Um die Mittagszeit ging Lessa nach Hause, um ein paar Sachen zu packen. Sollten Rick und sie dieses Mal wieder gezwungen sein, länger zu bleiben als vorhergesehen, wollte sie nicht ganz unvorbereitet sein. Glücklicherweise hatte ihre Großtante eine Verabredung zum Lunch, und so würde es ihr erspart bleiben, Fragen beantworten zu müssen.
Aber sie hatte sich getäuscht. Der Lunch war abgesagt, Gran war zu Hause.
„Erzähle. Wie war es gestern Abend?“
„Die Feier war ein Reinfall“, berichtete Lessa, während sie sich umzog. „Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, ich stehe auf verlorenem Posten. Alle scheinen in mir nur Howard Lawrences Tochter zu sehen.“
„Du musst ihnen zeigen, wer du wirklich bist.“
„Das ist mir bisher nicht besonders gut gelungen. Ein Mitglied des Vorstands hat mich vor allen Leuten beschuldigt, die Gesellschaft in den Ruin zu treiben.“
„Schmeiß ihn raus.“
„Ich kann nicht hergehen und überall die Leute hinauswerfen. Das ist keine Lösung. Rick zu feuern, war schon ein Fehler gewesen.“
„Übrigens warum bist du denn erst um zwei Uhr nach Hause gekommen? Du sahst ganz schön mitgenommen aus.“
„Okay“, sagte Lessa, unterbrach ihre Vorbereitungen und setzte sich zu ihrer Großtante. Es hatte doch keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen. „Ich bin noch mit Rick in seiner Wohnung gewesen.“
„In seiner Wohnung?“
„Ja. Wir wollten noch einmal in Ruhe über ein Geschäft sprechen, das in Kürze ansteht. Im Büro war zu viel Trubel. Hierher konnten wir nicht, weil wir dich so spät nicht stören wollten. Da sind wir zu ihm gefahren. Ja … und so hat eines zum anderen geführt.“
„Das heißt, du bist keine Jungfrau mehr?“
„Gran, ich bin sechsundzwanzig. Ich bin schon lange keine Jungfrau mehr.“
„Und jetzt will Rick dich der Familie vorstellen? Sieht ja so aus, als hätte er ernsthafte Absichten.“
„So ist es auch wieder nicht. Wir müssen uns heute noch Mara del Ray, ein künftiges Objekt, ansehen. Und Rick muss unbedingt zur Hochzeit seiner Schwester. Da bleibt ihm nichts anderes übrig, als das eine mit dem anderen zu verbinden.“
Gran ließ nicht locker. „Warum nehmt ihr nicht zwei verschiedene Flüge und trefft euch in Florida?“
„Wir haben vorher noch einiges zu bereden.“
„Ich denke, das habt ihr gestern getan? Oh, Lessa, ich habe immer gedacht, du wartest auf den Richtigen.“
„So ist es nicht, Gran. Das mit Rick war eine einmalige Sache. Ich hätte ja auch nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Aber ich muss auch weiterdenken. Möglicherweise müssen er und ich noch längere Zeit zusammenarbeiten. Es geht einfach nicht, dass ich durch meine Gefühle abgelenkt werde.“
„Und wie willst du verhindern, dass nicht doch mehr daraus wird?“
„Ich werde es nicht zulassen. Das ist alles.“
Gran schaute Lessa mit besorgter Miene an. „Versteh mich nicht falsch, Lessa, aber bist du dir sicher, dass Rick das nicht bewusst so eingefädelt hat?“
„Du meinst, dass er es nur so weit hat kommen lassen, um mir wehzutun? Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, wenn ich das sage, da ich ihm einst Rache geschworen hatte. Aber er ist im Grunde kein schlechter Kerl. Er hält es meist gut verborgen, aber in ihm steckt ein sehr liebenswerter, feinfühliger Mensch.“
„Ich hoffe, du hast recht, Lessa. Ich hoffe es wirklich für dich.“
Lessa hat vollkommen recht, dachte Rick. Man musste diese Nacht einfach abhaken. Obendrein hatte sie ihm noch den Gefallen getan und war still und heimlich verschwunden und hatte ihnen beiden so die Peinlichkeiten der Begegnung am nächsten Morgen erspart.
