14. Kapitel
In der Dienstbesprechung am Montagmorgen trug Pia erstmals ihre vorläufigen Ergebnisse im Fall Welling den versammelten Kollegen des K1 vor. Sie hatte Glück, dass eine andere Ermittlung, an der sie nicht beteiligt gewesen war, gerade abgeschlossen wurde, sodass Rist ihr großzügig ihren Teamkollegen Broders und, wenn es absolut notwendig werden sollte, auch Juliane Timmermann zur Seite stellte.
Diese quittierte die Aussicht, Arbeitsanweisungen von Pia entgegennehmen zu müssen, mit einem genervten Schulterzucken. Broders grinste amüsiert.
»Dann frisch ans Werk«, sagte er, als sie zurück in ihrem Büro waren. »Wie gehen wir weiter vor?«
Auch Juliane war mitgekommen und hatte sich auf die Fensterbank gesetzt. Sie tippte auf ihrem Mobiltelefon herum. »Brauchst du mich schon? Ich hab noch einiges an Papierkram auf dem Schreibtisch, was ich gern zuerst erledigen würde.«
»Wie lange dauert das?«
Juliane sah auf. »Äh … ein paar Stunden bestimmt.«
»Also gut. Dann bist du erst ab morgen früh dabei. Wir besprechen aber nachher noch, was genau du dann machen wirst.«
Juliane nickte, warf die braunen Locken zurück und verließ das Büro.
»Damit hat sie nicht gerechnet«, sagte Broders.
»Ja. Auch wenn es ihr nicht gefällt, ich brauche sie. Sie
wird sich schon damit anfreunden. Immerhin ist es ein spannender Fall.«
»Nur leider wieder recht ländlich angesiedelt«, wandte Broders ein. »Du willst mich hoffentlich nicht in einem Kuhstall einsetzen?«
»Nein, ich schicke dich in die Kirche.« Pia lächelte. »Ein sehr netter Pastor. Hoffmann heißt er. Du wirst ihn mögen. Ich brauche als Erstes die Phantombilder von dem Mann am Grab. Ich habe heute Morgen schon mit Lorenzen gesprochen. Er ist bereit, sich einen Laptop zu schnappen und mit dir zu den Zeugen zu fahren, damit wir nicht Zeit mit endlosen Vorladungen ins Kommissariat vergeuden. Nebenbei sprichst du natürlich auch mit den Leuten. Ein bisschen Klatsch und Tratsch über die Ereignisse kann nicht schaden.«
»Versteht sich«, sagte Broders. Andreas Lorenzen war ihr Phantombildzeichner. Er zeichnete sehr gut mit Stift auf Papier, auch wenn er seit geraumer Zeit Computerprogramme für das Erstellen nutzte.
»Hier sind die Namen der beiden Personen, von denen ich weiß, dass sie den Mann auf dem Friedhof gesehen haben. Der Pastor und dann noch Anja Behrens, die Nachbarin der Wellings. Von der Familie waren leider alle bereits auf dem Weg ins Gasthaus, als der Unbekannte an der Grabstelle seinen Auftritt hatte. Also frag die beiden bitte, wer in dem Moment noch am Grab stand. Vielleicht hat ihn doch einer der Anwesenden erkannt. Es waren zu dem Zeitpunkt noch jede Menge Leute auf dem Friedhof. So viele, dass ich bei meiner kleinen Verfolgungsjagd kaum durchgekommen bin.«
Wenn ich den Mann mit der verspiegelten Sonnenbrille gefunden habe, bin ich ein ganzes Stück weiter, dachte Pia. Das
war kein Spinner. Er weiß etwas über Kirsten und ihren Tod, nur will er aus noch unbekannten Gründen nicht zur Polizei gehen …
Broders salutierte andeutungsweise. Wenigstens etwas, das klappte.
Sobald Juliane zu ihrer Verfügung stand, sollte sie sich über die Hintergründe des Stollensystems in Bodewind informieren. Im Internet war kaum etwas darüber zu finden. Das Rathaus von Bodewind war ein erster Ansatzpunkt, und in einer Kieler Tageszeitung war ein Artikel über die unterirdischen Gänge im Brombeerweg zu lesen gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen Journalisten und der Polizei war zwar nicht immer ganz einfach, trotzdem sollte Juliane in der Zeitungsredaktion mit den betreffenden Leuten reden und sehen, was dabei herauskam.
Pia wollte die Alibis der Familie Welling und der Nachbarn überprüfen. Der Melker, der Praktikant Paul, ebenso Leute in Anjas Bank waren zu befragen. Auch der mutmaßliche Mordanschlag auf Birte Welling musste untersucht werden. Da würde sie nach Zeugen suchen müssen.
