8. Kapitel
Am folgenden Morgen machte sich Pia gleich nach der Dienstbesprechung in Lübeck auf den Weg in Richtung Ahrensbök. Broders hatte ihr versprochen, heute dem Grund für die Absperrungen in Bodewind nachzugehen. Am gestrigen Tag hatte er niemanden mehr erreicht, der ihm darüber Auskunft geben konnte.
Pia blieb nur noch der heutige Tag, um einen überzeugenden Hinweis darauf zu finden, dass Kirsten Welling möglicherweise einem Kapitalverbrechen zum Opfer gefallen war. Das hatte Manfred Rist ihr gegenüber im Anschluss an die Besprechung noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht.
Sie fuhr als Erstes zu Harros Ex-Frau. Birte Welling hatte sich telefonisch bei Pia gemeldet und um ein früheres Gespräch an diesem Tag gebeten. Sie hatte sich heute kurzfristig freigenommen und nachmittags noch einen weiteren wichtigen Termin, betonte sie. Harros Ex-Frau lebte nicht mehr in unmittelbarer Nähe von Düstersee wie die Familie Welling, sondern war nach der Trennung und der Scheidung von Harro in die »Weltstadt« Ahrensbök gezogen, wie sie es ausdrückte.
Birte Welling wohnte im oberen Stockwerk einer Jugendstil-Stadtvilla. Die Wohnung besaß circa drei Meter fünfzig hohe Räume, Stuck und alte Dielen in allen Zimmern, dazu einen Balkon, von dem aus man in einen parkähnlichen Garten hinausblickte.
»Es sind zwar im Grunde nur zwei Zimmer«, sagte Birte
beinahe entschuldigend, als sie mit Pia den Flur entlangging, »aber durch die große Küche kommt es mir geräumiger vor, und das Bad ist auch ganz neu. Ich habe die Wohnung gekauft. Den Vorbesitzern ist das gesamte Haus zu groß geworden. Und letztlich wollten sie wohl auch das Geld.«
»Es ist eine schöne Wohnung«, erwiderte Pia und nahm an einem runden Glastisch vor der Balkontür Platz. Die weißen Kunststoffstühle waren formschön, aber unbequem. Ein wie zufällig arrangierter Wiesenstrauß stand in einer grünen Glasflasche auf dem Tisch.
»Ich habe heute am späten Vormittag noch einen Arzttermin, nur deshalb bin ich zu Hause«, sagte Birte Welling. »Wir müssen uns deshalb auch etwas beeilen.«
»Eine Stunde ist bestimmt ausreichend.« Pia musterte die Frau, die während der Trauerfeier neben Harro gestanden hatte. Das lange dunkle Haar und die helle Haut gaben ihr ein schneewittchenhaftes Aussehen. Sie war attraktiv, ohne Frage, aber ein anderer Typ als Kirsten, von der hellen Haut einmal abgesehen. Kirsten hatte ihr schulterlanges, lockiges Haar stets irgendwie aus dem Gesicht gebunden und sich wenig aus eleganter Kleidung oder Schmuck gemacht. Sicher, das konnte sich im Laufe der Jahre geändert haben, doch Pia vermutete, dass die meisten Frauen sich da weitestgehend treu blieben. Birte Welling trug wieder ein streng geschnittenes Kostüm, diesmal in einem hellen Graublau, das ihr dunkles Haar und ihre Augen betonte, dazu Ohrringe, eine Kette und mehrere Ringe sowie eine alte Uhr, die jedoch wertvoll aussah. Ihre Fingernägel waren professionell manikürt und hellrosa lackiert.
Birte Welling lächelte amüsiert. »Sie versuchen wohl gerade, mich mit Ihrer Vorstellung von einer Frau auf einem Bauernhof in Einklang zu bringen.«
»Sie haben recht«, gab Pia zu. »Sie und Harro sind ein gut
aussehendes Paar, aber ich bringe Sie irgendwie nicht so recht in einem landwirtschaftlichen Betrieb unter.«
»Ich habe auch nie dort mitgearbeitet. Ganz am Anfang meiner Beziehung zu Harro war ich so verliebt, da habe ich noch so getan, als interessierte es mich. Als fände ich die Ställe, die Tiere und alles wunderbar. Das war aber nicht ehrlich von mir. Ich bin es halt vom Job her gewohnt, den Leuten das zu erzählen, was sie hören wollen. Doch das Landleben ist einfach nicht mein Ding. Als ich es erkannte, war ich bereits verheiratet.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Immobilienmaklerin und bei einem Maklerbüro in Lübeck angestellt.« Sie nannte den Namen. »Sie kennen es sicher.«
Pia nickte. »Wie haben Sie Harro Welling kennengelernt?«
»Auf einer dieser Scheunenfeten, auf die mich eine ehemalige Klassenkameradin mitgeschleppt hat. Ich wollte eigentlich gar nicht dorthin gehen, aber dann dachte ich: Was soll’s? Eine dieser schicksalhaften Entscheidungen.«
»Wie lange waren Sie mit Harro Welling verheiratet?« Pia zog ihr Notizbuch hervor.
