10. KAPITEL

Die Geschäfte und Straßen in und um Washington waren weihnachtlich festlich geschmückt. Mit jedem Tag schienen auch die Anzeigen in den Zeitungen größer und bunter zu werden. Und die Klatschspalten nahmen immer mehr Platz ein und waren gefüllt mit zahllosen Berichten über die verschiedensten Bälle und Benefizveranstaltungen in der gesamten Region.

Carly mied diese Berichte. Doch von ihren Tanten wurde sie auf dem Laufenden gehalten, auf welchen Veranstaltungen ihr „attraktiver Freund“ Peter Cade gesichtet worden war.

Sie hatte ihren Tanten nicht den wahren Grund gesagt, warum sie ihn nicht mehr traf. Sie hatte vorgetäuscht, mit ihrer Arbeit und mit Karen in der Vorweihnachtszeit voll ausgelastet zu sein.

Und das stimmte in gewisser Weise auch. Sie stürzte sich in ihre Arbeit, damit sie wenigstens tagsüber von den Gedanken an Peter abgelenkt wurde. Nachdem Karen im Bett war, hörte sie CDs und alte Schallplatten und träumte von Peter. Sie dachte an seinen Humor, der ihr so gefallen hatte. Wie schön es gewesen war, wenn er sich liebevoll um sie gekümmert hatte und ihr das Gefühl von Einzigartigkeit gegeben hatte. Wie sie sich geliebt hatten … Vor allem aber auch, wie sie über alles miteinander sprechen konnten, über jede Sache angeregt diskutieren und Ansichten austauschen konnten.

Und wenn sie spätabends endlich eingeschlafen war, träumte sie von Peter. In ihren Träumen kehrte er zu ihr zurück und sagte ihr, dass er falsch gehandelt hatte. Er hätte bei ihr bleiben und an ihrer Beziehung arbeiten sollen. Er hätte ihr sagen sollen, dass er sie liebte. Er hätte mehr Interesse an Karen zeigen sollen. Er hätte …

An diesem Punkt wachte sie meist auf, erhitzt und aufgewühlt. Sie sehnte sich nach Zärtlichkeit. Sie sehnte sich nach Peter. Doch das gestand sie sich nur in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers ein. Sie konnte sich nicht erlauben, am Tag an ihn zu denken. Sie würde sonst verrückt werden …

Karen zuliebe musste sie wenigstens tagsüber heiter und ausgeglichen bleiben.

Was auch immer die tieferen Gründe für Peters Furcht vor Nähe und Liebe und Ehe waren, er musste allein damit fertig werden. Vor allem musste er erst einmal bereit sein, die Dinge ändern zu wollen. Wenn er das tat, würde er auch einen Weg finden. Ein klitzekleiner Funke Hoffnung blieb in ihrem Herzen, dass er es fertigbringen würde – und sich dann ihr zuwenden würde. Ihr Verstand jedoch sagte ihr, dass es wohl kaum dazu kommen würde. Sie hatte keinen Einfluss mehr auf ihn und konnte nichts mehr bewegen.

Alles, was sie tun konnte, war, ihre Liebe im Herzen zu bewahren.

Doch dann schoss ihr eine impulsive Idee durch den Kopf. Obwohl Peter Weihnachten so verächtlich abgetan hatte, setzte ihm das Fest mächtig zu. Auch wenn er behauptete, über diesen Dingen zu stehen – freute sich nicht jeder gerade in diesen Wochen über liebevolle kleine Zuwendungen?

Ohne lange nachzudenken, wählte Carly die Nummer eines 24-Stunden-Blumendienstes und bestellte einen Frühlingsstrauß kombiniert mit Tannenzweigen. Das Gebinde sollte ihm gleich in den frühen Morgenstunden ins Haus geliefert werden.

Er hatte in seinem Leben gewiss Hunderte von Bouquets und Gebinden verschickt, aber bestimmt nur ganz selten einmal selbst Blumen erhalten.

Sie konnte nur hoffen, dass ihre Gabe ihm gefiel …

Peter wanderte halb nackt durch das dunkle Haus und wollte sich nicht eingestehen, dass er alle fünf Minuten an den hinteren Fenstern stand und hinausblickte. Doch er wusste, wonach er Ausschau hielt – nach Carly, die vielleicht ihren Abendspaziergang machte oder auf der Bank am Wäldchen saß.

Er wusste nicht, ob er genug Willenskraft hatte, von ihr fernzubleiben. Himmel, er vermisste sie so sehr.

