16. Kapitel
Das Erste, was Broders von Anja Behrens zu sehen bekam, war ihr leuchtend orangefarbenes Hinterteil, das über die Hecke ragte.
»Hallo? Sind Sie Frau Behrens?«
Die Frau richtete sich aus dem Beet auf, in dem sie gerade arbeitete, und wischte sich mit dem nackten Arm übers Gesicht. »Oh, hallo. Sie sind schon da? Ich hab erst in einer Viertelstunde mit Ihnen gerechnet. Aber kommen Sie rein.«
Die Gartenpforte quietschte, und er betrat mit Lorenzen in seinem Windschatten den Vorgarten. Es blühte und grünte, doch diesmal ließ Broders sich nicht täuschen. Dieses war nicht seine natürliche Umgebung.
»Mein Kollege, Andreas Lorenzen, zeichnet schneller, als ich ahnen konnte.«
Lorenzen nickte Anja Behrens zu.
»Oh, na gut. Wollen wir uns auf die Terrasse setzen bei dem schönen Wetter oder besser reingehen?«
»Reingehen«, sagten Broders und Lorenzen einhellig.
»Dein Arsch ist nass«, raunte ihm der Kollege auf dem Weg ins Haus von hinten zu. Broders ignorierte ihn.
Anja Behrens führte sie in die Küche. Die Stühle hatten eine Sitzfläche aus Holz, bemerkte er erleichtert. Die Frau holte ungefragt Gläser und eine Flasche Mineralwasser und stellte sie auf den Tisch. Es folgte ein Teller mit Keksen mit dicken Schokoladenstückchen darin. So langsam wurde sie ihm richtig sympathisch
.
»Fangen wir mit dem Phantombild an?«, fragte Lorenzen. »Ich hab gleich noch einen Termin in Kiel.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das kann«, wandte Anja Behrens ein. »In Kunst war ich immer eine totale Niete.«
Lorenzen klappte sein Notebook auf und platzierte es so, dass auch Anja Behrens den Bildschirm sehen konnte. Es folgte das gleiche Spiel wie bei Pastor Hoffmann, wobei sie länger überlegte und unsicherer war als der Kirchenmann, welche Kinnpartie die richtige und welches Ohr das passende war …
In Ermangelung von Kalenderbildern und Buchrücken, die er hätte lesen können, überlegte Broders, was er für das Abendessen einkaufen sollte.
»Da haben wir es.« Lorenzen zeigte ihm das Ergebnis seiner Arbeit.
»Das ist ja ein völlig anderer!«, stieß Broders hervor.
»Das ist doch meistens so. Zwei Zeugen. Zwei Wahrnehmungen. Zwei Aussagen.«
»Und wie sollen wir ihn da je finden?«
»Ich hab ja gleich gesagt, dass ich dafür keine Begabung habe«, erklärte Anja Behrens mit versteinerter Miene.
»Alles gut. Warten Sie mal.« Lorenzen tippte wieder. »So, was meinen Sie dazu?« Er drehte den Laptop zu ihr.
Sie runzelte die Stirn. »Nein. So sah er nicht aus. Das erste Bild hat ihn schon ganz gut getroffen.«
»Was ist das?«, wollte Broders wissen. Zumindest war das nicht mehr das Gesicht von Bruce Willis.
»Eine Art Mittelwert aus beiden Bildern«, sagte Lorenzen. Er zuckte mit den Schultern. »Hätte ja klappen können.«
Broders stöhnte innerlich. Es war typisch. Da saß er hier für nichts und wieder nichts.
Lorenzen verabschiedete sich
.
