Wieder im Büroalltag angekommen, stürzte sich Lessa in die Arbeit. Der Ehrgeiz hatte sie gepackt, es allen zu zeigen und vor allem Rick zu beweisen, dass sie kein Grünschnabel, sondern eine ebenbürtige Partnerin war. In kürzester Zeit entwarf sie einen Plan, wie Lawrence Enterprises expandieren und damit seinen Kurswert stabilisieren konnte. Es ging, kurz gesagt, darum, kostspielige Anlagen abzustoßen und neue, vielversprechende dafür zu erwerben.
Eines der neuen Objekte hatte sie bereits in Florida ausgemacht, eine Anlage, am Golf von Mexiko gelegen, von der sie sicher war, dass sie ein Rohdiamant war. Lessa kannte den Ort von einem ihrer Tennisturniere, und als sie hörte, dass die Ferienanlage dort zum Verkauf stand, war sie überzeugt, dass sie für Lawrence Enterprises eine perfekte Erweiterung sein würde.
Sie hatte die Bücher genauestens studiert. Die Investition konnte durch den Verkauf einer Ferienanlage auf Antigua gedeckt werden, für die es möglich war, einen hervorragenden Preis zu erzielen. Diese Anlage war nämlich gegenwärtig noch recht profitabel. Da sich aber ein Konkurrent in Reichweite ansiedeln wollte, war es nur eine Frage der Zeit, wann die Anlage auf Antigua rote Zahlen schreiben würde. Einen potenziellen Käufer hatte sie bereits an der Hand. Sobald die Sache spruchreif war, wollte sie die ganze Transaktion Rick vorlegen. Sie würde ihm schon noch beweisen, dass sie eine fähige Geschäftsfrau war.
Von ihrer Tour auf die Bahamas erzählte sie ihrer Großtante keine Einzelheiten, auch wenn die alte Dame, gewitzt wie sie war, mehr als einmal danach fragte. Lessa gab nur so viel preis, dass Rick und sie nun Partner seien, und dass man deshalb nun auch miteinander auskommen müsse.
„Er kann übrigens erstaunlich charmant sein, wenn er will“, fügte sie hinzu. „Als ich beim Wasserskifahren gestürzt bin, war er rührend um mich besorgt.“
„Klingt ja geradezu menschlich“, spottete ihre Tante.
„Ach, ich glaube, er ist gar nicht so schlimm. Leute werden nicht ohne Grund so, wie sie sind. Hast du gewusst, dass die Frau, die er geliebt hat, bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, kurz bevor sie heiraten wollten? Ich wette, dass er immer noch um sie trauert und vielleicht deshalb auch manchmal etwas hart erscheint.“
„Nimm dich in Acht“, warnte ihre weise Tante. „Ein gebrochenes Herz heilen zu wollen, ist meist eine undankbare Aufgabe, die einem oft selbst das Herz bricht.“
„Ich habe gar nicht vor, sein gebrochenes Herz zu heilen“, protestierte Lessa.
„Aber du möchtest es vielleicht doch.“
Lessa schwieg dazu. Stimmte das, was ihre Tante sagte? Oder war das alles nur so eine Anwandlung in Erinnerung an eine fremde, romantische Umgebung?
„Es wäre jedenfalls kein Wunder“, fuhr Gran fort. „Der Mensch hat nun einmal seine Bedürfnisse, und irgendwann machen die sich bemerkbar. Wann warst du zum letzten Mal mit einem Mann aus?“
„Oh, fang bitte nicht wieder damit an. Ich muss arbeiten. Ich habe eine Menge um die Ohren.“
„Ich weiß. Aber ich habe dir schon gesagt: Deine Arbeit kann dich nicht ins Kino einladen, sie kann dir keine Suppe kochen, wenn du krank bist, oder dich in kalten Winternächten wärmen. Ich hoffe nur, falls ich nächstes Jahr nicht mehr da bin, dass es dann jemand anderen gibt, mit dem du Weihnachten feiern kannst.“
„Oh, Gran, so etwas darfst du nicht sagen.“
„Und ob nun Rick Parker ausgerechnet der Richtige ist, weiß ich wirklich nicht.“
„Ich will doch gar nichts von Rick Parker“, verteidigte sich Lessa. Im Stillen wusste sie, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Dass sie sich nicht vorstellen konnte, mit ihrem „Partner“ etwas anzufangen, stand außer Frage. Aber sie hätte einiges dafür geben mögen, ihn noch einmal zu küssen.