Pausenlos hatte er seit letztem Samstag an sie gedacht, seit der Nacht auf dem Ball, auf dem er sie so kühl links liegen gelassen hatte. Er hatte es mit voller Absicht getan, um sich zu schützen – und hatte gehofft, sie würde ihn trotzdem nicht verlassen. Er hatte noch immer eine kleine Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte zwischen ihnen beiden. Es war diese verdammte rührselige Weihnachtszeit, versuchte er sich froher zu stimmen. Wenn sie erst vorbei war, würde es ihm wieder besser gehen.

„Kein Grund, dir selbst in die Füße zu schießen, Cade“, sagte er laut in die Stille des Hauses hinein.

Doch dem alten Haus war es gleich, was er sagte. Es hatte schon so vieles gesehen und erlebt. Wohin er sich auch wandte, alles erinnerte ihn an Carly. Dort an dem Tisch hatte sie gestanden und gelacht, dort hatte sie sich entspannt hingesetzt, dort hatte sie in einem Buch geblättert und dort hatte sie geweint. Sie hatten sich in seinem Schlafzimmer geliebt, im Wintergarten und im Wohnzimmer.

Du musst sie vergessen, begehrte er innerlich gegen die quälenden Erinnerungen auf. Doch er wusste auch, dass diese Qualen die Strafe waren für seine hartherzige Verbitterung, die ihr so weh­getan hatte.

Er hätte ihr seine Zerrissenheit auch anders deutlich machen können. Doch um alles in der Welt wusste er nicht, wie er das hätte anstellen sollen. Er hatte ihre Gefühle mit gemeinen Kommentaren niedergemacht – bis er sicher war, alles, was sie für ihn empfand, musste tot sein.

Sie hatte ihm sogar die andere Wange hingehalten.

Am Morgen war ihm ein großer Strauß mit Tannenzweigen und Frühlingsblumen geliefert worden. Eine Karte lag dabei.

Ich danke Dir für die schöne Zeit, die wir miteinander erleben durften. Ich hoffe, dieser weihnachtliche Gruß hebt Deine Stimmung.

In Liebe und Freundschaft,

Carly

Seit er die Blumen erhalten hatte, hatte er an nichts anderes als an Carly denken können.

Und mit jedem Gedanken an Carly wurde er ärgerlicher. Wie kam sie dazu, sich in seine Gedanken einzuschleichen? Und das alles mit einem billigen Trick. Zur Hölle noch mal, er hatte Blumen verschickt an so viele Marilyns, Janes, Cindys und sonst wen – nur um zu bekommen, was er wollte. Doch noch nie in seinem Leben hatte eine Frau ihm Blumen geschickt.

Die Pendeluhr in seinem Arbeitszimmer schlug die Stunden an. Es war zehn Uhr. Er ging zum Telefon und wählte Carlys Nummer.

Als er ihre Stimme hörte, versagte ihm fast seine eigene Stimme. Er räusperte sich. „Ich habe deine Blumen erhalten. Ich danke dir.“

„Oh, bitte schön.“ Ihre Stimme war weich und süß und wundervoll.

„Du hättest nicht so viel ausgeben sollen.“

„Es ist das Wenigste, was ich tun konnte, um mich bei dir zu bedanken – für drei wundervolle Ballkleider in meinem Schrank, ebenso wie für die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht haben.“

„Ich bitte dich. Es war mir ebenso ein Vergnügen.“

„Geht es dir gut?“ Ihre sanfte Stimme war Balsam für seine Nerven, und ihr ehrliches Interesse wischte den Schmerz und den Ärger beiseite, den er den ganzen Abend über empfunden hatte.

„Mir geht es gut.“

„Peter, lass dich nicht von der Weihnachtszeit niederdrücken.“

„Werde ich nicht. Es ist nur eine verdammt rührselige und melancholische Zeit, das ist alles.“

„Dann ändere es. Die Weihnachtszeit kann auch heiter und voller Freude sein.“

„Das schaffe ich nicht“, sagte er barsch. „Aber ich danke dir für dein Bemühen.“

„Es war keine Mühe.“

„Trotzdem danke. Mach’s gut.“

Er legte den Telefonhörer auf und schloss die Augen. Carly war voll aufrichtiger Anteilnahme und Mitgefühl. Und sie besaß so viel Stolz und Würde.

Kein Wort davon, nicht einmal eine Anspielung, dass sie ihre Beziehung wieder aufnehmen könnten. Sie reichte ihm nur ihre Hand und bot ihm ihre Freundschaft an. Diese Geste brachte ihn vollends durcheinander.

Er lief weiter ziellos durch das Haus und wurde erst weit nach Mitternacht ruhiger. Als er müde wurde, schnappte er sich nur eine Wolldecke und rollte sich auf der Couch zusammen.

