12. Kapitel
Das sonnige Wetter hatte die Kinder und auch beinahe alle anderen Besucher des Kindergartenfestes in den weitläufigen Garten gelockt. Pias Befürchtungen zum Trotz war es eine recht entspannte Veranstaltung. Sie verbrachte die erste Stunde an dem Stand mit dem Waffeleisen, bestrich gefühlte eintausend Waffeln mit Schoko-Haselnuss-Creme und sah, wie sich das klebrige braune Zeug in Kinderhänden, um Kindermünder herum und auf T-Shirts und luftigen Sommerkleidchen verteilte.
Hinnerk lief derweil mit Felix herum, der ihm seine Schaukelkünste zeigte und vorführte, wie schnell er rutschen konnte. Nachdem Pia ihre Schicht am Waffelstand beendet hatte, musste Hinnerk Frondienst beim Dosenwerfen leisten. Felix und sie kauften sich nun selbst Waffeln, Pia bestellte sich dazu einen Becher Kaffee, und Felix bekam eine Apfelschorle. Sie setzten sich zu Raffi und seiner Mutter auf eine der Bänke auf der Wiese vor der Sandkiste, wo auch eine kleine Bühne aufgebaut worden war. Pia ließ den Blick über die vielen Kinder mit ihren Eltern schweifen, doch von Mascha war immer noch nichts zu sehen. Sie hatte sich anscheinend gleich zu Anfang mit Rieke in die Innenräume zurückgezogen. Pia schüttelte den Kopf. Warum zum Teufel interessierte es sie überhaupt, wo sich Hinnerks neue Partnerin aufhielt? Sie sollte froh sein, dass es dem Vater ihres Kindes mit seiner kleinen Familie gut ging. Ein zufriedener Papa bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass es Felix ebenfalls gut ging, mal ganz abgesehen davon, dass er nun auch eine kleine Schwester hatte. Was waren das für ursprüngliche, kaum zu kontrollierende Gefühle, die bewirkten, dass sie die andere Frau als »Rivalin« betrachtete oder zumindest als jemanden, dessen Gesellschaft man nach Möglichkeit mied? Ihr Verstand sagte ihr, dass Mascha keine Rivalin war und ihr gleichgültig sein konnte, da sie selbst definitiv nichts mehr von Hinnerk wollte. Pia musste an ihr Gespräch mit Birte Welling über ihr Verhältnis zu Kirsten denken … Auch wenn sie unvernünftig waren, konnten diese Gefühle sehr stark sein. Zerstörerisch stark?
Felix und Raffi rannten umher, stellten sich an dem Spielestand an, an dem man mit Handpumpen und einem Feuerwehrschlauch auf bewegliche Ziele Wasser spritzen konnte.
»Na, gleich sind sie garantiert patschnass«, kommentierte Inka das Vorhaben der Kinder. »Hast du Wechselklamotten dabei?«
»In Felix’ Fach liegen noch welche.« Pia genoss die warmen Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht.
Inka widmete sich ihrem Tortenstück, kunstvoll aufgeschichtet aus Biskuit, Kirschen, Sahne und zerbrochenem Baiser. »Ich glaube, das ist Flockentorte, und sie schmeckt himmlisch«, sagte sie. Und dann, während sie nachdenklich den Tortenrest auf ihrem Teller betrachtete: »Seit wann genügt es eigentlich nicht mehr, einen Zitronenkuchen mit Gummibärchen oder Smarties darauf für das Kindergartenfest zu spenden? Seit wann müssen es selbst gemachte Konditortorten sein?«
Pia hob die Hände. »Da bin ich raus. Ich habe die Gemüsesticks mitgebracht.«
»Ich hol mir jedenfalls noch ein Stückchen Mokkatorte. Willst du auch eins?«
»Nein, danke. Ich hatte schon reichlich Waffeln. «
Inka ging durch die Menge zum Tortenstand, wo man für zwei Euro ein Stück des Kuchens erstehen konnte, den man selbst gebacken hatte. Selbstverständlich für einen guten Zweck. Felix und Raffi kamen zur Bank zurück.