Es war kurz vor sieben, als Lessa an diesem Abend das Büro verließ. Es war kalt und ungemütlich. Die Chancen, um diese Zeit ein Taxi zu bekommen, standen eins zu hundert. Lessa versuchte es gar nicht erst. Sie hatte Gran versprochen, einen Weihnachtsbaum zu besorgen, und war entschlossen, Wort zu halten, mochte es nun regnen oder schneien. So kämpfte sie sich durch das hektische, laute Gedränge und konnte ein paar sehnsüchtige Gedanken an die Palmen, die laue Abendluft und die Stille am Strand auf den Bahamas nicht unterdrücken. Und an Ricks Küsse, auch wenn sie nur Teil eines Täuschungsmanövers waren. Mehrmals am Tag ertappte sie sich bei solchen Träumereien, sah Rick in Badehose vor sich und rief sich seinen Gesichtsausdruck in Erinnerung, als er sie halb nackt im Zimmer stehend überrascht hatte.
Sie musste diese Gedanken ausschalten, nahm sie sich jedes Mal vor. So schwierig konnte das nicht sein, zumal sie sich seit ihrer Rückkehr und trotz des Plans, ihre Komödie weiterzuspielen, nur noch gelegentlich auf dem Flur im Vorübergehen sahen.
„Lessa?“, hörte sie eine Stimme hinter sich und fuhr herum. Es war Rick. Er trug einen dunklen Kaschmirmantel und einen Seidenschal, vom Scheitel bis zur Sohle der erfolgreiche Geschäftsmann.
„Hi“, war alles, was sie in ihrer Überraschung herausbringen konnte.
„Darf ich?“ Er bot ihr einen Platz unter seinem Regenschirm an. Lessa zögerte, aber er ließ sich nicht abweisen. „Wohin des Wegs?“, fragte er freundlich.
„Achtundfünfzigste Straße, Ecke Erste.“ Dort hatte sie auch letztes Jahr ihren Weihnachtsbaum gekauft.
„Ich kann dich fahren. Mein Wagen steht ganz in der Nähe.“
Lessa merkte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Schweigend gingen sie zur nächsten Straßenecke. An der Ampel mussten sie warten. Sie spürte seinen Blick und dachte an ihr nasses Haar und an ihre Wimperntusche, die ganz sicher schon verschmiert war. „Ich sehe bestimmt aus wie eine gebadete Maus.“
„Du siehst wunderschön aus“, widersprach er mit sanfter Stimme.
Wunderschön. Sie fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. Mit einem Schlag schien seine Anwesenheit alles andere in den Hintergrund zu drängen. Ein heißer Schauer überlief Lessa. Sie schlang ihre Arme um ihren schon nassen Trenchcoat, nach dem sie am Morgen in aller Eile gegriffen hatte, ohne zu bedenken, wie kalt es abends wurde.
„Halt mal, bitte“, sagte Rick und drückte ihr den Regenschirm in die Hand. Dann zog er seinen Mantel aus und reichte ihn ihr. „Zieh den an.“
„Nein, das ist nicht nötig. Es geht schon“, protestierte Lessa.
„Ich bestehe darauf.“
„Aber dann wird dir kalt.“
„Zieh ihn schon an“, beharrte er. Sie tat, was er verlangte, und nahm einen Hauch von einem männlich-herben Parfüm wahr, als sie in seinen Mantel schlüpfte. „Wie geht es denn jetzt im Büro?“, erkundigte er sich, während sie Seite an Seite die Fifth Avenue hinuntergingen. „Ist es besser geworden?“ Tausende und Abertausende kleiner goldener Lichter funkelten an den kahlen Bäumen, und die Schaufenster waren hell erleuchtet.
