1. Kapitel
Das Loch unter den Büschen in seinem Garten war wieder da. Der Sand, den er am Vorabend im Dunkeln hineingeschüttet hatte, war spurlos darin verschwunden. Wie konnte das sein? Jörg Thomsen blickte über seine Schulter zum Nachbargrundstück. Seit Karl-Heinz nicht mehr arbeitete, verfolgte der Nachbar ihn und die anderen Bewohner der Privatstraße mit seiner Neugierde. Er musste den seltsamen Hohlraum unter seinem Garten unauffällig zuschütten, bevor jemand etwas davon mitbekam. Die vom Amt womöglich …
Doch womit? Der Erdaushub neben den Rosen sah schon komisch genug aus. Wie eines dieser eingesunkenen Gräber, die man manchmal auf Friedhöfen sah. Doch wenn er im Baumarkt eine Ladung feinen Kies bestellte, würde Karl-Heinz ihn fragen, was er damit vorhatte.
Jörgs Mobiltelefon klingelte. Er holte es hervor und zog die Augenbrauen zusammen. »Hi, Mam. Was gibt’s?«
»Jörg? Wo bist du gerade? Im Büro?« Ihre Stimme klang seltsam brüchig.
»Nein, ich bin zu Hause. Ich arbeite im Homeoffice.« Wie oft hatte er seiner Mutter das schon erklärt?
»Du bist also nicht im Büro.« Sie atmete schwer und räusperte sich dann. »Das ist sicher gut.«
»Was ist denn los, Mam? Alles in Ordnung bei dir?« Sie klang anders als sonst. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl.
»Nein. Nichts ist in Ordnung«, stieß sie hervor. »Es geht um Kirsten.« Ihre Stimme zitterte .
Jörgs Magen zog sich weiter zusammen. »Was ist denn mit ihr?« Normalerweise war er das Sorgenkind und schwarze Schaf der Familie, nicht seine Schwester.
»Kirsten hatte einen Unfall. Sie ist … Ich weiß nicht, wie ich es dir schonend sagen soll. Kirsten ist tot, Jörg!« Seine Mutter schluchzte nun heftig.
»Nein! Das kann doch nicht sein. Mam! Wer behauptet das?« Kirsten war ein paar Jahre jünger als er und topfit. Jedenfalls war das der Status quo gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Seine jüngere Schwester war ihm weitaus gesünder vorgekommen, als er sich mit seinen 39 Jahren, dem Raucherhusten und den gut fünfzehn Kilo Übergewicht fühlte.
»Die Polizei. Es waren eben zwei Leute von denen bei mir.« Nun weinte seine Mutter am Telefon.
»Aber das kann doch nicht wahr sein! Die müssen sich irren«, rief er.
»Ich glaube nicht, dass die sich irren, Jörg.«
»Was sagen die denn, was mit Kirsten passiert ist?«
»Ich weiß nur, dass es ein Unfall war, Jörg. Beim Joggen. Stephan fährt mich jetzt zu Harro. Ich wollte dir Bescheid sagen, was los ist, bevor du es von jemand anders erfährst. Ich melde mich später wieder bei dir.«
»Kann ich dir irgendwie …«
Klick. Sie hatte das Gespräch beendet. Er konnte seiner Mutter anscheinend nicht helfen. Sie traute es ihm nicht zu. Sie vertraute auf Stephan, der sich stets um alles kümmerte. Ihr Fels in der Brandung. Und sie hatte Kirsten vertraut.
Jörg starrte wieder auf das Loch vor seinen Füßen. Es hatte sich in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst. Nein, die Erde rutschte sogar weiter nach, wenn er zu dicht danebenstand.
Kirsten war tot? Die Nachricht sickerte langsam und unerbittlich in sein Bewusstsein. Richtig begreifen konnte er es nicht. Hatte er sich wirklich neulich gewünscht, seine Schwester sei nicht mehr da? Doch Gedanken allein konnten nicht töten! Er hatte ihr nichts angetan. Bei allen Unstimmigkeiten, all dem Streit und den grundverschiedenen Ansichten, die sie hatten, wollte er sie doch nicht los sein!
