Die Zeit schien stillzustehen. Dies war der Kuss, von dem Lessa in all den Jahren geträumt hatte, und sie schmiegte sich weich an Rick. Verlangen erwachte in ihr – das Verlangen, ihn endlich ganz und gar zu spüren.
Aber genauso unvermittelt, wie der Moment der Intimität begonnen hatte, war er wieder vorbei.
Rick machte sich los und trat einen Schritt zurück. „Lass uns von hier verschwinden.“
Sie hätte sich so leicht der Illusion hingeben können, dass er darauf brannte, mit ihr allein zu sein. Aber ein Blick in seine Augen sagte ihr, dass das nicht stimmte.
„Und der Vertrag?“, fragte Lessa, nachdem sie einen Moment gebraucht hatte, um sich zu sammeln.
„Sabrina wird heute nicht mehr unterschreiben. Sie hat uns zum Narren gehalten.“
Er nahm Lessa bei der Hand und gemeinsam verließen sie das Restaurant und schlugen den Weg zum Strand ein. Es war eine tropisch warme, klare Nacht. Der Himmel war mit Sternen übersät, und das Mondlicht schien auf die ruhige See.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Lessa schließlich.
„Sie vertröstet uns auf morgen.“ Er blieb stehen und ließ ihre Hand los. „Ich glaube nicht mehr, dass sie den Vertrag überhaupt unterschreiben wird. Sie kauft uns unsere Geschichte nicht ab.“
„Ich war wohl nicht überzeugend genug als eifersüchtige Furie.“
„Du warst sehr gut.“
Dies war nicht das herablassende Lächeln, das Lessa von ihm kannte. Offenbar meinte er es ernst. „Und was schlägst du jetzt vor?“, fragte sie.
„Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten zurück nach New York und uns eine neue Strategie ausdenken, wie wir die Übernahme abwehren wollen. Oder …“, er machte eine Pause, ehe er den Satz beendete, „… wir bleiben eine Nacht und warten weiter ab.“
Hier übernachten? Das würde bedeuten, mit Rick allein in dem Apartment – mit einem französischen Doppelbett. Lessa schluckte und blickte auf die Wellen, die in monotonem Rhythmus auf den Strand schlugen. „Ich habe nicht einmal etwas zum Umziehen eingepackt.“
„Ich kann mir vorstellen, dass das für dich keine angenehme Situation ist. Wenn du willst, kannst du ja allein nach New York fliegen, und ich versuche das morgen mit Sabrina zu regeln.“
Lessa schwieg zu diesem Vorschlag, und sie gingen zurück zum Bungalow. Deutlich spürte sie den Stachel des Misstrauens. Wollte Rick sie abschieben, um mit Sabrina allein zu sein? Vielleicht, um ihr Wohlwollen auf ganz andere Weise zu erkaufen? „Hat sie dir ein unmoralisches Angebot gemacht?“, fragte sie unvermittelt, als sie vor der Tür angekommen waren.
„Gut geraten. Woher weißt du das?“
„Und was hast du ihr gesagt?“
„Dass ich mich auf so etwas nicht einlasse.“
„Nicht einmal mit einer alten Freundin?“
„Nicht einmal mit einer alten Freundin“, erwiderte Rick. Er steckte die Karte in den Schlitz und öffnete die Tür.
Sie traten ein. Lessa kam der Raum kleiner und enger vor als bisher. Ihr Blick fiel auf das Doppelbett. „Ich bleibe hier“, sagte sie.
Er erwiderte nichts darauf. Stattdessen zog er die Vorhänge zu, löste den Knoten seiner Krawatte und öffnete den Hemdkragen. Er war augenscheinlich verärgert darüber, dass sie ihm zugetraut hatte, auf Sabrinas Vorschlag einzugehen. Lessa fühlte sich unschuldig daran. Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass ihm Sabrinas diverse Annäherungsversuche besonders unangenehm gewesen waren.
Sie setzte sich auf die Bettkante. „Hast du sie eigentlich geliebt?“, fragte sie.