„Na ja“, antwortete Lessa nach kurzer Überlegung, „wie man’s nimmt. Man küsst mir zwar nicht gerade die Füße, aber immerhin hat auch noch niemand versucht, meinen Kaffee zu vergiften. Aber etwas anderes: Anscheinend macht unser gemeinsamer Trip auf die Bahamas schon die Runde. Und ich glaube, es gibt einige Frauen im Büro, die sogar inständig hoffen, dass wir etwas miteinander haben. Es würde ihnen sozusagen den Weg freimachen.“
„Das verstehe ich nicht. Den Weg freimachen?“
„Tu nicht so unschuldig. Du weißt genau, dass etliche Frauen, mit denen du zusammenarbeitest, ein Auge auf dich geworfen haben.“ Er sah sie verwundert an, aber sie fuhr unbeirrt fort: „Es ist bekannt, dass für dich immer die eiserne Regel gegolten hat, nie eine Affäre am Arbeitsplatz anzufangen. Und wenn es jetzt tatsächlich wahr wäre, dass zwischen uns etwas läuft, würde das doch bedeuten, dass du mit dieser Regel gebrochen hast. Da macht sich die eine oder andere Hoffnungen und sagt sich: Wenn er es mit ihr tut, warum nicht auch mit mir?“
„Das hieße, sie gehen davon aus, dass es früher oder später mit unserem Verhältnis vorbei ist.“
„Da bin ich mir sicher. Du bist nicht gerade der Typ, der ewige Treue schwört.“
„So ist das also. Interessant!“ Rick schien der Gedanke zu amüsieren. „Darf ich dir den Vortritt lassen, wenn es so weit ist, Schluss zu machen?“
„Das wäre die Sensation. Erst kündige ich dir fristlos, und dann gebe ich dir den Laufpass. Damit gehe ich in die Geschichtsbücher ein.“
Sie hörte ein tiefes Lachen, das von Herzen kam, und war ein wenig stolz darauf, ihn dazu gebracht zu haben, denn man sah Rick nur sehr, sehr selten lachen. Nach einer Pause meinte er: „Aber erst einmal müssen wir sie morgen Abend mit Stoff für den nächsten Büroklatsch füttern.“
Lessa sah ihn an. Morgen war die Weihnachtsfeier. Bis jetzt hatte sie dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Aber der Gedanke daran, dass sie dort ein weiteres Mal als Paar auftreten sollten, und sei es auch nur zum Schein, ließ ihr Herz heimlich höher schlagen.
Inzwischen waren sie vor „Saks“ angelangt. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit dekorierte Saks seine Schaufenster mit großem Aufwand. Die Puppen trugen nicht nur das Feinste und Teuerste, was man zu bieten hatte. In jedem einzelnen Fenster war eine großartige Auslage zu sehen, eine Szene, die eine ganze Geschichte erzählte. Die Auslage, vor der sie gerade stehen geblieben waren, zeigte eine Frau nach der Mode des neunzehnten Jahrhunderts gekleidet. Sie sah elegant und wohlhabend aus. Wertvoller Schmuck funkelte an ihrem Hals, an Händen und Ohren. Selbst das Haar war mit Diamanten geschmückt. Und dennoch saß sie unglücklich und zusammengesunken auf ihrem Stuhl. In der schlaff herabhängenden Hand hielt sie einen Brief. Man konnte sich vorstellen, dass sie ihn gerade gelesen und ihr Liebster ihr darin mitgeteilt hatte, dass er zu diesem Weihnachtsfest nicht bei ihr sein könne.
„Was soll uns das sagen?“, sinnierte Rick.