Birte Welling stutzte, dann sagte sie: »Etwa zwölf Jahre. Wir waren beide sechsundzwanzig Jahre alt, als wir geheiratet haben. Harro wohnte zwar bei seinen Eltern auf dem Hof, hat jedoch in Futterkamp als wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet. Ich hatte da noch ein überteuertes Appartement in Lübeck. Ich zog zu ihm auf den Hof und redete mir ein, dass es mir gefiel. Die große Wohnung oben im Bauernhaus war kostenlos, es gab einen weitläufigen Garten, Parkplätze vor dem Haus …« Sie lächelte schief. »Von dem gesparten Geld konnte ich Klamotten kaufen oder dreimal im Jahr in den Urlaub fliegen, nur …
«
Pia verlagerte ihr Gewicht. Der Kunststoffstuhl knarzte.
»Nur, dass Harro daran überhaupt kein Interesse hatte. Er kennt bloß seine Arbeit, die Freiwillige Feuerwehr und den Hof seiner Eltern. Ich glaube, er war ein Mal in seinem Leben eine Woche in Dänemark, und das war’s. Und er gedachte auch nicht, daran was zu ändern. Er sagte, er tue das alles für uns und unsere zukünftigen Kinder. Ja. Das war das zweite Thema.«
»Inwiefern?«
»Er wollte unbedingt bald Kinder, ich wollte mir noch Zeit lassen. Es lief so toll im Job, ich bekam Anerkennung und verdiente gut. Es macht mir einfach zu viel Spaß zu arbeiten. Das wollte ich noch nicht aufgeben oder stark einschränken. Denn darauf wäre es hinausgelaufen. Außerdem fürchtete ich …« Sie schluckte. »Ich hatte Angst, damit zu sehr von Franz und Marianne abhängig zu werden. Harro ist ihr einziger Sohn. Sie haben einen ungeheuer großen Einfluss auf ihn, und damit hatten sie den auch auf unser Leben und auf mich. Das hat mir nicht gutgetan.«
»Was genau meinen Sie damit? Wie wirkte sich das aus?«
Birte stockte, kaute an einem ihrer Fingernägel, legte die Hand aber in den Schoß, als sie es bemerkte. »Sie fragten immer, was wir vorhätten, wann wir einkaufen fahren, was wir essen, ob die Anschaffung einer neuen Esstischlampe wirklich notwendig war, die alte war doch noch so schön … Die Kritik an jeder Veränderung kam anfangs recht subtil, wurde jedoch immer übergriffiger. Irgendwann stand ich im Supermarkt, hielt eine Ananas in der Hand und überlegte, was meine Schwiegermutter dazu sagen würde, wenn ich die kaufe. Wir hatten schließlich noch so schöne Äpfel im Keller. Verstehen Sie? Ich verdiente gutes Geld, aber ich wagte nicht mehr, mein Leben zu leben, wie es mir gefiel. Alles wurde kommentiert, hi
nterfragt und kritisiert. Und Harro ist es so gewohnt, er störte sich angeblich überhaupt nicht daran. Er fand, ich stelle mich an.«
»Das war sicher schwierig.«
»Es war die Hölle!«, sagte Birte Welling heftig. »Entschuldigung. Ich wollte nicht so emotional werden. Ich habe Harro geliebt, doch ich konnte so nicht mit ihm leben. Meine Schwiegereltern hatten einen Wohnungsschlüssel. Wenn ich Schritte auf der Treppe zu unserer Wohnung hörte, wurde mir übel, so sehr ist mir die andauernde Einmischung auf die Nerven gegangen. Ich wollte gern das Schloss unserer Wohnungstür austauschen lassen und abschließen. Das wollte Harro nicht. ›Das tut man auf dem Lande nicht‹, hieß es immer. Überhaupt, was man alles tun durfte – und vor allem was nicht –, darüber hätte ich einen Roman schreiben können!«
»Was war der Grund für Ihre Trennung und Scheidung von Harro Welling?«
»Na, das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit plausibel zu machen!«
»Schon klar. Aber gab es einen Auslöser?«
»Sie meinen eine andere Frau?«
»Irgendetwas?«
»Nein. Harro und ich haben uns weiterhin geliebt. Es waren seine Eltern, die alles kaputtgemacht haben. Sie sind eifersüchtig und wollen über sein Leben bestimmen. Als sein Vater einen Schlaganfall hatte und Harro mit dreißig Jahren den Hof übernahm, wurde es noch schlimmer. Da musste auch noch jede berufliche Entscheidung mit seinen Eltern abgestimmt werden.«
»Aber das hat Sie doch nicht betroffen.«
»Indirekt schon. Es wurde erwartet, dass ich Kinder bekomme und auf dem Hof mitarbeite. Dass ich meinen Beruf
aufgebe. Es hat niemand so direkt gesagt, es stand jedoch immer im Raum. Und als ich mich weigerte … da wollten sie mich loswerden.« Den letzten Satz sprach sie nur halblaut aus. Birte Welling sah dabei aus dem Fenster.