Rick drehte sich verwundert zu ihr um. „Geliebt? Nein. Ich sagte doch: Es war nichts weiter als eine kurze, unbedeutende Affäre. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich glaube, sie hat nicht einmal eine Woche gedauert.“ Er setzte sich neben sie und sah sie von der Seite an. „Warum bist du mir gegenüber so misstrauisch?“
„Es tut mir leid, Rick, aber ich kann nun einmal nicht vergessen, was geschehen ist.“
„Ich nehme an, du meinst die Geschichte mit deinem Vater. Ich habe mir da nichts vorzuwerfen. Ich hatte von der Gesellschaft ein Angebot bekommen, das ich angenommen habe, wie es jeder andere Geschäftsmann an meiner Stelle auch getan hätte. Deinem Vater habe ich geholfen, wo ich konnte. Unter anderem habe ich seine Abfindung durchgesetzt, ohne die du keine Lawrence-Anteile hättest erben können.“
„Das klingt, als müsste ich mich bei dir dafür bedanken. Dass er aus seinem eigenen Unternehmen herausgedrängt worden ist, hat ihn zerstört, Rick. Es hat ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Keine vier Wochen danach bekam er einen Herzinfarkt und war ein paar Tage später tot.“
„Lessa.“ Ricks Stimme klang jetzt ruhig und versöhnlich. „Dein Vater war ein guter Mann, und er hat Großes beim Aufbau der Firma geleistet. Aber er war es auch, der darauf bestand, an die Börse zu gehen und sich damit den Vorstand auf den Hals geladen hat. Und das ist nun einmal das Geschäft: Gehst du an die Börse, riskierst du, die Kontrolle über deinen eigenen Betrieb aus der Hand zu geben.“
„Er hat so hart dafür gearbeitet. Das letzte Jahr über habe ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen.“
„Aber harte Arbeit ist nicht alles. Vor allem kann sie niemanden davor bewahren, einfach verdrängt zu werden, wenn es denjenigen, die die Macht dazu haben, so gefällt.“
„Das habe ich selbst schon zu spüren bekommen. Deshalb brauche ich ja auch deine Hilfe.“
Er sah sie an und lächelte. Dann berührte er ganz vorsichtig die Stelle auf ihrem Schenkel, an der sich durch ihren Sturz beim Wasserskifahren ein Bluterguss gebildet hatte. „Tut das noch weh?“
„Überhaupt nicht“, antwortete Lessa und dachte, wie gut es sich erst anfühlen würde, wenn er seine Hand ganz dorthin legen würde. Sie beugten sich zueinander. Lessa schloss die Augen.
Gerade noch rechtzeitig kam Rick wieder zur Besinnung. Was machte er hier? Er hatte Lessa nicht zu einem Schäferstündchen hierhergebracht. Sie war noch immer die Vorstandsvorsitzende von Lawrence Enterprises, die ihn kurz zuvor gefeuert hatte, und mit der ihm ein zähes Ringen um die Gesellschaft bevorstand, auch wenn sie jetzt vorübergehend Partner waren und sich stillschweigend auf einen freundlichen Umgang miteinander geeinigt hatten.
Er räusperte sich, stand auf und setzte sich mit seinem Laptop in einen der Sessel. Auch Lessa überging die Situation mit Schweigen. Sie rückte die Kissen auf dem Bett zurecht und machte es sich ebenfalls mit ihrem Computer bequem. Wenn in diesem Moment ein Unbeteiligter die beiden hätte sehen können, hätte er mit Sicherheit angenommen, hier ein harmonisches Ehepaar vor sich zu haben, dessen Flitterwochen allerdings schon eine Weile zurücklagen.
Rick ging seine E-Mails durch und loggte sich dann bei den Börsenkursen ein, um die Aktienbewegungen von Lawrence zu kontrollieren. „Sabrina hat noch weitere Anteile aufgekauft“, sagte er. „Sieh es dir an.“ Er nahm seinen Laptop und kam zu Lessa herüber. Dort zeigte er ihr auf dem Monitor die neuesten Notierungen.
„Also hat sie wirklich nicht die Absicht, uns ihre Anteile zu verkaufen. Das bedeutet es doch, oder?“
„Nicht unbedingt. Möglich ist auch, dass sich Sabrina jetzt noch einmal unter den Nagel reißt, was zu kriegen ist, weil sie weiß, dass sie bei einem Rückkauf den Preis in die Höhe treiben kann.“
„Vielleicht sollte man ein Rundschreiben an die Hauptaktionäre aufsetzen und sie darüber informieren, was hier vor sich geht, damit sie sich mit ihren Verkäufen zurückhalten“, schlug Lessa vor.