Am nächsten Morgen weckte ihn ein anhaltendes Klingeln an der Tür. Er fluchte, wickelte sich die Decke um den Körper und tappte durch die Halle.

„Ja! Wer ist da?“, rief er und riss die Tür auf.

Ein junger Mann, eher noch ein Junge, stand vor der Tür, seine Uniform trug die leuchtende Aufschrift „Wir liefern alles“.

„Etwas für Sie, etwas Süßes, Sir“, stotterte er und blickte ihn in seinem Aufzug verdattert an. Er streckte ihm ein kleines Päckchen wie eine Friedensgabe hin.

„Ich habe nichts bestellt.“

„Ich weiß. Es ist für Sie bestellt worden.“ Der junge Mann machte eilig kehrt und lief zurück zu seinem Wagen.

Peter wollte ihm ein Trinkgeld geben und erkannte erst jetzt, wie er in seinem Wolldeckengewand auf den Jungen gewirkt haben musste. „Warten Sie! Ich hole nur mein Geld.“

„Danke, wir sehen uns vielleicht noch einmal wieder.“

Er war in seinen bunt bemalten Lieferwagen eingestiegen und angefahren, bevor Peter die Tür geschlossen hatte.

Er ging ins Wohnzimmer und ließ die Decke achtlos rutschen. Sein ganzes Interesse galt dem kleinen Paket in seiner Hand. Er ließ sich auf die Couch fallen, auf der er geschlafen hatte. An dem Päckchen klebte noch ein Umschlag. Er zog die Karte he­raus.

Ein paar Betthupferl für die Weihnachtszeit.

Liebe Grüße,

Carly

„Verdammtes Frauenzimmer!“, fluchte er. Die ganze Nacht war ihm Carly nicht aus dem Kopf gegangen. Erst in den Morgenstunden war er sicher, ihre Beweggründe für die Blumensendung richtig einordnen zu können. Sie wollte ihn dadurch nur wissen lassen, dass sie ihm nichts nachtrug, mehr nicht.

Jetzt war er da nicht mehr so sicher.

Umgarnte sie ihn in einer Weise, die er nur nicht erkannte oder einordnen konnte? Wollte sie sich seine Zuneigung erkaufen?

„Du bist dumm“, sprach er laut und deutlich vor sich hin. „Du denkst, sie will dich kaufen? Mit Geld, das du normalweise als Kleingeld in der Tasche herumträgst. Nun bleib mal realistisch, Peter Cade.“

Im tiefsten Inneren ahnte er die Antwort. Carly hatte immer Rücksicht auf seine Gefühle genommen. Weit mehr, als er auf ihre Gefühle Rücksicht genommen hatte. Ihre Gaben in der für ihn so schwierigen Weihnachtszeit bestätigten das nur – was immer sie damit auch erreichen wollte.

Er ging zum Telefon und wählte ihre Nummer. Sie war nicht zu Hause, ihr Anrufbeantworter sprang an. Ungeduldig wartete er auf den Piepton, der ihn zum Sprechen aufforderte.

„Ich habe die Süßigkeiten bekommen und möchte mich bedanken. Aber die Blumen waren schon mehr als genug. Wirklich. Danke dir nochmals – Frau Freundin.“ Die beiden letzten Worte fügte er mehr für sich als für Carly hinzu, um sich daran zu erinnern, wie es um ihre Beziehung stand.

Ja, dieser Anruf war genau richtig gewesen. Nun hatte er ein gutes Gewissen. Er war kein Mann für Carly. Die Trennung war auch für sie das Beste.

Mit seinem Verstand versuchte er sich zu sagen, dass ihm nur seine Kinder fehlten. Doch sein Herz sagte ihm, dass er eine Frau brauchte, die ihn liebte.

Verdammt!

Als Peter am nächsten Abend in seine Einfahrt einbog, fühlte er sich seelisch und körperlich total ausgelaugt. Er hatte wieder nur wenige Stunden geschlafen und der Tag war hektisch gewesen.

Seine Müdigkeit nach fast zwei schlaflosen Nächte überwältigte ihn, als er von der geräumigen Garage durch den Windfang in die Küche ging.

Achtlos warf er seinen Mantel und sein Jackett über eine Stuhllehne. Seine Haushälterin war da gewesen und hatte wie immer perfekt aufgeräumt und sauber gemacht.

Er löste seine Krawatte und ging ins Wohnzimmer und goss sich einen Brandy ein. Versonnen schwenkte er die goldfarbene Flüssigkeit in dem Kristallglas und trank einen kleinen Schluck, um seinen Kreislauf anzuregen.

