich möchte, dass du dich an deinem ersten Tag wohlfühlst.«

Was für eine süße Geste, dachte sie, während die Worte in ihrem Kopf nachhallten. Zu ihrer Freude gesellte sich Grauen. Ihre Arbeitskleidung war wirklich fünf Jahre alt. Sie stammte aus der Zeit vor den Zwillingen, was bedeutete, nichts davon würde ihr noch passen. Dass es auch nicht mehr der aktuellen Mode entsprach, war dabei ihr geringstes Problem.

Sie drehte den Gutschein in den Händen. »Wir haben doch eine Kreditkarte von dem Laden.«

»Ich weiß, aber das hier ist etwas anderes. Du kannst dir kaufen, was du willst. Und zwar ohne, dass ich es auf der Kreditkartenabrechnung sehe. Du weißt, mir ist es egal, wie viel du ausgibst, aber du versuchst immer, dich für jede Ausgabe zu rechtfertigen. Das hier ist ein Gutschein für schuldfreies Shopping.«

Sie sah in seine blauen Augen und wurde von einer Welle der Liebe überspült. »Andrew, du bist so gut zu mir.«

»Das liegt daran, dass ich dich liebe, Gabby.« Er nahm ihr den Gutschein ab und schob ihn in die Tasche ihrer Shorts, dann legte er seine Hände auf ihre Hüften. »Also, wie viel Zeit haben wir wohl, bis das Schlafzimmer gestürmt wird?«, fragte er, während er seine Lippen schon auf ihre senkte.

Er ließ seine Zunge über ihre Unterlippe gleiten und vertiefte den Kuss. Seine Leidenschaft weckte die Lust in Gabby. An ihrem gemeinsamen Abend am Freitag hatten sie sich einem langsamen, sinnlichen Liebesspiel hingegeben, aber bei den »Wir haben drei Minuten«-Quickies war Andrew auch spektakulär.

»Das kommt darauf an, wann Makayla nach Hause kommt«, erwiderte sie mit Blick auf die Schlafzimmertür. »Die Mädchen malen gerade. Also haben wir fünf Minuten, vielleicht zehn.«

Er war bereits dabei, ihre Shorts aufzuknöpfen. »Glaubst du, du kannst in drei Minuten kommen?«

Andrew hatte es schon immer bestens verstanden, sie zu erregen. Noch bevor sie die erste Berührung seiner Fingerspitzen spürte, war sie feucht. Die vertraute Mischung aus Hitze und Sehnen trieb sie dazu, ihre Arme um seinen Hals zu legen. Er drückte sie sanft rückwärts gegen das Bett, dann beugte er sich über sie und rieb seine Erektion an ihrem Oberschenkel.

»Mommy, Mommy, Makayla ist zu Hause!«

Kennedys schrille Stimme löschte die Lust effektiver, als ein Eimer Eiswasser es hätte tun können. Andrew fluchte leise, bevor er seine Hand zurückzog und Gabby auf die Beine half.

»Heute Nacht«, versprach er.

Sie erschauerte vor Vorfreude. »Ich kann es kaum erwarten.«

Er grinste. »Soll ich die Mädchen ablenken, während du dich um dich kümmerst?«

Dieser Vorschlag ließ sie erröten. Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm. »Du weißt, dass ich so etwas nicht tue. Ich warte lieber und mache Liebe mit dir.«

»Nicht immer.«

Das stimmte. Manchmal berührte sie sich selbst, aber nur, wenn er da war. Nur, wenn er zusah. Sie konnte sich nicht vorstellen, so etwas mit irgendeinem anderen Mann zu machen. Aber bei Andrew fühlte sie sich sicher. Und begehrt.

Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer. »Ich überlege, mich zu einem Kurs bei Nicole anzumelden«, sagte sie.

»Stricken oder so?«

Typisch Mann. »Nein, in ihrem Studio. Zu einer Fitnessklasse.«

Beim Anblick der offensichtlichen Verwirrung in seiner Miene hätte sie ihn am liebsten für tausend Jahre umarmt.

»Ich habe ein wenig zugenommen.«

»Wirklich? Das glaube ich zwar nicht, aber wenn du den Kurs machen willst, wünsche ich dir viel Spaß.«

Ganz so einfach war das nicht. Wenn es keinen Kurs gab, während die Zwillinge im Sommercamp waren, würde sie Makayla bitten müssen, auf die beiden aufzupassen. Oder einen Babysitter engagieren. Das wiederum bedeutete weitere Ausgaben, aber sie wusste, dass Andrew nichts dagegen hätte.