Jörg hatte seit gut fünfzehn Jahren keinen Alkohol mehr angerührt. Nun spürte er das altbekannte, ziehende Verlangen danach. Er könnte zum Supermarkt laufen und sich eine Flasche Wodka kaufen. Das würde helfen. Dann dachte er an Constanze, die er vor ein paar Wochen kennengelernt hatte und mit der er jetzt zusammen war. Er sah ihr hübsches Gesicht mit den grünen Augen und den extrem dunklen Brauen vor sich. Ihren festen und doch samtig weichen Körper. Er würde den halben Strand von Bodewind in das Loch in seinem Garten schütten, nur damit alles so blieb, wie es war.
Das Autothermometer zeigte um elf Uhr vormittags eine Außentemperatur von achtundzwanzig Grad, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Erbarmungslos, kam es Pia Korittki in den Sinn, während sie den Anlass ihrer Fahrt bedachte. Eine Schulfreundin von ihr, Kirsten Welling, ehemals Kirsten Thomsen, war gestorben. Die Todesnachricht und die Einladung zu der Trauerfeier hatten Pia wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie hatte keine Ahnung, was ihrer Freundin passiert war.
Pia fuhr die gewundene Landstraße entlang nach Ahrensbök in Ostholstein. Die Christuskirche lag etwas abseits der Hauptstraße auf einem Hügel. Der Kirchturm, der durch die dunkelgrünen Baumkronen stach, erinnerte sie an einen von Felix’ dicken Buntstiften, wenn er frisch gespitzt war .
Zur Kirche musste sie zuerst. Danach ging es weiter auf den Friedhof und dann zu einem Gasthaus im Ort. Es war vermutlich dasselbe Restaurant, derselbe Saal, wie beim letzten Mal, als sie hier gewesen war. Das war zu Kirstens und Harros Hochzeit gewesen. War das wirklich schon zwei Jahre her?
Sie bog scharf nach links auf einen Parkplatz, der jedoch bereits komplett belegt war. Zwei Autos, deren Fahrer hier wohl ebenfalls gerade vergeblich ihr Glück versucht hatten, kamen ihr entgegen. Von überall strömten dunkel gekleidete Menschen auf die Kirche zu, allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Der gesamte Kreis Ostholstein schien sich auf den Weg gemacht zu haben, um ihrer Freundin Kirsten das letzte Geleit zu geben.
Die Kirchenglocken läuteten. Mist, sie hätte früher in Lübeck losfahren sollen. Doch dann hätte sie den zweiten Teil der morgendlichen Dienstbesprechung im K1 versäumt, zu der sie ihre neuen Ermittlungsergebnisse hatte beitragen müssen, da ihr Teamkollege Heinz Broders einen Arzttermin gehabt hatte. Es kam immer alles auf einmal.
Pia wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die frisch gebügelte Bluse klebte ihr bereits am Rücken. Sie fuhr eine Straße am Friedhof entlang und fand ganz am Ende eine Lücke, die groß genug für ihren Kombi war.
Nachdem sie ausgestiegen war und überprüft hatte, ob auch keins der Gummibärchen an ihr haftete, die ihr Sohn Felix neulich im Auto verloren hatte, lief sie den steil ansteigenden Weg hinauf zur Kirche. Die Glocken läuteten immer noch. Eine Menschentraube hatte sich vor dem Eingang versammelt, doch ein Mann im schwarzen Anzug, der sich an der alten Eichentür postiert hatte, schüttelte bedauernd den Kopf. Es gab drinnen offensichtlich keine Plätze mehr .
Pia stellte sich zu den anderen Trauergästen, die nicht mehr ins Kircheninnere gelangt waren, auf den Vorplatz nahe der Tür. Von hier aus konnte sie zumindest einen Teil des Gottesdienstes verfolgen. Sie musterte unauffällig die Umstehenden, ob sie jemanden erkannte. Es war eher unwahrscheinlich, denn Kirstens Familie saß höchstwahrscheinlich in der Kirche in den ersten Bänken vor dem Altar. Mit Kirstens Mutter Susanne hatte Pia wenig zu tun gehabt, aber sie erinnerte sich noch gut an Jörg, den Bruder ihrer Freundin.