Broders legte eine CD
mit klassischer Musik ein und fuhr bei blendendem Wetter die gewundene Straße nach Ahrensbök. Vor dem Pastorat hielt er an und betrachtete die Umgebung. Bei strahlend blauem Himmel und achtundzwanzig Grad war es im Schatten der Linden gut auszuhalten. Es wehte ein lauer Wind, die Vögel zwitscherten. Nirgends bellte ein Hund. Alles wirkte gepflegt und gediegen, so wie es Broders gefiel. Gleichwohl zog er das Leben in der Stadt vor. Das Landleben mochte er mehr als Idee von Ruhe, Frieden und selbst gebackenem Kirschkuchen. Die Kirschen idealerweise aus dem
eigenen Garten, aber selbstredend von jemand anders gepflückt und entsteint. Die ländliche Realität mit Güllegeruch von den Äckern, wenn man gerade die Wäsche draußen aufgehängt hatte, womöglich Fliegen in der Küche und riesigen Traktoren, die die Autofahrer behinderten und Dreck auf den schönen Straßen zurückließen, schreckte ihn ab. Doch hier vor dem Pastorat war die Welt in Ordnung: Töpfe mit Dahlien standen auf dem Treppenpodest. Es gab sogar einen alten, eisernen Fußabkratzer.
Broders hörte hinter sich eine Wagentür zuschlagen, und Andreas Lorenzen, der Phantombildzeichner, kam auf ihn zugelaufen. Er war ein schlaksiger Mann mit spärlichem, blondem Haar, das er wenige Millimeter kurz rasiert trug, wohl um nicht in den Verdacht zu geraten, er kämme sein Haar über kahle Stellen und wolle die Leute so täuschen. Sie begrüßten einander, und Broders klopfte an die zweiflügelige Kassettentür.
Pastor Hoffmann öffnete ihnen die Tür. »Herr Broders? Herr Lorenzen? Kommen Sie herein. Nett, Sie kennenzulernen. Ihre Kollegin Frau Korittki habe ich ja neulich schon auf einer Trauerfeier getroffen.«
Sie folgten dem Pastor, der trotz des warmen Wetters eine Cordhose, ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Pullover darüber trug, in eine geräumige Diele. Zu beiden Seiten gingen Türen ab, und es führte eine Treppe ins Obergeschoss, die in einer Galerie endete. Von der Decke im ersten Stock hing ein schmiedeeiserner Leuchter an einer Kette herab. Die Architektur erinnerte Broders ein wenig an die alten Lübecker Kaufmannshäuser.
»Was für ein schönes Pfarrhaus!«, sagte er.
»Ja, das Leben als Pastor hat seine Vorteile. Nur leider muss ich hier ausziehen und für meinen Nachfolger Platz
machen, wenn ich in Pension gehe.« Konrad Hoffmann hielt ihnen eine Tür auf. »Bitte treten Sie ein. Dies ist mein Büro für Traugespräche und Ähnliches.«
»Na, so ernst ist es noch nicht«, sagte Lorenzen grinsend.
Der Pastor deutete auf die Besucherstühle. »Möchten Sie einen Kaffee oder lieber Tee?«
»Kaffee bitte«, antworteten beide Polizeibeamte.
Die Kaffeezubereitung dauerte eine Weile, in der Lorenzen seinen Laptop aus dem Rucksack zog. Er schob kurzerhand ein paar Sachen auf dem Schreibtisch zusammen und baute sein Equipment großzügig darauf auf.
»Na, du traust dich was«, murmelte Broders.
»Sind wir zum Arbeiten hier oder zum Small Talk halten?«, entgegnete der Kollege.
Der Pastor schob einen Servierwagen herein, auf dem eine Thermoskanne sowie Milch und Zucker standen und drei Kaffeetassen auf ihren Untertassen klapperten. Er schenkte ihnen umständlich ein.
»Setzen Sie sich bitte hier vor den Bildschirm, Herr Pastor«, sagte Lorenzen. »Dann starte ich die Peepshow.«
»Die bitte was?«
»Sie schauen sich Bilder von Gesichtern an. Dabei können Sie jeweils zwischen verschiedenen Gesichtspartien wählen. Am Ende überarbeite ich das Ergebnis so lange, bis Sie der Meinung sind, dass wir die gesuchte Person gut getroffen haben.«
»Aber ich habe den Mann wirklich nur ganz kurz gesehen«, wandte Hoffmann ein. »Und er trug eine Sonnenbrille.«
»Ja, das sagten Sie schon am Telefon. Wir schauen einfach, wie weit wir kommen«, erwiderte Broders beruhigend. »Und danach plaudern wir noch ein wenig.«
Der Pastor warf ihm einen misstrauischen Blick zu
.