Die Zwillinge tanzten um Makayla herum und wetteiferten darum, ihr als Erstes zu erzählen, was sie am Wochenende alles verpasst hatte. Boomer stürzte sich mit ins Getümmel, um sich seine Streicheleinheiten vom zurückgekehrten Rudelmitglied abzuholen. Jasmine war nirgendwo zu sehen, aber später würde sie es sich auf Makaylas Bett gemütlich machen und die Nacht dort verbringen.

Gabby beobachtete ihre Stieftochter, sah den verkniffenen Zug um ihren Mund, die Anstrengung, die es sie kostete, mit ihren Schwestern zu interagieren. Bald werden wir wissen, wie schlimm der Einstieg in diese Woche wird, dachte Gabby. Sie rief dem Mädchen einen Gruß zu und kehrte ins Schlafzimmer zurück, um die restliche Wäsche zusammenzulegen.

Als sie Andrew kennengelernt hatte, war Makayla immer nur an den Wochenenden bei ihm gewesen. Doch kurz vor ihrer Hochzeit hatte Candace um eine Änderung im Betreuungsplan ihrer Tochter gebeten. Sie hatte gewollt, dass Makayla zu gleichen Teilen bei ihrem Vater und bei ihr wohnte. Ein paar Jahre später hatte sie wieder eine Veränderung gewünscht; dieses Mal sollte Makayla hauptsächlich bei Andrew leben und ihre Mutter nur jedes zweite Wochenende besuchen.

Gabby hatte gewusst, dass sie keine andere Wahl hatten. Andrew hatte sie zwar gefragt, ob sie damit einverstanden wäre, aber in Wahrheit hätte sie nicht Nein sagen können. Natürlich wollte er seine Tochter öfter um sich haben. Dass mit seiner Arbeit und seinen Geschäftsreisen der Großteil der Arbeit an Gabby hängen bleiben würde, war nicht wichtig. Da Candace ihr eigenes Kind mehr oder weniger ablehnte, war es an ihnen, Makayla ein Zuhause zu geben – das Gefühl, dass sie willkommen war. Und Gabby tat ihr Bestes, auch wenn es manchmal schwer war.

Sie wollte ihre Stieftochter lieben und war sich ziemlich sicher, dass sie das auch tat. Die Herausforderung lag darin, sie zu mögen. Immer wieder kämpfte sie mit den zu erwartenden Gefühlen wie Wut und Verbitterung. Aber manchmal gesellte sich auch Eifersucht dazu. Eifersucht darauf, dass Andrew schon mal Ehemann und Vater gewesen war. Dass sie – egal, wie sehr sie sich bemühte – niemals die Erste sein würde. Dass es immer eine andere Frau, ein anderes Kind vor ihr und den Zwillingen geben würde.

Nachdem sie die Wäsche in verschiedene Stapel sortiert hatte, brachte sie diese in die jeweiligen Zimmer. Vor Makaylas geöffneter Tür blieb sie stehen und wappnete sich gegen die Nachwirkungen des Wochenendbesuchs. Dann sagte sie fröhlich: »Klopf, klopf.«

Makayla saß auf dem Bett. Ihr ungeöffneter Koffer stand neben ihr auf dem Boden. Als Gabby eintrat, schaute sie auf.

»Ich weiß, es ist zu spät für die hier«, sagte Gabby und legte die weiße Caprihose auf die Kommode. »Aber es tat mir leid, dass du sie nicht mitnehmen konntest. Wenn du mir nächstes Mal vorher sagst, was du brauchst, versuche ich, die Sachen rechtzeitig zu waschen.«

Makayla hatte den Kopf gesenkt, sodass ihr Gesicht beinahe vollständig von ihren Haaren verdeckt wurde. »Okay«, murmelte sie.

»Ich könnte dir auch beibringen, wie man die Waschmaschine bedient.«

»Nein, danke.«

Gabby wollte mit dem Fuß aufstampfen. Dieses Mädchen war definitiv alt genug, um seine Wäsche selbst zu waschen. Alle Bücher, die sie über Teenager gelesen hatte, sagten, es wäre wichtig, ihnen klar definierte Aufgaben zuzuteilen. Aber Andrew war kein Freund davon. Er wollte, wie er es ausdrückte, dass Makayla »Zeit hat, ein Kind zu sein, und sich nicht ständig mit irgendwelchem Mist im Haus beschäftigen muss«. Dann hatte er Gabby gesagt, sie solle eine Haushälterin einstellen, damit ihr die Situation nicht mehr so unfair vorkam.