Er sollte sich etwas zu essen machen.

Er könnte sich dazu ein Feuer im Kamin anzünden, überlegte er.

Er könnte auch die Kinder anrufen. Er hatte heute Morgen angerufen. Aber da hatte er nicht an die Zeitdifferenz gedacht. Die Kinder hatten noch geschlafen. Und als er sie bei ihrem Frühstück hätte erwischen können, da saß er in einer schier endlosen Konferenz fest.

Verdammt, er vermisste die Kinder so sehr. Er hatte das Gefühl, wenn er es darauf anlegte, würden sie ihm auch sagen, dass sie ihn vermissten.

Warum waren sie ausgerechnet in der Weihnachtszeit nicht in seiner Nähe? Es war das erste Weihnachtsfest, das er ohne sie feiern würde. Im Augenblick hatte er auch keine Zeit, zu ihnen nach Kalifornien zu fliegen. Er hatte versucht, einen Teil seiner Arbeit an die Mitarbeiter zu delegieren. Doch er war so sehr gewohnt, für alles die Verantwortung zu tragen, dass das in dieser wichtigen Zeit, in der die Menschen spendenfreudiger waren, nur schwer zu bewerkstelligen war.

Er nahm sein Brandyglas und ging die Treppe hinauf. Er wollte sich einen Augenblick hinlegen. Doch kaum oben angekommen, hörte er die Klingel an der Seitentür läuten. Er fluchte und überlegte, ob er reagieren sollte. Sein Pflichtbewusstsein gewann die Oberhand, und er ging wieder hinunter zur Küche und schimpfte auf dem ganzen Weg vor sich hin.

Er öffnete die Tür und blickte verdutzt zu Karen hinunter. Dick angezogen stand sie da und streckte ihm mit ihren roten Fausthandschuhen einen großen Umschlag hin. „Hallo, Mr Cade. Hier, von Mom. Ich soll Ihnen sagen, dass Sie lächeln sollen.“ Sie neigte ihren Kopf mit der Zipfelmütze und blickte fragend zu ihm auf. „Sind Sie immer noch so traurig?“

Peter blickte in die großen, teilnehmenden Kinderaugen und fragte sich, wie er diese Frage beantworten sollte. Sei ehrlich, sagte ihm eine innere Stimme. Er folge diesem Rat: „Ja, ich denke, das bin ich.“

„Warum?“

„Weil wir bald Weihnachten haben und ich nicht mit meiner Familie zusammen sein kann, so wie du.“

„Das ist wirklich traurig“, bestätigte Karen feierlich. „Ich wäre auch traurig, wenn ich meine Mom und meinen Daddy nicht sehen könnte.“

„Ich weiß.“

„Wo sind denn deine Mom und dein Dad?“

„Die sind beide schon tot. Mir geht es um …“

„Oh, das ist aber traurig.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Dann ist es ja ein Wunder, dass Sie nicht immerzu weinen müssen.“

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte er.

„Dann sind Sie ganz allein? Sie haben auch keine Frau und keine Kinder, mit denen Sie spielen können?“

„Ich habe Kinder. Doch die leben weit weg, in Kalifornien.“

„Oh“, sagte Karen und es schien, als würde sie wirklich verstehen. „Sind Sie deshalb so finster?“

„Bin ich das? Das denkst du von mir?“

Sie griente verhalten und zog die Nase kraus. „Ein kleines bisschen. Immer wenn Sie mich angucken … Bestimmt denken Sie dann an Ihre Kinder und sind dann ganz traurig?“

Wie konnte ein Kind ihn so durchschauen? Sein Lächeln erlosch wieder. „Du hast es genau erkannt. Ich liebe meine Kinder, und ich vermisse sie.“

Sie nickte bekräftigend. „Das sagt mein Daddy auch, wenn er mich nicht sehen kann.“

„Und du? Was ist, wenn du ihn nicht sehen kannst?“

„Ich denke an ihn, und ich möchte ihn sehen. Aber dann denke ich, dass ich ihn ja bald wiedersehe und dass wir dann ganz viel reden können. Und dass wir ganz viel Spaß haben.“ Sie blickte mit ernstem Gesichtchen zu ihm auf. „Er hat mich ganz doll lieb, und ich ihn auch.“

„Ich verstehe. Wie hast du gelernt, damit umzugehen, dass deine Eltern geschieden sind. Ich meine, dass sie nicht mehr …“

Karen streckte ihre Hände aus und starrte auf ihre Fausthandschuhe und atmete tief. „Anfangs habe ich oft geweint. Aber dann haben Mom und Dad es mir genau erklärt. Sie haben mich lieb, beide, auch wenn sie jetzt in verschiedenen Häusern leben. Dad denkt immer an mich, sagt er.“

„Du bist ein glückliches kleines Mädchen.“

Ihr Gesichtchen zeigte ihre Verblüffung. Damit konnte sie nichts anfangen. „Bin ich das?“, fragte sie verständnislos.