»Was sagen Sie?«
»Franz und Marianne wollten mich loswerden. Ich war Ihrer Meinung nach nicht die richtige Frau für den Hof. Und damit auch nicht für ihren Sohn.«
»Das ist eine starke Anschuldigung. Ist etwas passiert, mit dem Sie das belegen können?«
»Von den täglichen Sticheleien einmal abgesehen? ›Wieso tust du die Wäsche in den Trockner, anstatt sie draußen aufzuhängen?‹, ›Wieso gibt es am Sonntag nur gekaufte Kekse und keine selbst gebackene Torte?‹, ›Bei den schmutzigen Fenstern müssen wir uns ja für dich schämen‹ … Ich bin gegen Wespenstiche allergisch. Ich lasse mich gerade dagegen desensibilisieren, aber ich habe auch immer ein Notfallset bei mir, wenn ich in der Wespenzeit draußen unterwegs bin. Neben meiner Küche auf dem Hof gab es eine Speisekammer. Das Fenster war mit Fliegengitter versehen, sodass man es immer offen lassen konnte. Einmal bin ich hineingegangen, um mir ein Stück Pflaumenkuchen zu holen, der auf so einem Tortenteller mit Haube stand. Ich öffnete noch in der Speisekammer die Haube, um mir ein Kuchenstück zu nehmen, und … es kamen so viele Wespen heraus! Bestimmt zwanzig von den Viechern! Die waren ganz aggressiv, weil sie wohl länger dort eingesperrt gewesen waren. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe hinauszukommen, ohne gestochen zu werden. Es war pures Glück.«
»Haben Sie den Kuchen dort abgestellt?«
»Ja, ich habe ihn selbst in die Speisekammer gestellt, und es war zu dem Zeitpunkt noch keine einzige Wespe daran. Da
bin ich absolut sicher. Verstehen Sie? Von allein können die Biester nicht dort reingekommen sein. Das Fenster war mit Fliegengitter gesichert, die Tür zur Speisekammer immer geschlossen.«
»Was hat Harro zu dem Vorfall gesagt?«
Sie schnaubte. »Er untersuchte den Raum und entdeckte eine kleine Ecke im Fenster, wo sich das Fliegengitter vom Rahmen gelöst hatte. Er meinte, die Wespen hätten den Kuchen gerochen und seien hineingeflogen. Die Haube hatte seiner Meinung nach wohl nicht ganz richtig auf dem Tortenteller aufgelegen. Dabei war das so ein Teil mit Klickverschluss.«
»Und was denken Sie?«
»Ich halte es für möglich, dass es meine Schwiegereltern waren.«
»Hatten sie die Gelegenheit, den Kuchen zu präparieren?«
»Auf jeden Fall.«
»Haben Sie sie auf die Wespen angesprochen?«
»Ja, das habe ich. Sie stritten alles ab und lamentierten, dass gerade die Städter gegen dieses und jenes allergisch seien. Das sei vollkommen unnatürlich. Sie selbst seien ja gegen nichts allergisch, und Harro auch nicht.«
»Das war wohl nicht so hilfreich.«
»Irgendwann in dieser Zeit ist bei mir die Entscheidung gefallen, dass ich mich von Harro trenne, wenn er sich nicht von seinem Hof trennt.«
»Sie haben ihm ein Ultimatum gestellt?«
»Wir haben alles besprochen und sind darin übereingekommen, dass es so nicht mit uns klappt. Unsere Lebensvorstellungen waren zu unterschiedlich. Und ändern wollte er nichts. Ich sollte mich ändern.«
»Ich habe Sie und Harro auf der Trauerfeier zusammenstehen gesehen«, erklärte Pia
.