Eine Dreiviertelstunde später, in der Broders alle Buchtitel im Bücherschrank studiert und das Kalenderbild mit dem Sonnenuntergang an der Nordsee eingehend betrachtet hatte, nickte Lorenzen zufrieden. Er drehte den Bildschirm jetzt so, dass auch Broders ihn sehen konnte.
»Das ist unser Mann. Einmal mit Sonnenbrille, einmal, wie er ohne sie aussehen könnte.«
»Der hat ja nicht mal Haare«, versetzte Broders.
»Aber genau so sah er aus«, sagte der Pastor pikiert. »Wenn es Ihnen nicht gefällt …«
»Nein, alles wunderbar.« Broders hob beschwichtigend die Hände. Ein bisschen Bruce Willis war ja nicht schlecht.
»Mehr ist da nicht drin«, meinte Lorenzen. »Wenn der Mann keine besonderen Merkmale hat, ist es immer etwas schwieriger. Geschätztes Alter zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig. Circa eins achtzig groß, normale Statur … Das war doch richtig, oder?«
»So habe ich es wenigstens in Erinnerung. Aber es ging alles so schnell …«
»Ich nehme an, dass Sie recht viele der Anwesenden kannten. Wissen Sie, wer noch in der Nähe stand, als es zu der Szene kam?«, fragte Broders, wie Pia es ihm aufgetragen hatte.
»Ich kannte einige. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Menschen sind viel mobiler als früher und wechseln öfter ihren Wohnort. Daher waren auch sehr viele Fremde bei dem Begräbnis. Immerhin war Kirsten Welling auch eine Zugezogene.«
»Sie erinnern sich an niemanden, der den Mann auch gesehen hat?«
»Nein.«
»Hatte der Unbekannte vielleicht eine markante Stimme,
einen Dialekt, irgendwas, das ihn sonst noch identifizieren könnte?«
Der Pastor schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich mal.« Lorenzen klappte den Computer zu. »Wir sehen uns gleich noch bei der nächsten Zeugin, oder?«
»Ja, aber erst um zwei«, sagte Broders mit einem Blick auf die Uhr. »Früher konnte sie nicht.«
»Dann kann ich mir vorher noch was zwischen die Kiemen schieben«, meinte der Kollege.
»Es gibt noch eine Zeugin?«, wollte der Pastor wissen.
»Meine Kollegin sagt, es standen jede Menge Leute am Grab herum«, antwortete Broders. »Je mehr Beschreibungen wir bekommen, desto genauer wird’s …«
»Ich fürchte, ich war Ihnen keine große Hilfe.«
»Sie waren toll«, erklärte Lorenzen jovial. »Ich warte draußen, wenn’s recht ist.«
»Wer ist denn die andere Zeugin?«, fragte der Pastor, als sie sich danach zu zweit in seinem Büro gegenübersaßen.
»Darüber darf ich leider keine Auskunft geben.«
»Ja, das verstehe ich natürlich. Ich dachte nur …« Pastor Hoffmann schüttelte den Kopf.
»Was dachten Sie?«
»Dass dieser Mann auf dem Friedhof Kirsten Welling doch wahrscheinlich gekannt hat. Warum hätte er sonst so eine Behauptung aufstellen sollen?«
Broders fielen ein paar Gründe ein, die mit »Ärger verursachen« anfingen und »sich wichtigmachen« aufhörten.
»Man müsste die Leute fragen, die sie gut kannten, von früher, meine ich«, fuhr Konrad Hoffmann fort
.
»Kirstens Familie war leider schon nicht mehr auf dem Friedhof, als sich der Zwischenfall ereignete«, sagte Broders. »Und ansonsten war da noch die Kommissarin selbst, die eine Schulfreundin von Kirsten war. Sie kann den Mann aber auch nicht identifizieren. Von anderen alten Bekannten oder Freunden von Kristen Welling wissen wir nicht.«
»Ja, ja, das ist schwierig. Sie war ein wenig zurückhaltend. Das bereitet Probleme … auf dem Dorf.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja. Die alteingesessenen Familien wissen alles voneinander, oder sie denken das zumindest. Das gibt Sicherheit im Umgang, man fühlt sich geborgener in einem festen sozialen Gefüge. Jeder hat seinen Platz.«
Broders nickte. »Das kann ich mir vorstellen.« Nein, konnte er nicht! Es wäre ihm ein Graus.