„Ich denke, sie repräsentiert all diejenigen, die anscheinend alles haben und trotzdem unglücklich sind.“
„Und was hat das mit Weihnachten zu tun?“
„Weihnachten ist das Fest, an dem die, die allein sind, es am schmerzhaftesten spüren.“
Rick sah Lessa von der Seite an. „Klingt fast so, als sprichst du aus Erfahrung.“
Sie wand sich ein bisschen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie in so entwaffnender Offenheit darauf ansprach. „Ja, gerade zu Weihnachten kommen einem solche Gedanken. Man malt sich aus, wie es wäre, einen Mann zu haben und Kinder … Man denkt an Freunde und Bekannte, die mit ihren Familien feiern.“
„Ich glaube, das ist ganz natürlich.“
„Kennst du das Gefühl auch?“
„Sicher. Ich wünschte mir manchmal schon, dass es jemanden gäbe …“
„… den man unter dem Mistelzweig küsst“, platzte Lessa heraus. Aber dann schüttelte sie den Kopf. „Ach, was rede ich. Du hast ein Dutzend Frauen, unter denen du dir diejenige aussuchen kannst, welche du unter dem Mistelzweig küssen möchtest.“
„So verkehrt ist das gar nicht, was du gesagt hast“, kam Rick ihr zu Hilfe. „Es geht ja nicht um irgendjemanden. Es geht um jemanden, den man liebt.“
Erneut wunderte sich Lessa über seine Offenheit, mit der er darüber sprach. Während sie vor dem Schaufenster standen, strömten Menschen an ihnen vorbei, beladen mit Einkaufstüten. Ein Paar schleppte einen Tannenbaum nach Hause.
„Hast du schon alle Einkäufe für Weihnachten erledigt?“, fragte sie.
„Ich habe nicht mal damit angefangen. Aber meistens verschenke ich sowieso Gutscheine. Und du?“
„Ich habe nicht so viel zu besorgen. Meine Großtante bekommt einen schönen Kaschmirpullover und einen passenden Schal, weil sie immer klagt, dass sie so leicht friert.“
Lessa hielt inne. Vor sich erblickte sie den gewaltigen, mit Tausenden von farbigen Lichtern übersäten Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center. Sie nickte in die Richtung. „Wollen wir mal hingehen? Ich komme so selten hierher.“
„Meinetwegen. Ich habe Zeit.“
„Wird dir nicht zu kalt? Du kannst deinen Mantel gerne zurückhaben.“
„Ist nicht nötig“, meinte Rick und hakte sie unter, als sie die Straße überquerten. Auch wenn es im Grunde nur eine alltägliche galante Geste war, kam es Lessa so vor, als sei die ganze Luft um sie herum elektrisch aufgeladen.
Rick und Lessa machten einen Weihnachtsbummel. Es war das erste Mal, dass sie gemeinsam etwas unternahmen, das absolut nichts mit dem Geschäft zu tun hatte. Sie schauten von oben den Schlittschuhläufern auf der Kunsteisbahn zu, die trotz des unfreundlichen Regenwetters ein richtig winterliches Bild abgaben, das einen zusammen mit der prächtigen Beleuchtung, dem grandiosen Weihnachtsbaum und dem Duft von Tannennadeln und gebrannten Mandeln richtig auf die Festtage einstimmen konnte.
Sie rückten unter dem Regenschirm enger zusammen. „Wunderschön“, flüsterte Lessa. Sie schauten sich an. Für unendlich lang erscheinende Sekunden sahen sie sich in die Augen. Dann räusperte sich Rick und machte eine unsichere, fast unbeholfene Bewegung. „Ich müsste jetzt allmählich gehen“, sagte er.
„Ich auch“, bekräftigte Lessa. „Ich muss für meine Gran und mich noch einen Tannenbaum besorgen.“
„Willst du den allein nach Hause tragen?“
„Na klar. Das mach ich jedes Jahr.“
Er lachte. „Aber sicher. Wenn es eine Frau gibt, der ich zutraue, allein einen ausgewachsenen Baum durch New York zu schleppen, bist du es.“ Er nahm sie beim Arm. „Weißt du was? Wir kaufen den Baum zusammen, und ich helfe dir tragen. Ich weiß einen Platz an der Lexington Avenue, wo es welche gibt. Das ist nicht weit von hier.“
„Und dein Auto?“, fragte sie, überrumpelt von seinem Angebot.
„Das hole ich später.“
„Das ist aber wirklich nicht nötig.“
„Ich bestehe aber darauf. Außerdem hilft es mir vielleicht, mich ein wenig in Weihnachtsstimmung zu bringen.“
„Dann bestehe ich darauf, dass du endlich deinen Mantel wieder anziehst.“ Sie ließ keine Widerworte gelten.