»Ach ja? Ich hatte das Gefühl, dass er etwas Unterstützung gebrauchen konnte.«
»Sie verstehen sich noch gut?«
»Ja«, sagte Birte Welling schlicht. »Wir sehen uns auch ab und zu, weil wir beide seit Ewigkeiten in einer Dorfinitiative mitarbeiten. Neulich Abend, nach einem Treffen des Dorfverschönerungsvereins, als ich noch an Harros Auto stand, um etwas mit ihm zu bereden, wäre ich um ein Haar überfahren worden.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Ich hatte da schon überlegt, es der Polizei zu melden. Harro hielt mit seinem Auto vor dem Gemeindehaus. Er saß auf der Fahrerseite und hatte das Seitenfenster heruntergelassen. Ich befand mich draußen an der Fahrerseite des Corsa. Ein Auto näherte sich von hinten. Es beschleunigte wie verrückt und ist wirklich haarscharf an mir vorbeigefahren. Ich musste mich gegen den Wagen pressen und spürte den Sog, als es an mir vorbeirauschte.«
»Was für ein Auto war das? Haben Sie das Kennzeichen gesehen?«
»Nein, es war dunkel. Ich bin fast sicher, dass der Wagen kein Licht anhatte. Jedenfalls haben wir gar nichts gesehen. Es ging auch zu schnell.«
»War der Vorfall vor oder nach Kirstens Tod?«
»Es war etwa eine Woche vorher.« Sie runzelte die Stirn, sah in ihrem Handy nach und nannte Pia das Datum.
»Hat Harro Welling mitbekommen, was da passiert ist?« Er hatte es Pia gegenüber nicht erwähnt.
»Ja, natürlich. Er schimpfte, dass die Leute immer rücksichtsloser fahren, sogar auf dem Dorf. Aber er meinte, der Autofahrer habe mich wohl übersehen. Übersehen!« Sie verdrehte die Augen
.
»Gibt es noch weitere Zeugen?«
»Anja Behrend saß auf dem Beifahrersitz, aber ich weiß nicht, wie viel sie mitbekommen hat. Die anderen wollten nach unserem Treffen alle schnell wieder nach Hause. Das Wetter war scheußlich.«
Schade, dachte Pia. »Und wie war Ihre Beziehung zu Kirsten Welling?«
»Es gab keine. Ich wollte sie gar nicht kennenlernen. Was ich so über sie gehört hatte, reichte mir.«
»Was meinen Sie damit?«
»Harro hat doch den gleichen Fehler zum zweiten Mal gemacht: Er verliebt sich in eine selbstständige Frau und erwartet, dass sie sich ihm zuliebe ändert. Die Neue, diese Kirsten, war anscheinend nicht viel anders als ich. Sie hat weiterhin in Kiel gearbeitet, sie hatte offensichtlich ihr eigenes Leben. Sie hat sogar durchgesetzt, nach unten in die Wohnung von Marianne und Franz zu ziehen, habe ich gehört. Und sie hat in den zwei Jahren, in denen sie verheiratet waren, auch kein Kind von Harro bekommen.«
»Der Typ Schwiegertochter, den Harro Wellings Eltern sich vorstellen, ist wahrscheinlich Ende der Fünfzigerjahre ausgestorben«, sagte Pia. »Aber vielleicht hat er aus der Geschichte mit Ihnen und seinen Eltern etwas gelernt.«
»Das wäre aber unfair«, erwiderte Birte. »Falls die Neue es durch mich einfacher hatte, meine ich.«
»Kirsten Welling ist tot«, erinnerte Pia sie.
Birte Welling sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Ja. Aber es war doch ein Unfall? Oder etwa nicht?«
»Das versuche ich herauszufinden.« Pia steckte ihr Notizbuch und den Stift wieder ein und stand auf. Als Birte sich erhob, wurde sie noch etwas blasser und kniff die Lippen zusammen
.
»Was haben Sie? Stimmt etwas nicht?«, fragte Pia.
»Ach, es sind nur meine Rückenschmerzen. Ich hoffe, der Arzt gibt mir gleich eine Spritze dagegen.«
»Dann gute Besserung!«, wünschte Pia ihr. Sie dankte der Frau für ihre Zeit und die Auskünfte und verließ das Haus. Im Vorgarten warf sie einen Blick zurück auf die Jugendstilvilla. Sie glaubte, eine Bewegung hinter dem großen Fenster im oberen Stockwerk zu sehen. Was Birte Welling ihr erzählt hatte, gab Pia zu denken. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer derartigen Anschuldigung gegen Harros Eltern. Birte Wellings Bericht war sicher mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Pia hätte gern Kirstens Meinung zu den Familienverhältnissen der Wellings gehört. Doch die würde ihr nichts mehr dazu sagen können.