Er konnte eigentlich vollkommen zufrieden sein. Aber er war es nicht. Lessas Worte – „der Fall ist erledigt“ – hatten bei ihm eine Leere hinterlassen, die er sich nicht erklären konnte. Er hatte hinter dem kleinen, dummen Mädchen, für das er sie immer gehalten hatte, eine Frau entdeckt, die nicht nur alle weiblichen Reize hatte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, sondern auch über Wärme und Zärtlichkeit im Überfluss verfügte. Sie hatte Gefühle in ihm geweckt, die er längst für sich abgeschrieben hatte. Vor allem hatte sie das Gefühl in ihm hinterlassen, dass er mehr wollte, mehr von ihrer Hingabe, mehr von ihrer Zärtlichkeit, mehr von ihr …
Nein, der Weg war vorgezeichnet. Rick rüttelte sich selbst auf. Er stand kurz davor, das Ruder der Lawrence Enterprises wieder an sich zu reißen und sie aus der Firma zu verdrängen. Beim Vorstand sah Lessa sowieso keinen Stich mehr, wenn sich die Aktienmehrheit einmal zu seinen Gunsten verändert hatte. Wahrscheinlich tat er ihr damit sogar einen Gefallen. Denn mit einer satten Abfindung könnte sie einen Neuanfang machen und ihren eigenen Weg gehen, einen, der ihren Fähigkeiten und Neigungen vermutlich weit mehr entsprach.
Und nun? In wenigen Stunden würde er Lessa seiner Familie vorstellen. Er musste seinen Verstand verloren haben, als er ihr den Vorschlag gemacht hatte, zusammen auf Susans Hochzeit zu gehen.
Rick stand vor Lessas Wohnungstür, um sie abzuholen. Er klopfte und wenig später öffnete sie ihm. Sie sah hinreißend aus. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und trug ein blaues Kleid, das ihre Figur ausgezeichnet zur Geltung brachte.
Lessa bat ihn herein.
Vorsichtig sah er sich im Flur um. „Ist deine Großtante nicht da?“, fragte er.
Lessa lachte. „Keine Sorge, sie ist ausgegangen und trifft sich mit ein paar Freundinnen.“
An der Wand hingen gerahmte Fotografien. Rick trat näher. Es war eine ganze Galerie von überwiegend alten Familienaufnahmen. Über allem thronte ein Foto von Howard Lawrence, der eine Frau im Arm hielt, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Lessa hatte.
„Ist das deine Mutter?“, fragte er.
Lessa nickte. „Das ist in El Vitro aufgenommen, der ersten Anlage, die meine Eltern gekauft und damit den Grundstein zu Lawrence Enterprises gelegt haben.“
„Eine wunderschöne Frau. Ihr seht euch sehr ähnlich.“
Lessa bedankte sich höflich für das Kompliment. Rick wandte sich von den Fotografien ab. Er wurde das Gefühl nicht los, als würde er von Howards Blick verfolgt.
Lessa nahm ihren Mantel von der Garderobe und griff nach ihrer Reisetasche. „Ich bin fertig“, verkündete sie.
„Planst du einen längeren Aufenthalt?“, fragte Rick mit einem spöttischen Blick auf die Tasche.
„Nein, ich bin nur für alle Eventualitäten gerüstet. Und bevor ich wieder einen so idiotischen Fetzen anziehen muss, habe ich lieber meinen eigenen Badeanzug dabei.“
„Schade“, murmelte Rick.
Wenig später saßen sie in seinem Wagen. „Magst du den Bräutigam deiner Schwester?“
„Ja.“
„Na, begeistert klingt das nicht gerade.“
„Es ist nicht ihre erste Ehe. Ich an ihrer Stelle hätte mir ein wenig mehr Zeit damit gelassen, wieder zu heiraten. Aber das ist ihre Sache.“
„Vielleicht hat sie den Glauben an die Liebe nicht verloren. Wirkt sie denn nicht glücklich?“
„Doch. Aber das ist man ja wohl immer zu Anfang.“
Das stimmt, dachte Lessa. So viele Geschichten beginnen glücklich und enden in Kummer und Feindseligkeit. Bei ihr und Rick hingegen hatte die Feindseligkeit am Anfang gestanden. Hatte das etwas zu bedeuten? Den Rest des Wegs, bis sie bei der Kapelle angekommen waren, in der die Trauung stattfinden sollte, sprachen sie kaum noch.