Der Platz, auf dem die Bäume verkauft wurden, war nicht zu verfehlen. Er war mit bunten Lichtern hell erleuchtet, Weihnachtslieder ertönten ringsherum aus den Lautsprechern und über dem Ganzen thronte ein großer, von innen beleuchteter Weihnachtsmann aus Plastik. Normalerweise hielt sich Lessa nicht lange damit auf, einen Baum auszusuchen. Aber heute war das anders, und sie ließ sich verschiedene Exemplare zeigen. Der Verkäufer führte die beiden zu einem besonders stattlichen Baum und meinte zu Rick: „Das hier ist unser schönstes Stück. Das müsste Ihnen Ihre Liebste doch wert sein.“
Lessa wollte schon ansetzen und die Verhältnisse richtigstellen, unterließ es dann aber. Es wäre dem Tannenbaumverkäufer höchstens peinlich gewesen.
Rick lächelte und fragte sie: „Was hältst du denn von dem hier, Liebste?“
Lessa spielte das Spiel mit. „Ich finde ihn nicht schlecht, mein Schatz.“
Ehe sie sich’s versah, hatte Rick den Baum bezahlt und stand damit neben ihr. Und abermals war ihr Protest vergeblich. „Dafür musst du das untere Ende tragen. Dann kannst mir auch besser den Weg zeigen.“ In Wirklichkeit packte er den Baum ungefähr in der Mitte, sodass der größte Teil des Gewichts doch auf ihn entfiel.
So machten sie sich auf den Weg. Nach einer Weile fragte er: „Wie machst du das eigentlich sonst, wenn du den Baum allein nach Hause schaffen musst?“
„Dann nehme ich einen, der etwas kleiner ist“, antwortete Lessa.
Rick lachte. In der Tat hatte dieser Tannenbaum ein stattliches Gewicht, das er allerdings ohne Schwierigkeiten meisterte. Als sei es ein Kinderspiel, wich er damit anderen Passanten aus, hob ihn gelegentlich hoch über seinen Kopf, um Hindernisse zu umgehen. Lessa musste an seinen durchtrainierten Körper denken, den sie auf den Bahamas hatte bewundern dürfen.
Das Klingeln seines Handys riss sie aus ihren Träumen.
Rick bat um eine kurze Pause, und sie stellten den Baum ab, damit er den Anruf entgegennehmen konnte. „Hallo“, meldete er sich. „Ach, du bist es.“ Seine Stimme klang weich und vertraulich. „Ja, ich weiß, dass es spät ist. Es tut mir leid. Ich komme, so schnell ich kann. Und Entschuldigung an die Familie. Ich bin gleich da.“ Dann beendete er die Verbindung.
Eine Frau, dachte Lessa, und ihre Stimmung erhielt einen deutlichen Dämpfer. Jemand wartete auf ihn. Hatte er ihr nicht erzählt, dass es in seinem Leben zurzeit keine Frau gab? Dass für ihn ein Kuss unter dem Mistelzweig nur zählt, wenn man jemanden liebt? Welchen Sinn hatte es gehabt, sie anzulügen? Jetzt wartete offenbar bereits die ganze Familie auf ihn.
„Hier ist es“, sagte Lessa, als sie vor ihrem Haus angekommen waren. Sie trugen den Baum die Treppe hinauf, sie schloss die Tür auf, und sie betraten die Wohnung. „Stell ihn erst einmal dort in die Ecke“, bat sie. Als Rick den Baum aufrichtete, erkannten sie, dass der Baum nicht größer hätte sein dürfen. Die Spitze berührte schon die Zimmerdecke.
Ricks Mantel war voller Tannennadeln. Lessa half ihm, sie abzuklopfen. „Vielen Dank, Rick“, sagte sie.
„Hab ich gern gemacht“, erwiderte er. „Wir sehen uns dann morgen.“ Er beugte sich ein Stück zu ihr, und für einen Moment dachte Lessa, er wolle sie küssen. Aber er strich ihr nur eine Locke aus der Stirn. Schon diese kleine Geste zwang sie, sich zurückzuhalten, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Sie dachte an den Anruf auf seinem Handy. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Schließlich behielt die Enttäuschung die Oberhand. „Viel Spaß heute Abend“, wünschte sie ihm mit einem Kloß im Hals, als sie ihn an die Tür gebracht hatte.