Die Kindergartenleiterin stieg auf das Podest neben der Sandkiste, nahm das Mikrofon vom Ständer und hieb mit den Fingernägeln darauf. Es knackte und fiepte ohrenbetäubend. Sie fragte dreimal: »Hört man mich auch?« Dann hielt sie eine kleine Ansprache, in der sie mehrmals betonte, wie sehr alle die zukünftigen Schulkinder vermissen würden. Die Betroffenen, darunter Raffi und Felix, zeigten sich unbeeindruckt. Eine kleine Pause entstand. Plötzlich schaute Felix erschrocken auf und stellte demonstrativ seinen Trinkbecher auf dem Tisch ab. Pia sah ihn überrascht an. Sie beobachtete, wie sich die Eltern der älteren Kindergartenkinder, zu denen sie ja eigentlich auch gehörte, unauffällig von den im Garten aufgestellten Lautsprechern zurückzogen. Keinen Moment zu früh, denn die Kindergartenleiterin stimmte ein fröhliches Lied an. Ihre Lautstärke stand jedoch im diametralen Verhältnis zu ihrem Gesangstalent.
Der Zufall oder ihre mangelnde Weitsicht wollte es, dass Inka und sie mit den Kindern auf der Bank direkt neben einem Lautsprecher saßen. Waren die Plätze aus diesem Grund unbesetzt geblieben?
Pia schielte zu Felix hinüber. Der hielt sich demonstrativ und mit weit abgespreizten Ellenbogen die Ohren zu. Und als wäre das nicht schon unangenehm genug, sagte er in einer Pause, als die Sängerin etwas länger Luft holte: »Bitte nicht weitersingen!« Und noch etwas lauter: »Ich kann das nicht aushalten!« Vereinzelt erklang unterdrücktes Gelächter. Alle sahen zu ihnen herüber. Wie gut, dass dies Felix’ letztes Kindergartenjahr gewesen war .
Jedes noch so schöne Abschiedsfest im Kindergarten ging einmal zu Ende. Felix war mit der kleinen Schultüte und der Mappe mit seinen Bildern, die er trotz seines unentschuldbaren Fauxpas überreicht bekommen hatte, fröhlich winkend in das Auto seiner Großmutter gestiegen, die auch noch für eine Stunde aufs Sommerfest gekommen war. Hinnerk nahm Pia zur Seite, um sich zu versichern, dass sein Sohn das Wochenende darauf dann bei ihm und Mascha verbringen würde, wie es längst abgesprochen war. Pia solle ihm bitte am Samstagmorgen rechtzeitig alle Sachen dafür zusammenpacken. Als hätte sie es schon jemals vergessen …
Als auch die Bilderbuchfamilie in den silberfarbenen Kombi gestiegen und davongefahren war, stand Pia unschlüssig auf dem Parkplatz. Sie hatte also nun frei bis Samstagnachmittag. Dann war sie in Stockelsdorf bei ihren Eltern zum Grillen eingeladen, bevor sie Felix wieder mitnehmen würde. Während des Festes hatte Pia sich alle Gedanken an Wachsleichen und Wehre an Mühlbächen verboten. Doch nun kamen die Erinnerungen mit Macht zurück.
Sie könnte nach Hause fahren, und dann? Dort warteten mit Sicherheit die Bügelwäsche und der Wohnungsputz auf sie. Einkaufen musste sie auch noch. Aber das konnte doch nicht alles sein. Ich fühle mich einsam, gestand sie sich ein. Freundschaften zu pflegen hatte sie in letzter Zeit sträflich vernachlässigt. Ihr Leben bestand aus ihrer Arbeit und der Zeit, die sie mit ihrem Kind verbrachte.
Und da Felix nicht da war, konnte sie auch gleich weiterarbeiten … Sie wollte dringend noch einmal mit Kirstens Bruder Jörg sprechen. Wegen der Einsturzgefahr durfte er sein Wohnhaus nicht mehr betreten. Wo war er dann abgeblieben? Pia bereute, während der Trauerfeier keine Mobilnummer von ihm erfragt zu haben, aber ein Anruf bei seiner Mutter in Klausdorf löste zumindest dieses Problem. Leider bekam sie auf Jörgs Handy wiederholt nur die eine Ansage zu hören, dass er vorübergehend nicht zu erreichen sei.