Die Tatsache, dass Rick in Begleitung von Lessa auf der Hochzeitsgesellschaft auftauchte, erregte bei der Familie einiges Aufsehen. „Du bringst jemanden mit?“, fragte ihn seine Schwester Susan, als sie für einen Augenblick unter sich waren. Rick brauchte dazu nicht viel zu sagen, denn er war für die nächste halbe Stunde vollständig damit ausgelastet, sich um den Ablauf der Zeremonie zu kümmern, Gäste und Freunde der Familie willkommen zu heißen, ihnen Plätze zuzuweisen und vieles mehr. Zwischendurch warf er immer mal wieder einen Blick in Lessas Richtung, die aber schnell Anschluss gefunden hatte und angeregt mit einer älteren Frau plauderte.
Unmittelbar an die Zeremonie schloss sich das obligatorische Familienfoto an, sodass Lessa schon zu dem kleinen Hotel auf der anderen Straßenseite hinüberging, wo alles für den festlichen Empfang vorbereitet war. Als endlich das frisch vermählte Paar Einzug hielt und mit dem Rest der Familie auch Rick folgte, suchte er Lessa vergebens.
Er fand sie schließlich in einem Winkel der Eingangshalle, wo sie mit der alten Dame, mit der sie sich zuvor unterhalten hatte, gerade aus den Waschräumen gekommen war.
„Ihre Frau war so reizend, mir zu helfen“, sagte sie, als Lessa ihr Rick vorgestellt hatte. Bald darauf kam die Tochter herbeigeeilt und nahm sich, nachdem sie sich ebenfalls bei Lessa bedankt hatte, der Dame an.
„Hat sie eben ‚Ihre Frau‘ gesagt?“, fragte Rick Lessa leise.
„Sie hat uns zusammen ankommen sehen“, antwortete Lessa. „Was sollte ich ihr da lange erklären?“
„Es wird hier wohl noch ein bisschen länger dauern …“, sagte Rick gerade, als er unterbrochen wurde.
„Willst du uns nicht bekannt machen?“
Wie auf Kommando drehten sich beide um, und vor ihnen standen Ricks Eltern.
Lessa wurde vorgestellt und freundlich begrüßt. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen“, erklärte Ricks Mutter, während sie Lessa die Hand schüttelte. Als Lessas Familienname fiel, stutzte Ricks Vater. „Dann sind Sie Howard Lawrences Tochter?“
Lessa bejahte.
„Ach, Sie sind …“ Man merkte Ricks Mutter die Verwirrung an. Dass Lessa diejenige gewesen war, die Rick vor nicht allzu langer Zeit gefeuert hatte, war natürlich auch zu ihr durchgedrungen. Dazu vermutlich noch einiges andere, und Lessa ging davon aus, dass das meiste davon nicht besonders schmeichelhaft für sie war.
Rick sah sich zu einer Erklärung genötigt. „Wir arbeiten gerade zusammen an einem Ankauf, der für die Firma sehr wichtig sein kann. Deshalb müssen wir heute auch noch weiter.“
„So, so“, meinte Ricks Vater. Dann wandte er sich an Lessa. „Jedenfalls herzlich willkommen bei uns. Ich muss schon sagen, Rick, du hättest uns nicht verheimlichen dürfen, dass du mit so einer schönen Frauen zusammenarbeitest.“
Als seine Eltern wieder in der Gästeschar untergetaucht waren, meinte Rick: „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.“
„Wir können unmöglich vor dem Essen schon gehen“, widersprach Lessa. „Was würde das für einen Eindruck machen? Um mich brauchst du dich nicht zu kümmern. Ich werde mich schon unterhalten. Genieß doch einfach die Zeit mit deiner Familie.“
Eine junge Frau in einem roten Kleid, offenbar eine der Brautjungfern, kam und entführte Rick auf die Tanzfläche. Lessa nutzte die Gelegenheit, sich ein wenig frisch zu machen, und verschwand in die Waschräume. Dort traf sie auf Susan, Ricks frisch verheiratete Schwester. Vor dem Spiegel, während sie beide ihr Make-up erneuerten, kamen sie ins Gespräch.