Er erinnerte sich daran, was Carly über ihre Tochter gesagt hatte. Sie und ihr Exmann hatten sich bemüht, die Schattenseiten ihrer Ehe zu vergessen und hatten gemeinsam daran gearbeitet, zum Wohl ihres Kindes eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Solche Gedanken hatten Sandra und er nicht einmal in Erwägung gezogen.

„Ja, weil du Eltern hast, die dich beide lieb haben“, erklärte er Karen.

„Ja, und weil ich meinen Kater habe“, ergänzte Karen. „Hank Aaron hat mich auch ganz lieb.“

„Das hat er ganz bestimmt.“ Seine Stimme war weich geworden und er fühlte, so traurig er auch war, wie er sie anlächelte.

„Ich muss jetzt gehen. Gefällt Ihnen das Geschenk?“

„Welches Geschenk?“

„Das Geschenk!“, erinnerte Karen diesen offensichtlich schrecklich begriffsstutzigen Erwachsenen. Dann drehte sie sich um und eilte den Weg hinunter. Ihr Atem stieg in kleinen Dampfwölkchen vor ihr auf.

„Wo ist es?“, rief Peter ihr nach.

„Neben Ihnen!“ Karen lachte und drehte sich kurz um und wedelte mit einem Arm in Richtung Terrasse. „Um die Ecke!“

Peter starrte ihr nach – die Augen krampfhaft geöffnet, die aufwallenden Tränen zu unterdrücken. Karen bog hinter den Büschen auf die Straße ab und stimmte vergnügt ein Weihnachtslied an.

Peter kehrte in die Küche zurück und ging zur Frühstücksecke hinüber. Vor der gläsernen Tür stand eine hölzerne Krippe, gefüllt mit scharlachroten Geranien. Vor den immergrünen Büschen hob sich ihr Leuchten fast unwirklich ab.

Ihm wurde bewusst, dass er den Umschlag, den Karen gebracht hatte, noch immer ungeöffnet in der Hand hielt. Mit steifen Fingern riss er ihn auf und las:

Auch wenn wir nicht die Richtigen füreinander sind, heißt es nicht, dass wir die Falschen füreinander sind. Ich wünsche Dir all das Glück, nach dem Du Dich sehnst – vor dem Du Dich aber auch fürchtest. Lass Dich von ein paar kleinen Gaben erfreuen, dann gelingt es Dir eines Tages, auch nach dem Glück zu greifen und es festzuhalten. Die Blumen sind ein Hinweis auf das kommende neue Jahr und auf eine Jahreszeit im Aufbruch. Ich wünsche Dir all das Glück, dass auch Du Dir wünschst.

In Liebe,

Carly

Peter ließ sich auf einen Stuhl fallen. Zum ersten Mal seit seiner Scheidung weinte er.

Carly fuhr die Auffahrt zur Tankstelle hinauf und steuerte die Selbstbedienungssäulen an. Es war ein unangenehmer Wintertag. Fröstelnd stieg sie aus, schob ihre Kreditkarte in das Zählwerk und hängte den Zapfhahn in den Tank ihres Kleinwagens.

„Was machst du hier draußen in der Kälte?“, hörte sie Peter rufen. Sie blickte auf, und ihr Herz machte einen Sprung. Peter saß in seinem großen eleganten Wagen an einer der gegenüberliegenden Tanksäulen, an der die Kunden vom Tankwart bedient wurden.

„Hallo, Peter. Wie geht es dir?“

„Gut. Aber beantworte meine Frage. Warum stehst du da in der Kälte? Lass deinen Tank doch hier vom Tankwart auffüllen. Er ist warm genug eingepackt.“

Sie musste lachen. „Du sprichst wie ein Mann, der das Wort ‚haushalten‘ nicht kennt.“

„Bei diesem Wetter solltest du eine Ausnahme machen. Außerdem bist du für dieses Wetter nicht warm genug angezogen.“ Er stieg aus seinem Wagen, zog einen langen Kaschmirmantel über die Schultern und kam zu ihr an die Tanksäule. Allein der Preis seines edlen Anzugs, er musste von Armani sein, würde ihre Benzinrechnungen für ein oder sogar zwei Jahre abdecken.