„Das ist eine gute Idee.“
Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit. Gegen zwei Uhr morgens schlief Lessa ein. Sie hatte den Kopf an Ricks Schulter gelehnt. Eine Strähne war ihr ins Gesicht gefallen. Rick strich sie ihr vorsichtig aus der Stirn und bettete ihren Kopf behutsam auf ein Kissen. Ihre schön geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln.
Rick betrachtete sie. Es war nicht zu leugnen, dass er sie begehrte. Dann schluckte er einmal, nahm sich zusammen und stand auf, um es sich im Sessel so bequem zu machen, wie es irgend ging. Sich neben Lessa zu legen, war ihm zu riskant. Wer hätte überhaupt damit gerechnet, dass er jemals das Bedürfnis verspüren würde, mit Alessandra Lawrence zu schlafen? War sie nicht für ihn immer eine eingebildete Gans gewesen, die noch viel zu unerfahren war, um etwas vom Geschäft zu verstehen, und sich dazu noch mit einer Aura von Unnahbarkeit umgab? War das dieselbe Frau?
Rick schlief schlecht in seinem Sessel. Er erwachte, als das erste Morgenlicht durch die rosaroten Vorhänge drang, und rieb sich das steif gewordene Genick. Lessa seufzte und drehte sich in diesem Augenblick auf den Rücken. Ihr rotes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Die langen Wimpern berührten ihre zarten Wangen. So ausgestreckt und entspannt, wie sie jetzt auf dem Bett lag, sah sie ausgesprochen verführerisch aus. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
Rick stand auf und beeilte sich, unter die kalte Dusche zu kommen. Als er fertig angezogen wieder ins Zimmer kam, saß Lessa bereits auf der Bettkante und streckte sich. Die obersten Knöpfe ihrer Bluse waren offen, und die Tatsache, dass sie ganz offenkundig keine Ahnung hatte, wie sie auf Rick wirkte, machte sie für ihn nur noch erotischer.
„Guten Morgen. Soll ich uns mal einen Kaffee besorgen?“
„Guten Morgen. Das wäre jetzt genau das Richtige.“
„Wie trinkst du ihn?“
„Schwarz, bitte.“
Auf dem Weg zurück zum Apartment konnte Rick weiter draußen am Bootssteg die ganz in leuchtendes Weiß gekleidete Sabrina erkennen. Er wunderte sich, was er an dieser Frau einmal gefunden hatte. Sicherlich, sie war attraktiv. Aber sie wusste auch um ihre Wirkung auf Männer und spielte sie aus, so oft sie konnte. So wirkte sie meist aufgesetzt und unnatürlich. Als Rick und sie sich damals kennenlernten, war ihm das egal gewesen. Was er gesucht hatte, war nicht Liebe, sondern Sex. Aber auch der war, wie Rick sich erinnerte, eine Enttäuschung gewesen. Eine Frau nach seinem Geschmack war eher jemand wie Lessa: charaktervoll, spontan, jemand, der nicht ausschließlich nur an sich dachte, stark und empfindsam gleichzeitig.
Sabrina hatte Rick entdeckt und winkte ihm freudig zu. Rick winkte kurz zurück. Dann nahm er die beiden Kaffeebecher in die linke Hand und öffnete die Tür zum Bungalow.
Als er eintrat, stand Lessa mitten im Zimmer. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und trug nichts weiter als einen Spitzenslip. Erschrocken schrie sie auf, als sie Rick hörte, und verschwand blitzschnell mit ihren Sachen im Bad.
„Kannst du nicht anklopfen?“, fragte sie vorwurfsvoll, als sie kurze Zeit später angezogen ins Zimmer kam.
Rick stand noch immer wie angewurzelt an der Tür, die beiden Becher in der Hand. „Das konnte ich nicht“, rechtfertigte er sich. „Sabrina hatte mich im Blick. Das hätte auf sie einen merkwürdigen Eindruck gemacht.“
„Na ja, es ist ja nichts weiter passiert“, meinte Lessa. Sie zeigte auf einen der Kaffeebecher. „Ist der für mich?“
Rick nickte. Dass nichts weiter passiert sei, kam ihm nicht so vor. Was er gesehen hatte, würde er so schnell nicht wieder vergessen.