Rick schaffte es gerade noch rechtzeitig zu dem jährlichen Gala-diner der New Yorker Tourismusbranche, zu dem er eingeladen war, und auf der er auch gebeten worden war, eine der fälligen Auszeichnungen vorzunehmen.
Betty kam ihm bereits an der Tür entgegen. „Wo bleiben Sie denn?“, fragte sie ungeduldig und nahm ihm rasch den Mantel ab. „Sie sollten um acht hier sein.“
„Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden.“
„Aufgehalten?“ Sie rückte ihm das Revers seines Jacketts und die Krawatte zurecht. „Ich war dermaßen in Sorge, dass ich den ganzen Abend hinter Ihnen hertelefoniert habe und nicht einmal dazu gekommen bin, mit meiner Familie zu Abend zu essen.“
„Dafür habe ich mich ja vorhin am Telefon bereits entschuldigt. Es tut mir wirklich leid. Lessa ist mir über den Weg gelaufen.“
„Lessa?“
„Ja. Sie war gerade dabei, einen Weihnachtsbaum zu besorgen. Da habe ich ihr geholfen, das Ding zu ihr nach Hause zu transportieren.“
Betty sah ihn mit einem ungläubigen Blick an. „Ausgerechnet Sie, der doch nie etwas mit Weihnachten zu tun haben wollte?“
„Es ging ja nicht um Weihnachten, sondern darum, jemandem zu helfen.“
„Und das war rein zufällig Lessa“, mokierte sich Betty. „Es wird ja im Büro schon einiges gemunkelt, nachdem Sie beide auf den Bahamas gewesen sind. Allmählich fange ich an zu glauben, dass an den Gerüchten etwas dran ist.“
Genau das war es, was auch ihn beschäftigte. Seit ihrem Ausflug auf die Bahamas hatte er ständig an Lessa denken müssen. Insgeheim erwartete er sogar die ihm sonst so verhasste Firmenweihnachtsfeier mit Ungeduld, weil sie ihm Gelegenheit geben würde, wieder mit Lessa zusammenzutreffen.
Da Rick nicht antwortete, fuhr Betty fort: „Oder sind das Schuldgefühle, weil Sie festgestellt haben, dass Lessa vielleicht tatsächlich etwas für Sie empfindet, während Sie den Plan verfolgen, sie aus ihrem Unternehmen zu drängen. Sie träumt vielleicht schon von einem romantischen Weihnachtsfest mit Ihnen zusammen, während Sie daran arbeiten, sie an die Luft zu setzen. Das arme Ding kann einem ja richtig leidtun.“
„Das arme Ding? Vor Kurzem war sie noch die böse Chefin, die Sie rauswerfen wollte.“
„Hat sie aber nicht getan.“
„Betty“, sagte Rick jetzt in einem schärferen Ton, „Lessa ist kein Kind mehr. Ich habe mich selbst gewundert, wie fest sie mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Sie weiß ganz genau, dass der Pakt, den sie und ich geschlossen haben, nur ein befristeter Waffenstillstand ist.“ Er warf einen besorgten Blick in Richtung Bühne, auf der das offizielle Programm bereits lief. „Wann bin ich eigentlich dran?“
Betty ging auf die Frage nicht ein. „Ob Kind oder nicht – gegen seine Gefühle kann man nichts machen. Es muss Ihnen doch selbst komisch vorkommen, dass Sie sich darüber sorgen, dass sie sich nicht an ihrem Tannenbaum verhebt, und gleichzeitig den fertigen Plan für ihren Rausschmiss schon in der Schreibtischschublade haben.“
„Ich wünschte selbst, dass es einen anderen Weg gäbe, aber ich sehe keinen.“
„Sie wollen das also wirklich durchziehen?“
Konnte er das tatsächlich – Lessas Existenz zerstören? „Ich habe keine andere Wahl.“