Sie hatte das Gefühl, ihre Finger froren am frostigen Metallgriff fest und wechselte ihn von der rechten in die linke Hand. „Weißt du überhaupt, dass der Liter Benzin beim Selbsttanken fast 23 Cent günstiger ist?“

Peter nahm ihr den Zapfhahn aus der Hand. „Lass uns nicht darüber diskutieren. Setz dich in deinen Wagen, ich mach das hier schon.“

Ihre Zähne klapperten und sie tat, wie er befahl. Sie setzte sich hinter das Steuer und kurbelte das Fenster hinunter und beobachtete ihn. Als er den Zapfhahn zurückhängte und den Tank an Carlys Auto sorgfältig verschloss, gab ihm der Tankwart ein Zeichen, dass jetzt auch sein Wagen vollgetankt war.

Sie musste laut lachen.

„Was ist denn so komisch?“, fragte Peter irritiert und trat zu ihr ans Fenster.

„Du! Deinen Mercedes lässt du vom Tankwart auftanken – und in der Zwischenzeit stehst du hier und tankst meinen Sparwagen auf. Ich sollte der Gesellschaft ein Dankesschreiben schicken für den aufmerksamen Service.“

„Okay, okay, es erscheint ein wenig irre“, gab er zu, wenn auch sichtlich ungern.

Carly gluckste heiter auf. „Das kannst du wohl sagen. Aber ich beschwere mich nicht.“

Er beugte sich in das Fenster, und sein Gesicht war dem ihren so nahe, dass sie dachte, er würde sie küssen. „Danke für die Geschenke. Das habe ich gar nicht verdient.“

„Doch, das tust du“, sagte sie fest. Auch wenn sie innerlich erbebte, sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Er könnte schon wieder auf dumme Gedanken kommen und sich zurückziehen. „Ich tu’s außerdem gerne.“

„Geht’s dir gut? Ist alles in Ordnung?“

Sie strahlte ihn an. „Alles bestens. Seit Montag sind Schulferien, und ich habe fast alle Weihnachtseinkäufe und Vorbereitungen erledigt. Was will ich mehr?“

„Ich wüsste viele Dinge. Reichtum, einen Märchenprinzen …“ Er blickte hinauf in die schneeverhangenen Wolken. „Und ein Haus in der Karibik zum Beispiel.“

„Ich habe all den Reichtum, den ich brauche. Und was den Märchenprinzessen angeht, der hat entschieden, dass ich nicht seine Prinzessin bin.“

Peter wollte aggressiv reagieren. Doch sie legte schnell und beruhigend ihre Finger auf seine kalte Hand, mit der er sich im Fensterrahmen abstützte. „Nun sei bitte nicht gleich so empfindlich. Du hast den Märchenprinzen ins Spiel gebracht, nicht ich. Und es war ja auch wunderschön, solange es währte.“ Sie lächelte ihn an. „Aber ein Haus in der Karibik ist keine schlechte Idee. Darauf sollte ich mich mal konzentrieren.“

Peter hielt sie mit seinen blauen Augen fest. „Du bist eine ganz besondere Frau, Carly.“

„Danke, dass du das bemerkst.“

Er starrte sie einen Moment wortlos an und richtete sich dann abrupt auf. Er hob die Hand. „Ich muss weiter. Pass auf dich auf.“

„Du auch auf dich“, sagte sie. Er ging zu seinem Wagen und fuhr davon. Sie blickte ihm nach und ahnte, dass sie von ihm hören würde.

Am nächsten Spätnachmittag war Peter in totaler Hetze. Er hatte dummerweise entscheiden, erst nach Hause zu fahren, bevor er am Abend an einer Dinnerparty in Georgetown teilnahm, und war in einen absolut hoffnungslosen Verkehrsstau geraten. Er stellte seinen Wagen ab und hastete durch den Windfang in die Küche. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf den Seiteneingang, lief zur Treppe und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Doch nach den ersten Stufen zögerte er und blickte sich um. An der Haustür klebte ein Zettel, und die Fußmatte schien gewölbt.

Sie hatte es wieder getan! Er ahnte es. Sekundenlang wollte er das Paket ignorieren. Doch seine Neugierde siegte. Was hatte Carly ihm dieses Mal geschickt?

Er hängte seinen Schlips über das Geländer und eilte die Treppe wieder hinunter und holte ein langes, schmales Paket herein. Das Präsentpapier stammte aus einem bekannten Geschäft in der Einkaufspassage.