Alle zwei Wochen kam bereits ein Putzteam, das sich um die Grundreinigung des Hauses kümmerte, und das verursachte Gabby schon Schuldgefühle. Aber sobald sie wieder arbeitete, würde es nicht anders gehen. Das sagte sie sich zumindest. Und ihr ging es überhaupt nicht um eine Haushaltshilfe. Ihr ging es darum, dass Makayla ein aktives Mitglied des Haushalts werden sollte. Auf die Zwillinge aufzupassen, wenn sie gerade Lust hatte, und den Tisch zu decken, reichte nicht.

Wir alle haben unsere Macken, ermahnte sie sich. Andrew war ein toller Ehemann und Vater, und sie konnte mit seinen unrealistischen Erwartungen an die Erziehung eines Teenagers leben.

»Ist mit deiner Mom alles gut gelaufen?«, fragte sie und wappnete sich für die Antwort. Denn auch wenn Makayla nicht gerne über ihr Wochenende redete, beschwerte sie sich, wenn niemand sie darauf ansprach.

»Es war okay. Ich möchte diese Woche gerne nachmittags ein paar Freunde einladen.«

Andrew kam herein und setzte sich neben seine Tochter, um sie in den Arm zu nehmen. »Freunde? Kenne ich diese Freunde? Sind sie Mitglieder einer Rockband? Denn du weißt, was ich von Rockbands halte.«

Das brachte ihm ein leises Lachen ein. Makayla lehnte sich gegen ihren Dad, und ihre Haare fielen zur Seite, sodass Gabby sehen konnte, dass das Mädchen geweint hatte.

Ihre Genervtheit über Makaylas Faulheit wich der Wut auf Candace. Warum konnte Makaylas Mutter sich nicht ein kleines bisschen um ihre Tochter kümmern? Würde es sie wirklich umbringen, zu ihrem einzigen Kind nett zu sein?

»Sag einfach Bescheid, wann«, sagte Gabby. »Dann sorge ich dafür, dass die Zwillinge ausreichend beschäftigt sind.« Denn es gab nichts, was die Fünfjährigen lieber taten, als mit ihrer großen Schwester und deren Freundinnen abzuhängen.

»Danke. Vielleicht am Mittwoch. Wir haben uns noch nicht entschieden.«

»Wie viele kommen denn? Ich kann Kekse backen.« Eines hatte Gabby gelernt: Egal, wie übellaunig Teenager waren, mit Keksen frisch aus dem Ofen konnten sie alle bestochen werden.

»Drei oder vier. Brittany, Jena und Boyd kommen auf jeden Fall.«

Gabbys Radar schaltete sich ein. »Boyd ist ziemlich oft hier.«

Boyd war ein unscheinbarer Sechzehnjähriger. Nicht gerade der Typ für irgendwelche unanständigen Dinge. Andererseits … Gabby hatte den Film Juno oft genug gesehen, um zu wissen, wie sehr der äußere Schein trügen konnte.

Andrew schaute auf und lachte leise. »Gabby, es ist schon gut. Makayla ist erst fünfzehn. Sie ist nicht auf diese Art an Boyd interessiert, oder, Honey?«

Makayla verdrehte die Augen. »Wir sind alle nur befreundet, Gabby. So ist das nicht.«

»Ach, macht mir doch den Spaß«, erwiderte sie leichthin. »Wenn Boyd hier ist, bleibt ihr alle unten im Fernsehzimmer. Und ich behalte die Zwillinge im Spielzimmer.«

Andrew überraschte sie, indem er nickte. »Das ist eine gute Übung dafür, wenn du irgendwann den Captain des Footballteams mitbringst.« Er gab seiner Tochter einen Kuss auf den Scheitel. »Sportler lieben hübsche Mädchen, die insgeheim klug sind. Ich sollte vermutlich mit Karatestunden anfangen, damit ich es mit diesen Jungs aufnehmen kann, sollten die Dinge aus dem Ruder laufen.«

Er machte eine schnelle Bewegung mit dem Arm, und Makayla stand auf. »Da-ad, hör auf. Du wirst keinen meiner Freunde mit Karate abwehren.«

»Tja, dafür gibt es eine einfache Lösung, Liebes: Hab einfach nie einen Freund. So wirst du deinem alten Herrn nicht das Herz brechen.«

Andrew stand auf und folgte Gabby aus dem Zimmer. Im Flur drehte sie sich zu ihm um.

»Ich mache mir Sorgen wegen Boyd.«

»Das musst du nicht.« Er legte einen Arm um sie. »Ich habe den Jungen gesehen. Vermutlich ist er schwul. Außerdem ist er noch viel zu jung.«

»Sie sind auf keinen Fall zu jung, aber solange sie im Fernsehzimmer bleiben, sollte es in Ordnung sein.«

»Du machst dir zu viele Sorgen.«

»Ich kann nicht anders.«

»Ich weiß. Und dafür liebe ich dich.«