„Sie glauben gar nicht, wie sehr es mich freut, dass Rick endlich mal seine Freundin mitgebracht hat“, meinte Susan. „Wie lange kennen Sie sich schon?“
„Wir arbeiten zusammen, aber ich bin nichts Ricks Freundin. Ich bin mitgekommen, weil wir später noch einen geschäftlichen Termin in Florida haben. Aber ich bin sehr froh darüber, dass ich hier sein darf. Es ist eine wundervolle Hochzeit.“
„Nicht Ricks Freundin? Aber das ist doch … Ich kenne doch Rick. Ich habe ihn beobachtet. Er hat nur Augen für Sie. Ich könnte schwören, dass er in Sie verliebt ist. Passen Sie bloß auf. Verliebt, verlobt, verheiratet – das geht bei den Parkers ganz schnell. Ich habe meinen Mann auch erst vor sechs Wochen kennengelernt. Und als Rick sich mit Karen verlobt …“ Susan unterbrach sich und schaute Lessa unsicher an. „Sie wussten, dass Rick früher einmal verlobt war?“, fragte sie vorsichtig.
„Er hat mir von Karens tragischem Schicksal erzählt.“
Susan schaute Lessa aufmerksam an. „Sehen Sie“, entgegnete sie dann, „über Karen spricht er sonst mit niemandem. Sie müssen ihm wirklich etwas bedeuten.“ Sie seufzte. „Damals nach Karens Unfall haben wie uns große Sorgen um Rick gemacht. Er hatte sich vollkommen abgekapselt. Das gab sich erst wieder, als er bei Lawrence anfing. Da hatten wir auch gehofft, dass er mal wieder eine Frau kennenlernt, die ihn interessiert. Aber abgesehen von irgendwelchen Zufallsbekanntschaften, passierte überhaupt nichts in dieser Richtung. Jedenfalls nicht bis jetzt.“
„Bis jetzt? Wollen Sie damit sagen …?“
„Ich glaube, er macht sich mehr aus Ihnen, als er sich das selbst zugeben würde. Er hat noch nie jemanden zu einem Familientreffen mitgebracht.“
„Aber ich bin doch nur hier, weil wir diesen Termin in Florida haben.“
„Unsinn. Wenn Rick nicht gewollt hätte, dass Sie mit ihm hierherkommen, wäre ihm todsicher etwas eingefallen.“
Jemand hämmerte mit der Faust an die Tür, und eine männliche Stimme rief ungeduldig: „Susan, bist du da drin?“
Susan stieß Lessa in die Seite und meinte lächelnd: „Mein neuer Herr und Gebieter ruft.“ Sie hatten beide Lippenstift und Wimperntusche längst wieder in ihren Handtaschen verstaut. Susan ergriff Lessas Hand. „Auch wenn Sie Rick beinahe arbeitslos gemacht hätten, Sie gefallen mir. Kommen Sie, ich stelle Ihnen den Rest der Familie vor.“
Nicht nur Susans neuer Ehemann, auch Rick hatte sich inzwischen Gedanken gemacht, warum er so lange allein gelassen wurde. Dann entdeckte er Lessa. Sie stand Hand in Hand mit seiner Schwester in einem Pulk von Cousins und Cousinen, die ihr von Susan vorgestellt wurden.
Auch sein Bruder Russell neben ihm beobachtete die Szene. „Deine neue Freundin ist ja der Hit des Tages. Wie lange hast du sie uns schon vorenthalten?“
„Bis heute Morgen wusste ich selbst noch nicht, dass sie mitkommt. Außerdem ist sie nicht meine neue Freundin, sondern eine Kollegin.“
„Na klar. Und ich bin auch nicht dein Bruder, sondern dein Großvater.“
„Im Ernst. Sie ist unsere Vorstandsvorsitzende, die oberste Chefin.“
„Ganz schön jung für eine oberste Chefin. Und ganz schön hübsch dazu. Sie sieht toll aus, ist erfolgreich, dazu vermutlich sogar reich – und du bist nicht hinter ihr her? Das kannst du mir doch nicht erzählen.“
„Ich habe bereits alles dazu gesagt.“
„Na, fein. Dann hast du ja sicher auch nichts dagegen, wenn ich Sie jetzt zum Tanz auffordere.“
In diesem Moment kamen die beiden Frauen zu ihnen herüber. „Wir haben uns gerade angefreundet, Lessa und ich“, erklärte Susan strahlend.