Eilig riss er die Verpackung auf – und starrte ungläubig auf den Inhalt. Es waren teure seidene Boxershorts für Männer – mit einer schier erschütternden Applikation: ein o-beiniger Santa Claus, der dem Betrachter Küsschen zuwarf. Im Taillenbund der Shorts waren die Worte „Frohe Weihnachten“ eingestickt.

Er hätte wissen sollen, dass das gestrige Geschenk nicht das letzte gewesen war.

An die Verpackung war ein Umschlag geheftet. Er zog einen Brief heraus und überflog ihn:

Wenn der Nikolaus glücklich sein kann – und er hat wahrlich viel zu tun in diesen geschäftigen Tagen – kannst Du es auch sein. Trage diese Gabe mit einem fröhlichen Lächeln.

In Freundschaft,

Carly

Peter blickte vom Brief auf die Shorts und wieder zurück auf den Brief. Dann prustete er los, und sein Gelächter füllte das leere Haus mit einem ungewohnt fröhlichen Klang.

Als er zum zweiten Mal die Treppenstufen hinaufrannte, überlegte er, dass er die Shorts heute gleich tragen sollte. Niemand würde vermuten, dass ein cooler Typ wie er unter seinem feinen Anzug so alberne Unterwäsche tragen könnte. Es wäre ein kurioser Kontrast zu seiner äußeren Erscheinung – auch wenn er der Einzige war, der davon wusste.

Mit diesem Geschenk war Carly ihrem Ziel ein wenig näher gekommen. Peter fühlte sich wie ein glücklicher Mann, zumindest für eine kleine Weile …

Am nächsten Abend fuhr er gedankenverloren nach Hause. Er war ausgelaugt von Schreibtischarbeit und von Besprechungen wegen einer drohenden Klage.

Ein politisch einflussreicher Mann in Tulsa, Oklahoma, wollte eine spektakuläre Anklage gegen Castaways erheben. Er beschuldigte sie, seine Frau und seine Kinder gegen ihren Willen von ihm fernzuhalten. Er und seine gerissenen Anwälte übersahen dabei geflissentlich, dass die Frau mit ihren Kindern schon zweimal Zuflucht bei Castaways gesucht hatte. Sie bauten darauf, dass es keine Unterlagen darüber gab, dass er sie zur Rückkehr überredet hatte – um jeweils kurz darauf wieder seine Gewalttätigkeit an ihnen auszutoben und sie lebensgefährlich zu verletzen. Es war ihnen gleichgültig, ob sie eine schutzlose Frau trafen. Die Arme hatte fast zwölf Jahre verschüchtert bei ihrem überaus wohlhabenden Mann ausgehalten und besaß selbst keinen einzigen Pfennig. Der Mann wollte seinen Prozess, und die Anwälte sahen nur ihr Honorar.

Wenn der Mann mit seinen Anschuldigungen die Öffentlichkeit auf seine Seite brachte, würde der gerade in diesen Wochen nötige Spendenfluss Schaden nehmen. Bis die Wahrheit offenbart wurde, konnten Wochen oder gar Monate verstreichen. Castaways hatte zwar einen untadeligen Ruf, doch solche Schlagzeilen konnte die Organisation wahrlich nicht gebrauchen. Peters Aufgabe war es, diesen verdammten Kerl und seine Anwälte mit allen Mitteln von einer Klage abzuhalten.

Als er die Einfahrt hinauffuhr, hielt er unwillkürlich nach einer Gabe von Carly Ausschau. Er wollte keine Geschenke mehr! Sie waren eine Falle. Das wahre Leben war nicht gut, liebenswert, rücksichtsvoll. Jeder träumte von dieser Märchenwelt, doch das Leben richtete sich nicht danach. Während seiner vielen Jahre für Castawasys hatte er gelernt, dass das wahre Leben Streit, Hass und überkochende Wut war. Carly war zu naiv und er war zu zynisch. Sie konnten in diesen Lebensfragen nicht übereinstimmen.

Das reale Leben war ein millionenschwerer Vater, der ihn mit einem exklusiven Hermesgürtel zusammenschlug. Das reale Leben war seine Mutter, die stumm weinend danebenstand oder wie ein verwundetes Tier aufschrie, wenn sie selbst einen Hieb bekam.

Kurz nach der Herzattacke seines Vaters hatte seine Mutter ihr Leben total geändert. Sie begann eine ehrenamtliche Tätigkeit bei einem wohltätigen Verein und arbeitete, bis sie spätabends erschöpft ins Bett fiel. Es war, als wollte sie sich damit strafen, weil sie sich so lange passiv verhalten hatte.