Pia stieg in ihr Auto, das auf dem letzten Parkplatz in der Sonne stand und noch eine Innentemperatur von vierzig Grad hatte, und ließ den Motor an. Wenn die Straßen jetzt freier waren, könnte sie in eineinhalb Stunden in Bodewind sein. Dann war es noch nicht zu spät, um mit Jörg zu sprechen. Seine Mutter hatte ihr am Telefon gesagt, sie wisse nicht, wo er im Augenblick wohnte, was Pia etwas seltsam fand. Doch immerhin hatte Susanne Thomsen ihr erzählt, dass ihr Sohn eine neue Freundin namens Constanze habe, bei der er womöglich untergekommen sei. Die Beziehung war jedoch noch so frisch, dass sie weder den Nachnamen wusste noch eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihr besaß. Alternativ hat Jörg sich vielleicht ein Zimmer in einer Pension oder einem Hotel genommen, überlegte Pia. Was sicherlich schwierig war, an einem Wochenende bei diesem Wetter an der Ostsee …
Während der Autofahrt rief Pia in ihrer Dienststelle an. Sie hatte Glück und erreichte ihren Kollege Michael Gerlach, der noch im Büro saß. Er war ihr seit ihrer letzten gemeinsamen Ermittlung etwas schuldig, als sie kurzfristig eine Hintergrundrecherche für ihn durchgeführt hatte, die er versäumt hatte. Er suchte ihr, ohne zu murren, alle Adressen und Telefonnummern von Frauen in der Umgebung von Bodewind und Kiel heraus, die den Vornamen Constanze oder Konstanze trugen. Die Ausbeute war überschaubar, sodass er gleich weitermachte und versuchte, die richtige Constanze zu finden. Ohne Erfolg … Keine der erreichten Frauen konnte ihnen bei der Suche nach Jörg Thomsen weiterhelfen .
Das wäre wohl auch zu einfach gewesen, dachte Pia. Sie war mittlerweile in Bodewind angekommen. Das Rathaus, wo man ihr vielleicht hätte sagen können, wo die Bewohner des Brombeerwegs vorübergehend untergekommen waren, war natürlich längst geschlossen.
Pia fuhr runter an den Hafen und fand zum zweiten Mal an diesem Tag mit viel Glück einen Parkplatz. »Läuft doch«, murmelte sie. Sie stieg aus und ging am Hafenbecken entlang in Richtung Wasser. Für das Kindergartenfest hatte sie ausnahmsweise ein Kleid angezogen. Die laue Abendbrise an den Beinen zu spüren fühlte sich für sie ungewohnt an. Nach der Fahrt hatte sie Durst, wohl auch von den vielen Süßigkeiten, die sie am Nachmittag gegessen hatte, und den Unmengen an Kaffee. Sie setzte sich in den Außenbereich eines Lokals am Wasser, von wo sie einen Blick auf die Kieler Förde und das andere Ufer hatte.
Pia bestellte sich eine große Apfelschorle und atmete die Seeluft ein. Es roch schon anders hier als mitten in Lübeck. Bestimmt war es auch ein paar Grad kühler. Sie sah einer Fähre zu, die sich langsam in Richtung offene See schob und ein langes Tuten hören ließ. An Bord standen Menschen und winkten. Sie freuten sich sicherlich auf eine Überfahrt nach Schweden und ein langes Sommerwochenende.
Pias Gedanken kehrten zu ihrer Arbeit zurück. Was hatte Jörg Thomsen getan, nachdem er seines Hauses verwiesen worden war? Wohnte er bei seiner Freundin, die sie nicht finden konnten? Oder hatte er sich doch ein Hotelzimmer oder Appartement genommen? Wie wäre er in diesem Fall wohl vorgegangen? Gut möglich, dass er einige Leute persönlich kannte, die hier Zimmer oder Ferienwohnungen vermieteten, aber die Chance, dass an einem Wochenende wie diesem kurzfristig etwas frei war, ging doch gegen null. Also hatte er womöglich bei der Touristeninformation angerufen. Pia wählte die Nummer, die sie im Internet fand, aber auch da erreichte sie niemanden mehr. Die Hoffnung, dass sich jemand dort an Jörg Thomsen erinnerte und wusste, wo er womöglich untergekommen war, zerschlug sich damit. Alle Übernachtungsmöglichkeiten in Bodewind abzuklappern wäre die zweite Möglichkeit. Pia schreckte jedoch vor der puren Anzahl der Zimmer und Appartements, auch in den Nachbarorten, sowie die der Ferienhütten oder mietbaren Trailer auf Campingplätzen zurück. Dafür bräuchte es deutlich mehr Leute.