Verdammt, dachte sie. Ist es jetzt schon so weit, dass man Jugendfreunde zu Grabe tragen muss? Nicht einmal vierzig Jahre ist sie alt geworden. Und Pia fragte sich nicht zum ersten Mal, woran ihre Schulfreundin, die sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch quietschfidel auf ihrer Hochzeit angetroffen hatte, gestorben sein mochte.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde und dem letzten Orgelstück wurde unter Glockengeläut der Sarg aus der Kirche getragen. Die Trauergäste folgten gemessenen Schrittes. Den länglichen Kasten aus Eichenholz zu sehen, in dem ihre frühere Freundin mit dem ansteckenden Lachen und dem unbändigen Haarschopf liegen sollte, versetzte Pia einen Schlag in die Magengrube. Was vorher nur ein Gedanke, eine beunruhigende Vorstellung, gewesen war – Kirstens Tod –, war mit einem Mal erschreckend real.
Als eines der ersten bekannten Gesichter entdeckte sie Kirstens Ehemann Harro Welling mit seinen Eltern, die sie alle auf der Hochzeitsfeier kennengelernt hatte. Dann sah sie Jörg Thomsen, Kirstens Bruder. Er hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Er war recht dick geworden, und seine Haut sah teigig aus. Er ging an der Seite seiner Mutter, die Pia ebenfalls von früher kannte.
Pia folgte den Menschen in Richtung des Friedhofs, der direkt hinter der Kirche lag. Sie hasste Erdbestattungen und war sich nicht sicher, ob sie sich nach dem Tod ihres Freundes Lars vor zwei Jahren der Zeremonie heute bis zum Letzten stellen wollte.
Schier endlos erschien ihr die Menschenschlange, die langsam dem Sarg den von alten Linden gesäumten Weg hinunter bis zum Grab folgte. Rechts lagen zwei kleine Gebäude aus gelblichem, verwittertem Stein, eines mit Efeu berankt, die Pia als Familiengruften identifizierte. Alles blieb stehen, sah zu der neuen Grabstelle hinüber, die etwas seitlich vom Weg lag. Als der väterlich wirkende Pastor noch ein paar Worte sprach und der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde, stand Pia noch ungefähr fünfzig Meter vom Grab entfernt, sodass sie seine Worte nicht hören konnte. Sie sah, wie weiter vorn, am Fuße des Hügels, die Leute nacheinander vortraten, noch einen kurzen Moment vor dem offenen Grab stehen blieben und dann etwas Erde auf den Sarg schaufelten. Pia hatte diesen Brauch nie so recht verstanden, aber auch nicht hinterfragt. Langsam schoben sich die dunkel gekleideten Menschen vor ihr vorwärts. Es würde noch etwa zehn Minuten dauern, bis sie an der Reihe wäre. Oder sie könnte umdrehen und direkt zum Gasthof gehen. Während sie noch unentschlossen dastand, löste sich ein Mann mit Glatze und verspiegelter Sonnenbrille aus der Menge und trat an das Grab ihrer Freundin. Zunächst verhielt er sich wie alle anderen, hielt einen Moment wie im Gedenken an die Tote inne, schaufelte etwas Sand auf den Sarg. Doch dann schien ein Ruck durch ihn hindurchzugehen. Er hob den Kopf, sodass das Sonnenlicht von den verspiegelten Gläsern der Brille reflektiert wurde. Er sah umher, wie um zu prüfen, ob alle Aufmerksamkeit auf ihm lag. Dann sagte er etwas, das die Umstehenden zurücktreten ließ.
Pia konnte auch seine Worte nicht verstehen. Doch es war offensichtlich, dass er die anderen Leute mit dem, was er sagte, brüskierte. Einige wichen zurück, andere starrten ihn an oder steckten die Köpfe zusammen. Eine Frau, die schräg hinter ihm gestanden hatte, trat vor und sprach ihn an, bedeutete ihm, den Platz vor dem Grab wieder frei zu machen, aber der Mann ignorierte sie.
So schnell es auf dem Kiesweg mit den Pumps möglich war, eilte Pia an den anderen Wartenden vorbei auf das offene Grab zu. Dort bahnte sich offensichtlich eine unangenehme Szene an, die sie, falls möglich, verhindern oder beenden wollte. So etwas hatten weder Kirsten noch ihre Angehörigen, die um sie trauerten, verdient.