„Dann wird es höchste Zeit, dass ich das auch mache“, meinte Russell und fragte Lessa: „Wollen wir tanzen?“
„Aber gern“, antwortete sie.
Er bot ihr formvollendet den Arm, und beschwingt steuerten die beiden auf die Tanzfläche zu.
Auch während sie tanzten, ließ Rick sie nicht aus den Augen. Er sah, wie Russell mit Lessa flirtete. Sie schienen sich beide köstlich zu amüsieren. Ob er wollte oder nicht, musste Rick sich eingestehen, dass es ihm überhaupt nicht passte, dass jetzt Russell Lessa in den Armen halten durfte, und nicht er. Rick versuchte, den Gedanken zu verdrängen und woanders hinzusehen, aber es gelang ihm nicht.
Susan war neben ihm stehen geblieben und hatte ihn die ganze Zeit im Auge behalten.
„Nett hier, auf deiner Hochzeit“, meinte Rick, als er sich endlich seiner Schwester zuwandte.
„Genieße sie. In diesem Leben ist es meine letzte.“
„Warum denn? Du hast doch jetzt Übung darin?“, spottete Rick.
„Nein, nein, mein Lieber. Als Nächster bist du dran.“
Er lachte. „Das glaubst du ja wohl selber nicht.“ Noch immer waren seine Blicke auf die Tanzfläche gerichtet. Was hatte Russell ihr ins Ohr geflüstert, dass Lessa so darüber lachte?
„Sie ist wirklich eine schöne Frau“, hörte er Susan neben sich.
„Ja, sie sieht nicht schlecht aus.“
„Russell scheint das auch zu finden. Er legt sich ja richtig ins Zeug.“
„Sieht so aus.“
Die Band spielte jetzt ein langsames Stück. Wange an Wange wiegten Lessa und Russell sich im Takt. Wieder spürte Rick Susans Seitenblick und gab sich Mühe, wenigstens nach außen hin entspannt zu wirken.
Aber seiner Schwester konnte er nichts vormachen. „Wie ernst ist es denn mit ihr?“, fragte sie unvermittelt.
„Was soll das heißen?“
„Ich bin doch nicht blind. Natürlich läuft zwischen euch etwas. Das merke ich schon daran, wie du sie die ganze Zeit angeschaut hast. Ich wette, ihr habt auch schon mehr gemacht, als bloß Händchen zu halten.“
„Hör zu, Susan. Lessa ist die Vorstandsvorsitzende. Das allein ist schon Grund genug, dass mit ihr gar nichts laufen könnte, selbst wenn ich wollte. Außerdem haben wir eine vertragliche Vereinbarung. Wenn es mir gelingt, die Firma zu retten, tritt sie mir die Hälfte ihrer Anteile ab. Was sie nur noch nicht weiß: Dann halte ich die Mehrheit.“
„… und schmeißt sie raus?“
Rick zögerte einen Moment mit der Antwort. „Ja.“
Susan schüttelte den Kopf. „Aber dir liegt doch etwas an ihr. Warum könnt ihr denn nicht zusammenarbeiten?“
Tausendmal schon hatte er sich überlegt, ob es einen anderen Weg gab. Aber er sah keinen. „Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich habe keine andere Wahl.“ Rick zeigte deutlich, dass er nicht bereit war, das Thema weiterzuverfolgen.
„Das ist wieder einmal typisch für dich. Du suchst dir immer Beziehungen aus, in denen die Bremse bereits eingebaut ist. Bist du schon einmal auf die Idee gekommen, dass du auf längere Sicht dabei selbst auf der Strecke bleiben kannst?“
Rick machte eine wegwerfende Handbewegung und schwieg.
„Ach, übrigens“, fragte Susan nach einer Weile, „kommst du Weihnachten zu Mom und Dad?“ Es war jedes Jahr dasselbe. Immer wieder versuchte sie, ihren Bruder dazu zu bewegen, Weihnachten mit der Familie zu verbringen.