Nein, sie musste zum Ort des Geschehens fahren. Die direkten Nachbarn waren zwar ebenfalls weggeschickt worden, doch ein paar Häuser weiter wusste vielleicht jemand Näheres.
Die Sonne stand schon tief am Himmel, und der Horizont war von einem leichten Dunst bedeckt. Pia trank die Apfelschorle, ging hinein, bezahlte und machte noch einen Abstecher zu den Toiletten, wo sie mit einem Märchenhörspiel statt Musik unterhalten wurde. Sie verließ das Lokal, ging wieder am Hafen entlang und stieg dann ein Stückchen bergan zu den betroffenen Häusern.
Abgesehen davon, dass es allmählich dunkel wurde, war die Szenerie ähnlich wie neulich, als Pia schon einmal hier gewesen war. Verlassene Gärten, verwaiste Carports, Häuser mit geschlossenen Türen und Fenstern, heruntergelassene Rollläden oder dunkle Fensteröffnungen, und alles mit polizeilichem Flatterband abgesperrt. Schon nach kurzer Zeit strahlte der Straßenabschnitt etwas Vernachlässigtes aus. Konnte das Unkraut etwa so schnell gewachsen sein?
Sie klingelte an den Türen der noch bewohnten Nachbarhäuser im Brombeerweg, gab sich als Polizeibeamtin zu erkennen und fragte nach dem Verbleib der ausgezogenen Bewohner, insbesondere nach Jörg Thomsen. Sie erntete jedoch nur Kopfschütteln und schlecht verhohlene Neugierde. Niemand wusste mehr, als dass wegen der unterirdischen Gänge unter den Grundstücken Einsturzgefahr bestand und die Leute weggewiesen worden waren. Darin schwang die Befürchtung mit, ebenfalls betroffen zu sein und als Nächstes Opfer behördlicher Maßnahmen zu werden, sollte sich das Gängesystem als weitläufiger herausstellen als bisher angenommen.
Die Aktion zog sich länger hin, als Pia erwartet hatte. Als sie fertig war, war es schon kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Es war höchste Zeit, nach Lübeck zurückzukehren. Dann wäre sie frühestens um Mitternacht im Bett. Sie hatte sich vorgenommen, am nächsten Vormittag in die Dienststelle zu fahren, um dort in Ruhe noch ein wenig zu arbeiten.
Der Nebensatz einer der Nachbarinnen kam Pia wieder in den Sinn: »Jörg Thomsen ist anscheinend stinksauer wegen der Wegweisung. Ich hatte ihn noch im Supermarkt getroffen, und er sagte, er würde sich das nicht gefallen lassen.«
»Was meinte er wohl damit?«, hatte Pia gefragt.
»Keine Ahnung. Aber von jetzt auf gleich sein Zuhause verlassen zu müssen, das ist schon heftig. Nur das Notwendigste durften sie im Beisein eines Polizisten einpacken, und seitdem sind sie raus. Da muss man doch Angst haben, dass sie einem die Einrichtung und alles unter dem Hintern wegklauen.«
Demnach war Jörg Thomsen vielleicht noch in der Nähe? Die Wegweisung war am Mittwoch erfolgt. Sollte er womöglich den Anweisungen zuwiderhandeln und doch noch in seinem Haus wohnen? Zuzutrauen ist es ihm, befand Pia, jedenfalls wenn sie ihre Erinnerungen an den achtzehnjährigen Jörg wachrief. Falls er nicht wusste, wohin, könnte er durchaus auf die Idee verfallen sein, heimlich dort zu übernachten.
Inzwischen war es beinahe stockdunkel und die Nacht sternenklar. Pia ging zurück zum Hafen und holte eine Taschenlampe aus dem Auto. Sie hörte das feine Klirren der Stahlseile, die gegen die Masten der Segelschiffe schlugen, das Rollen der Wellen gegen Schiffsrümpfe und entfernt Stimmen und leise Musik. In Bodewind genossen die Menschen den lauen Sommerabend.