Der Pastor, der sich schon ein paar Meter weit vom Grab zurückgezogen hatte, dachte wohl das Gleiche wie sie und kam ebenfalls wieder nach vorn. Pia war noch etwa zwanzig Meter entfernt, als der Pastor den Mann ansprach und ihn am Arm fasste. Der Angesprochene versuchte, sich loszumachen. Inzwischen war Pia noch etwas dichter am Ort des Geschehens.
»Gehen Sie jetzt bitte! Die anderen Trauernden möchten auch noch …«, hörte Pia den Pastor sagen. Der Mann stieß ihn von sich. Der schwarze Talar wirbelte, und der Kirchenmann stolperte und stürzte in Richtung des offenen Grabes, wo ihn zwei Trauergäste gerade noch festhalten konnten. Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung, und zwar zum größten Teil von der Grabstelle weg in Pias Richtung. Sie lief, so schnell es möglich war, ohne jemanden zu arg zu schubsen oder gar zu verletzen, den Menschen entgegen auf den Tumult zu. Dabei knickte sie mehrmals um. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, ließ sie auf dem schmalen Rasenstück liegen und lief barfuß weiter über den harten Kies, um den Mann einzuholen, der zwischen den Büschen und Gräbern ve rschwand. Um den Pastor kümmerten sich offensichtlich schon andere, während der Unruhestifter nicht mehr zu sehen war.
»Wo ist er hin?«, fragte Pia eine rothaarige Frau, die nahe am Grab stand. Die Angesprochene deutete vage in Richtung üppiger Rhododendren.
»Ist er in den Büschen verschwunden?«
Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich glaube schon.«
Pia bahnte sich ihren Weg durch die Schar der Trauergäste zu den Rhododendren. Nach einem vergeblichen Vorstoß in die dichten, mehr als mannshohen Büsche, der ihr nichts als Blätter und kleine Zweige im Haar und eine zerzauste Frisur einbrachte, umrundete sie die Rhododendren und sah sich in alle Richtungen um. Sie konnte den Mann, seine Glatze und die spiegelnden Gläser seiner Sonnenbrille nirgends entdecken. Pia lief zurück zu den anderen Trauergästen, doch wen sie auch fragte, niemand konnte ihr sagen, wohin der Unruhestifter verschwunden war. Pia hastete auf die Straße zu, wobei sie sich immer noch nach allen Seiten umschaute. Sie hoffte, zumindest ein Auto wegfahren zu sehen. Dann hätte sie ein Kennzeichen … Doch als sie durch die Friedhofspforte trat und die Straße in beide Richtungen hinuntersah, standen alle Fahrzeuge unbewegt im Sonnenlicht am Straßenrand. Es rührte sich keines. Zwischen einem blauen Toyota und einem Geländewagen nahe dem Friedhofstor klaffte jedoch eine Lücke. Dort könnte das Auto des Mannes gestanden haben. Sie war zu spät gekommen. Frustriert stoppte Pia ab. Der Unruhestifter war fort. Und sie war barfuß, mit schmutzigen, zerschundenen Füßen und sah vermutlich insgesamt ziemlich derangiert aus. Das ist mal wieder typisch, dachte sie.
Kirsten hätte ihre wilde Aktion und ihren Aufzug vielleicht sogar komisch gefunden. Doch ihre frühere Freundin war nicht mehr da. Beklemmung stieg in Pias Brust auf, die nicht von der Atemnot wegen der Verfolgungsjagd herrührte. Warum hatte sie unbedingt eingreifen und diese Person stellen wollen? Der Mann, der alle brüskiert und eine solche Show abgezogen hatte, war wahrscheinlich kein Unbekannter. Jemand würde ihr erklären können, wer er war, und vielleicht auch, warum er sich so benommen hatte. Und was genau er gesagt hatte …
Und dann? Die Situation war vorüber. Der Schaden für die Angehörigen war entstanden und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Pia strich sich übers Haar, zupfte sich eine vertrocknete Blüte heraus, betrachtete sie und warf sie fort. Es wäre allerdings schon interessant zu erfahren, was den Mann zu dieser Szene am Grab veranlasst hatte. Pia schüttelte irritiert den Kopf. Dann ging sie leicht humpelnd zurück zu dem Rasenstück, um ihre Schuhe einzusammeln.