„Ich glaube nicht. Du weißt ja, wie ich darüber denke.“
„Es würde unseren Eltern so viel Freude machen. Ich dachte, dieses Jahr könntest du dich vielleicht einmal dazu durchringen.“
„Dieses Jahr ist es auch nicht anders als die Jahre zuvor.“ Mit Erleichterung stellte Rick fest, dass Lessa und Russell aufgehört hatten zu tanzen und zu ihnen zurückkehrten.
„Susan“, legte Russell sofort los, „stell dir vor, Lessa hat noch nichts vor zu Weihnachten. Da habe ich sie gefragt, ob sie und ihre Tante nicht zu uns kommen wollen.“
„Ich weiß nicht, ob das so gut ist“, wandte Lessa schüchtern ein, als sie Ricks entgeisterten Blick auffing. „Immerhin arbeiten Rick und ich zusammen. Da könnte leicht ein falscher Eindruck entstehen …“
„Machen Sie sich um Rick keine Sorgen“, beruhigte Russell sie vergnügt. „Er kommt sowieso nicht. Dann könnten wir im Tennisclub ja auch ein paar Bälle hin und her schlagen. Habt ihr gewusst, dass Lessa schon mal die Korupowa besiegt hat? Das ist sogar auf dem Sportkanal im Fernsehen übertragen worden, und ich habe es damals gesehen.“
„Wie schön für dich“, meinte Rick kurz angebunden. Zu Lessa sagte er darauf: „Meine Mutter würde sich bestimmt freuen, wenn du kommst.“
Susan hielt es für an der Zeit, Rick und Lessa sich selbst zu überlassen. Ihr sicherer Instinkt verriet ihr, dass die beiden allerlei zu bereden hatten, und so zog sie unter einem Vorwand Russell mit sich fort, der sich zunächst nur widerstrebend von Lessas Seite weglocken ließ.
„Er ist und bleibt doch ein Kindskopf“, sagte Rick, als er und Lessa wieder unter sich waren. „Aber er scheint einen Narren an dir gefressen zu haben. Wirst du wirklich hingehen?“
„Hingehen? Wohin?“
„Zum Weihnachtsfest bei meinen Eltern. So wie ich das verstanden habe, war das eindeutig eine Einladung.“
„Dir wäre es doch bestimmt nicht recht, wenn ich sie annähme.“
„Es stimmt, was Russell gesagt hat. Ich werde gar nicht da sein. Und du kannst machen, was du willst. Damit habe ich ja nichts zu tun.“ Natürlich hatte er etwas damit zu tun. Aber hätte Rick Lessa sagen können, dass er nicht wollte, dass sie sich noch einmal in Russells Nähe begibt? Oder in die Nähe irgendeines anderen Mannes? Dass sie zu ihm gehörte?
Wenig später wurden die Gäste zu Tisch gebeten. Während Lessa sich ganz unbeschwert und ungezwungen gab und ihre Tischnachbarn mit Erlebnissen von verschiedenen Tennisturnieren unterhielt, war Rick immer stiller geworden. Er prostete dem Brautpaar zu und fragte sich dabei, ob auch er jemals diesen Schritt gehen würde. Immerhin hatte er sich nicht vorgenommen, für den Rest seines Lebens allein zu bleiben. Trotzdem konnte Rick es sich einfach nicht vorstellen, so einen Bund für die Ewigkeit zu schließen.
Lessa hingegen, spekulierte Rick weiter, war bestimmt nicht die Frau, die lange Single blieb. Eher früher als später würde sie jemanden finden, irgendeinen Glückspilz, der sie mit Freuden nehmen und nie wieder loslassen würde.
Rick wunderte sich heute nicht zum ersten Mal, was mit ihm los war. Es konnte doch unmöglich an dieser einen Nacht liegen, die ihm allerdings nicht mehr aus dem Sinn ging – Lessas Nähe, die Wärme und Zartheit ihrer Haut, der Duft ihres Haars … Es gab nur eine Möglichkeit. Sie fuhren wie vereinbart gemeinsam nach Florida, aber danach, nahm er sich vor, würde er einen großen Bogen um sie machen.