Sie trank einen Schluck Kaffee. „Wunderbar“, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Rick atmete durch, als er das sah. Lessa merkte nicht einmal, dass sie ihn zum Wahnsinn trieb. Sie trank ihren Kaffee aus, stellte den Becher ab und meinte: „So, jetzt bin ich für die nächste Runde gerüstet.“
Sie brachen auf. In der Tür war es dieses Mal Lessa, die vorschlug: „Wenn Sabrina da draußen steht, sollten wir uns vielleicht noch einmal küssen.“ Tatsächlich drehte sich Lessa zu Rick um, als der die Tür hinter sich geschlossen hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Obwohl der Kuss fast freundschaftlich war, spürte Rick, dass sein Körper augenblicklich darauf reagiert.
Wie vermutet, war Sabrina auf dem Weg zu ihnen.
„Habt ihr gut geschlafen?“, erkundigte sie sich, nachdem sie sich begrüßt hatten.
„Haben wir überhaupt geschlafen?“, gab Lessa zurück und lächelte Rick vielsagend an.
„Nein, so gut wie gar nicht“, antwortete er. Es war nicht einmal gelogen. Die Nacht im Sessel steckte ihm noch in den Knochen. Nachdem das Gespräch eine Weile unverbindlich vor sich hingeplätschert war, wurde es Rick zu viel, und er kam zur Sache. „Hast du dich entschlossen, den Vertrag zu unterschreiben?“, fragte er Sabrina.
Sie machte eine theatralische Geste. „Ich fürchte, wir müssen das erneut verschieben. In einigen Punkten besteht doch noch Klärungsbedarf. Ein paar Tage wird es noch dauern, schätze ich.“ Ein paar Höflichkeitsfloskeln wurden noch ausgetauscht, dann verabschiedete sich Sabrina und verschwand eiligen Schrittes in Richtung ihres Büros.
„Du hast vollkommen recht gehabt“, sagte Lessa, nachdem Sabrina weg war. „Sie hat nicht die geringste Absicht, diesen Vertrag zu unterschreiben. Unsere ganze Strategie war ein glatter Reinfall. Und wenn wir erst zu Hause sind, platzt die ganze Geschichte sowieso. Denn im Büro wissen alle, wie wir zueinander stehen.“
„Daran könnte man ja eventuell etwas ändern“, meinte Rick nachdenklich.
Lessa blickte skeptisch drein. „Ich weiß nicht … Mal für ein paar Stunden eine Show abzuziehen, ist eine Sache. Aber im normalen Alltag, Menschen gegenüber, die einen recht gut kennen? Ich glaube nicht, dass das funktionieren kann.“
„Warum nicht? Man braucht doch eigentlich nicht mehr zu tun, als den Leuten ein bisschen Stoff zu liefern, über den sie reden können. Ein hervorragender Anlass wäre unsere bevorstehende Weihnachtsfeier. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als gemeinsam zu kommen und irgendwann gemeinsam die Feier wieder zu verlassen – natürlich so, dass jemand es mitbekommt. Den Rest erledigt der Klatsch, der am nächsten Tag ganz von allein beginnt.“
Lessa hatte Grund, sich über Ricks Vorschlag zu wundern. Denn ausgerechnet über die Weihnachtsfeier waren sie sich zuvor gehörig in die Haare geraten. Für sie war sie eine Tradition, die ihr Vater eingeführt hatte, und die ihr allein deshalb als unantastbar galt. Für ihn war die Veranstaltung vor allem eine Verschwendung von Zeit und Geld. Eine Rolle spielte sicherlich dabei, dass Karen damals von einem Autofahrer tödlich verletzt worden war, der betrunken von einer Betriebsfeier gekommen war. Aber davon wusste außer Rick niemand. Im aktuellen Fall hatte sich Lessa schließlich durchgesetzt.
„Wenn du meinst, das genügt …“, meinte Lessa ein wenig ungläubig.
„Wir werden es schon schaffen und unser Unternehmen zurückgewinnen.“ Unwillkürlich nahm er ihre Hand und drückte sie aufmunternd.