»Wenn jemand Neues hinzukommt, beispielsweise durch eine Heirat, dann versuchen die anderen, die Person möglichst schnell einzuschätzen. Sie sind freundlich und suchen den Kontakt, Einladungen werden ausgesprochen oder Besuche gemacht. Alle sind aber auch vorsichtig, weil sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Es kommt dann ganz darauf an, wie der Neuling reagiert.«
»Wie hat Kirsten Welling reagiert?«
»Nun ja …« Der Pastor sah auf seine weichen, weißen Hände. »Sie wollte das Spiel nicht so recht mitspielen. Dabei hat man es ihr leicht gemacht – als Harros Frau. Sie hat in eine der angesehenen Familien im Dorf eingeheiratet.«
»Vielleicht lag es auch daran, dass sie die zweite Ehefrau war?«
»Möglich. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Es lag mehr an Kirsten. Sie hat nichts von sich erzählt. Sie tat zwar in etwa das, was man so von ihr erwartete, und bestritt höfliche
Konversation, doch am Ende waren die anderen so schlau wie zuvor. Sie war aus Kiel zu Harro gezogen. Sie hatten sich kennengelernt, als sie mit einer Fahrradpanne im Dorf liegen geblieben war. Sie arbeitete bei einer Versicherung. Harro war ihr erster Mann, sie hatten – noch – keine Kinder. Der eine oder andere hat gesehen, dass sie gern und oft joggen ging. Und bei diesem Wissensstand blieb es bis zu ihrem Tod.«
»Hat sie sich nicht mit jemandem in der Nachbarschaft angefreundet?« Broders fand es erstaunlich, was der Pastor alles wusste, obwohl er doch selbst in der nächsten Kleinstadt wohnte.
»Kirsten hat mir mal ihr Leid geklagt, das arme Kind. Sie fühlte sich einsam auf dem Hof. Mit ihren Schwiegereltern hat sie sich nicht gut verstanden, und Harro arbeitet sehr viel. Außerdem hat er von jeher sein gewachsenes Umfeld. Er ist in der Freiwilligen Feuerwehr und im Dorfverschönerungsverein aktiv, und er spielt Fußball.«
»Klingt nach einem umfangreichen Programm. Und Kirsten hatte nichts dergleichen?«
»Sie hatte ihre Arbeit mit ein paar netten Kollegen, wie sie sagte. Sie trieb etwas Sport, allerdings nur für sich, also nicht in einem Studio, einem Verein oder so. Und sie hatte kaum Kontakt zu ihrer eigenen Familie.«
»Hat sie mal erwähnt, warum das so ist?«
»Nein. So ein Vertrauen haben wir in der begrenzten Zeit nicht zueinander aufgebaut. Sie war auch keine Kirchgängerin. Die wenigsten jüngeren Leute sind das. Auch meine Vorschläge, mal zu unserem Chor zu kommen oder sich anderswo zu engagieren, hat sie nicht angenommen.«
Broders nickte. »Nun ja, vielleicht hätte sie sich noch eingewöhnt, wenn sie etwas mehr Zeit gehabt hätte.«
Der Pastor nickte, doch seine Augen blickten kühl. »Das
ist zwar möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich mache mir, wenn ich ehrlich bin, Vorwürfe, jetzt, da sie tot ist.«
Broders blieb scheinbar entspannt sitzen. »Inwiefern?«
»Wenn es kein Unfall war, wie der Mann am Grab sagte, dann ist sie vielleicht ins Wasser gegangen. Womöglich war sie viel unglücklicher, als ich geahnt habe. Und ich habe ihr nicht geholfen.«
»Sie denken, sie könnte Suizid begangen haben?«
»Es ist doch möglich und auch nicht ganz unwahrscheinlich, oder? Ich hätte es erkennen und ihr Hilfsmöglichkeiten aufzeigen müssen. Ich hätte sie wenigstens auf einen Psychologen oder eine Selbsthilfegruppe verweisen sollen, wenn sie schon keinen christlichen Beistand wollte.«
»Glauben Sie, dass Kirsten Welling Depressionen hatte?«
»Nein, nicht unbedingt. Etwas hat sie belastet, das trifft es eher. Ich hatte den Eindruck, dass sie einsam ist, auch in Gesellschaft, und Dinge lieber mit sich selbst ausmacht. Vielleicht hat sie sich unzureichend gefühlt oder … schuldig.«
Broders musterte den Pastor. »Tatsächlich?«
»Da war etwas, das ihre Seele verdunkelt hat.«
Bei dieser Formulierung fühlte Broders einen leichten Kopfschmerz.