Pia ging wieder bergan und näherte sich den drei leer stehenden Häusern im Brombeerweg. Jörg Thomsens war das mittlere. Sie stieg über das Absperrband hinweg und ging zum Eingang. Pia legte die Hände seitlich an den Kopf und versuchte, durch die Scheibe neben der Eingangstür ins Haus zu blicken. War da drinnen irgendwo ein schwacher Lichtschein erkennbar? Wie ein Einbrecher legte sie das Ohr an die Tür und lauschte. Hielt sich jemand in dem Haus auf? Es war nichts zu sehen oder zu hören. Aber das hieß noch nichts. Falls Jörg sich illegal da drinnen aufhielt, würde er sicher dafür sorgen, dass man es nicht gleich mitbekam. Sie ging langsam um das Haus herum. Im Garten standen ein Minibagger und weitere Baugerätschaften. Man wollte sich also nun einen Zugang zu dem Gängesystem verschaffen, nachdem der Kanalroboter die Leiche gefilmt hatte. Wie sonst sollte man den Toten auch bergen?
An der Rückseite des Hauses war kein Blick in das Innere des Hauses möglich, weil die Rollläden heruntergelassen waren. Jörg konnte theoretisch bei Festbeleuchtung in seinem Wohnzimmer sitzen, und sie würde es nicht mitbekommen. Sie könnte gegen die Terrassentür klopfen, aber er würde wohl kaum darauf reagieren, wenn er sich verbotenerweise in seinem Haus aufhielt .
Pia gähnte. Sie hatte für heute genug getan, auch wenn die letzte Aktion ein glatter Reinfall gewesen war. Sie beendete den Rundgang, schaltete die Lampe aus und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Wagen.
Als sie die Privatstraße verließ, vernahm sie ein Knacken in den Büschen schräg hinter sich und meinte, eine geduckte Gestalt zu sehen, aber sie ging ruhig weiter, als hätte sie nichts gehört. Erst als sie außer Sichtweite war, kehrte sie um und lief im Schatten der Bäume zurück, so geräuschlos, wie es ihr möglich war. Als sie wieder in die Privatstraße bog, sah sie noch, wie zwei Personen über das Absperrband stiegen und den Weg zu Jörgs Haus hinaufliefen. Einen Moment blieben sie unter dem Vordach stehen. Dann trat einer von ihnen, ein schlanker Mann, wie es aussah, hervor und bewegte sich nah am Haus an der Vorderseite entlang. Dabei sah er sich immer wieder um. Als er um die Hausecke bog, winkte er der zweiten Person, ihm zu folgen. Den Bewegungen und der Statur nach zu urteilen, konnte es sich dabei ebenfalls um einen Mann, aber auch um eine große, schlanke Frau handeln. Pia folgte ihnen. Zum Glück trug sie flache Sandalen, deren Sohlen kaum Geräusche auf dem Pflaster verursachten. Die zwei Personen waren hinter dem Haus verschwunden. Waren es Jörg und seine Freundin? Wollte er einen Zugang von der Gartenseite aus nutzen, den die Beamten möglicherweise nicht versiegelt hatten? Vielleicht ignorierte Jörg auch das amtliche Siegel?
Doch nicht das Innere des Hauses war das Ziel der Eindringlinge, sondern die Büsche mit dem Erdhaufen daneben, wo auch der Bagger stand. Pia sah mehrmals ein Licht aufblitzen, das ausgehobenes Erdreich erhellte. Der Mann hatte wie sie selbst eine Taschenlampe dabei. Nun bereute Pia es, den Bereich um den Erdhaufen und den Bagger herum nicht näher untersucht zu haben. Gab es schon einen Zugang zu den Gängen, der groß genug für einen Menschen war? Bisher war sie davon ausgegangen, dass man nur den Roboter dort hatte hinunterlassen können.
Die zwei Gestalten bewegten sich tiefer in die Büsche hinein und waren in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Das Rascheln und die Schrittgeräusche verstummten. Damit hatte Pia nicht gerechnet. Waren die beiden auf dem Weg nach unten? Das war gefährlich! Sie könnten verschüttet werden!
Pia lief quer über das Grundstück und rief: »Stehen bleiben, Polizei!«
Als Antwort hörte sie ein leises »Scheiße!« und dann: »Los, weg hier!« Äste knackten, Laub raschelte, die Zweige und Blätter der Büsche gerieten in Bewegung, und die beiden Personen kletterten über den rückwärtigen Zaun, der den Garten zu einem unbebauten Grundstück dahinter abgrenzte.