Peter war einst überzeugt gewesen, er könnte die Welt ändern. Zumindest seine kleine Welt mit den Kindern sollte voller Liebe und Verständnis sein. Das würde ihm all die nötige Zuversicht geben für die größeren Aufgaben.

Wie sehr er sich getäuscht hatte! Er hatte alles verloren, was er liebte. Mehr noch, er hatte sogar die Fähigkeit verloren, einem anderen Menschen rückhaltlos zu vertrauen.

Also arbeitete er ebenso hart wie seine Mutter vor ihm. Unermüdlich. Und behielt seine Sehnsüchte für sich. So konnte er nicht verletzt werden. Und so würde er auch nicht Gefahr laufen, einen anderen Menschen zu verletzen.

Er schlug die Autotür zu und ging seinen gewohnten Gang durch den Windfang ins Haus. Da entdeckte er es.

Auf dem Geländer des überdachten hölzernen Umlaufs ums Haus war ein Hanfsäckchen mit einer gelben Schleife an einen Balken gebunden. Das Säckchen war ein klein wenig geöffnet, und eine Schar piepsender kleiner Vögel machte sich über den Inhalt her. Ein Brief in einer Plastikhülle war an den Pfosten daneben geheftet.

Peter blickte einige Minuten hinaus auf die Vogelidylle – und wandte sich entschlossen ab und zelebrierte im wahrsten Sinne sein abendliches Ritual. Er streifte die Krawatte ab und goss sich ein Glas Brandy ein. Dann ging er in sein Schlafzimmer hinauf und zog sich bequeme Jeans und ein Sweatshirt an. Anschließend ging er mit seinem Brandy ins Arbeitszimmer und sah einige Papiere durch.

Eine Weile später ging er in die Küche, bereitete sich ein Steak und dazu Tomaten-Zwiebel-Gemüse und Pommes frites. Das Außenlicht strahlte auf die Terrasse, auf die roten Geranien und den kleinen Beutel mit den Körnern für die Vögel.

Schließlich konnte er nicht länger durchhalten. Ärgerlich brummelnd ging er hinaus und griff nach der Plastikumhüllung mit dem Briefumschlag, der seit seiner Ankunft auf ihn gewartet hatte, und las ihn.

Nicht alle Vögel fliegen im Winter südwärts. Wenn Du sie beobachtest, wirst Du sehen, wie optimistisch sie leben und auf die Rückkehr ihrer Freunde warten. In der Zwischenzeit zeige ihnen, dass auch Du ihr Freund bist und dass der Frühling nicht mehr fern ist. Wo Frühling ist, da ist auch bald Sommer – und Deine Kinder werden zu Dir kommen und viele Wochen bei Dir bleiben.

Er fühlte einen Kloß in seiner Kehle und einen eigenartigen Druck in seinem Magen. Schuld daran war gewiss das Steak, das er zu hastig gegessen hatte, sagte er sich. Doch er wusste, dass er sich wieder einmal nicht die Wahrheit eingestand.

Eine Erinnerung an Carly quälte ihn ganz besonders. Es war, als sie ihm in der dunklen Limousine vor ihrer Haustür gesagt hatte, was sie von ihm und seiner Gefühlskälte im Allgemeinen und seinem Benehmen gegenüber Karen im Speziellen hielt. Sie hatte es ohne Anklage gesagt, eher als Feststellung.

Aber hielt sie ihn deswegen gleich für so niedergeschlagen oder gar depressiv, dass sie fürchtete, er würde die Weihnachtszeit nicht überstehen? Dachte sie etwa, er wäre so einsam, dass er Vögel zur Gesellschaft brauchte? Die Antwort war, so weh es ihm tat, ein klares Ja.

Doch das machte nichts. Er wollte es ja so. Für die Gaben würde er sich einfach nicht mehr bedanken. Über kurz oder lang würde sie dann damit aufhören. Dann würde er sich auch nicht mehr mit ihren Ansichten über ihn auseinandersetzen müssen.

Das war es! Das war die Antwort. Keine Reaktion zeigen – und sie würde schon lernen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte.

„Hallo, Kinder, hier ist euer Dad. Wir verpassen uns schon wieder und sprechen wohl nur noch über unsere Anrufbeantworter miteinander. Ruft mich so bald wie möglich an. Ich kann ein paar liebe und fröhliche Worte von euch gebrauchen. Ihr fehlt mir sehr. Ich habe auch eine Überraschung. Ich schaffe es, mir zwei Tage freizunehmen und zu euch zu fliegen, bevor ihr eure große Reise nach Hawaii antretet. Ich lasse euch doch nicht noch weiter weg, ohne dass ihr mich vorher noch einmal umarmt.“