Pia lief ihnen hinterher. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und sie spürte Sand in ihre Sandalen eindringen. Der Zaun war aus einem festen Drahtgitter gefertigt, die Maschen zu klein, als dass man sich dort mit dem Fuß hätte abstützen können. Pia zog sich hoch, schwang ein Bein hinüber, dann das andere. Der Rock ihres Kleides verhedderte sich. Hektisch riss sie daran, es ertönte ein unerfreuliches Ratschen, und die Beinfreiheit war größer als zuvor. Die beiden Eindringlinge waren jedoch nicht mehr zu sehen. Sie hatten das freie Grundstück hinter dem Zaun überquert und erreichten gerade die angrenzende Straße. Pia lief ihnen durch das hoch stehende Gras und über unebenen Untergrund hinterher. Sie stieß sich die Zehen an Gesteinsbrocken, die im Gras lagen, sah dann zu beiden Seiten die Straße hinunter, doch vergeblich. Sie kam zu spät. Pia beugte sich hinunter und rieb sich den linken Fuß. Ein Zehennagel war blutig .
Immerhin hatte sie vielleicht gerade ein unbefugtes Betreten des Gängesystems verhindert, womöglich gar das Verschüttetwerden zweier Menschen. Aber sie wusste nicht, wer die beiden gewesen waren, die sie überrascht hatte. Es konnten auch bloß neugierige Jugendliche gewesen sein …
Pia ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie wollte noch einen Blick auf den Erdaushub und einen möglichen Zugang daneben werfen. Sie überwand den Zaun, dieses Mal mit mehr Eleganz und ohne Verlust an Textilgewebe. Dann leuchtete sie mit der Taschenlampe umher. Während sie sich noch umsah, dachte sie daran, wie gefährlich dieses Unterfangen sein könnte. Wenn sich unter ihr Hohlräume befanden, konnte sie einstürzen und in eine sehr missliche Lage geraten, ohne dass es irgendjemand mitbekam. Doch es war das Risiko nicht wert, entschied sie. Sie würde gleich die örtliche Polizei verständigen, diese Nacht einen Blick auf das Grundstück zu haben, nur für den Fall, dass die Eindringlinge zurückkehrten.
Der Gedanke, das am besten telefonisch zu erledigen, da ihr seltsamer Aufzug sonst Fragen aufwerfen würde, lenkte Pia einen Moment ab. So sah sie den Schatten einer Gestalt links von sich erst, als diese direkt auf sie zukam. Jemand prallte mit Wucht gegen sie, Pia verkrallte sich in ihren Angreifer, und sie stürzte mit ihm zusammen zu Boden. Er war zu stark; seine Hände umschlossen sie wie Schraubzwingen, und er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt. Pia wehrte sich verbissen, wollte ihn anschreien, sich als Polizistin zu erkennen geben, doch er drückte ihr Gesicht gegen den weichen Erdboden. Er kämpfte lautlos, was es noch unheimlicher machte. Ehe sie sich’s versah, zog er ihre Arme nach hinten, sodass ein scharfer Schmerz in ihre Schultergelenke fuhr. Ihr Rücken wurde unterhalb der Schulterblätter hart gegen den Untergrund gedrückt. Der Aufprall und nun das Gewicht ließen die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie versuchte, sich loszureißen, doch der Angriff hatte sie völlig überrascht, sodass sie in diese verzweifelte Lage geraten war.
Pia drehte den Kopf zur Seite, spuckte Sand. »Stopp! Sofort loslassen!«, stieß sie keuchend hervor. Wenn sie sich als Polizistin zu erkennen gab, würde der Angreifer seine Bemühungen, sie außer Gefecht zu setzen, vielleicht sogar endgültig, womöglich verstärken.
Immerhin. Ihr Widersacher keuchte nun ebenfalls. Der Druck auf ihr Rückgrat ließ minimal nach, ihre Arme hielt er weiter nach oben verdreht, sodass sie glaubte, sie würden gleich aus den Schultergelenken springen. »Was tun Sie hier?«, stieß er barsch hervor.
Pia hatte das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Die Stimme kannte sie doch! Konnte es wahr sein? »Marten? Lass mich verdammt noch mal los!«