Anja Behrens strich sich mit einer verlegenen Geste eine Haarsträhne zurück. Das Licht fiel durch das Küchenfenster von hinten auf ihren Schopf und ließ ihn kupferrot leuchten. Wäre sie nicht so dünn und hätte nicht diesen unzufriedenen Ausdruck in den Augen und um den Mund herum, wäre sie eine attraktive Frau. Na gut, an der schmutzigen orangefarbenen Hose und dem hellblau-weiß gestreiften Poloshirt könnte sie auch etwas ändern …
Broders unterdrückte ein Seufzen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Phantombild genommen haben, Frau Behrens. Wir suchen diesen Mann sehr dringend. Ist Ihnen in der Zwischenzeit vielleicht noch etwas zu dem Vorfall auf dem Friedhof eingefallen?«
»Nein. Ich bin dem Mann noch nie zuvor begegnet. Da bin ich mir sicher.«
»Erinnern Sie sich, wer sonst zu dem Zeitpunkt noch am Grab stand und ihn gesehen haben könnte?«
Sie runzelte die Stirn. »Leider nicht.«
»Hat Kirsten Welling mal irgendwelche Bekannten erwähnt, die sie kürzlich kontaktiert haben? Hatte sie Angst vor irgendwem?«
»Nein. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber so vertraut waren wir nicht miteinander.«
»Ich dachte, in einem Dorf, so in direkter Nachbarschaft …«
Sie lachte auf. »Das ist doch eine Mär. Das intakte Dorf gibt es nicht mehr. Hier leben die Leute nicht mehr, sie schlafen nur noch hier. Sie wollen bloß im Grünen wohnen und niedrige Grundstückspreise. Von der Dorfgemeinschaft ist nicht mehr viel übrig. Die Freiwillige Feuerwehr kann bald schließen, weil sich niemand mehr dazu bereit erklärt mitzumachen. Alles geht den Bach runter …
«
»Gibt es hier auch einen Dorfverschönerungsverein?«, fragte Broders mit unschuldiger Miene. »Oder Sportgruppen?«
»Ja. Ich leite zwei Kurse im Gemeinschaftshaus«, sagte Anja Behrens. »Und den Dorfverschönerungsverein gibt es auch. Aber wenn Sie mich fragen, ist das mehr ein Tratsch- und Trinkverein.«
»Sie sind nicht Mitglied?«
»Nein.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Doch ich war es mal, das gebe ich zu. Ich wollte wirklich etwas für Düstersee erreichen, aber dann kamen Leute, die … Ach, das ist nicht von Belang.«
»Doch, doch. Es ist spannend, was Sie erzählen. Wissen Sie, ich wohne mitten in der Stadt und frage mich manchmal, ob ich nicht lieber aufs Dorf ziehen sollte.« Broders fürchtete, dass seine Nase gerade drei Zentimeter länger wurde, so schamlos, wie er log.
Sie entspannte sich ein wenig. »Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen: Auf dem Dorf ist es angenehmer. Ich arbeite in Kiel und bin froh, wenn ich Feierabend habe und wieder hier rausfahren kann. Aber sie haben dann längere Wege. Und Sie müssen Gartenarbeit lieben …«
Spätestens jetzt gestorben, dachte Broders. Laut sagte er: »Das will natürlich gut überlegt sein. Doch wenn man so einem Verein beitritt wie dem Dorfverschönerungsverein, um neue Leute kennenzulernen und sich einzubringen in die Gemeinschaft, dann würde ich doch meinen, dass da alle an einem Strang ziehen.«
»Leider nein.« Wieder presste sie die Lippen aufeinander. »Wenn da Frauen kommen, nur um den Männern schöne Augen zu machen, dann vergiftet das die Atmosphäre.«
»Oh, wirklich?
«
»Ja, so war es. Ich bin dann ausgetreten, weil ich das Geschleime und Gesäusel nicht gut vertrage.«
»Das klingt ja richtig unangenehm. Wer war das?« Broders hielt die Luft an. Es war eine Gratwanderung, denn Anja Behrens kämpfte offensichtlich mit sich. Zum einen war da die Vorsicht, die Angst, als Klatschtante dazustehen und der Polizei zu viel zu verraten. Zum anderen spürte er aber ihr Bedürfnis, sich über ein, wie sie fand, erlittenes Unrecht Luft zu machen.
»Es ging um Harro Welling, Kirstens Mann. Wenn Sie schon ihretwegen ermitteln, müssen Sie es auch wissen.«
»Was wissen?«
»Seine Ex ist wieder hinter ihm her. Birte Welling. Sie ist in den Dorfverschönerungsverein eingetreten, obwohl sie nicht einmal mehr hier wohnt!«
»Oh. Sind Sie da sicher?«
»Natürlich. Ich war ja dabei. Sie ist nur hingegangen, weil sie wusste, dass sie Harro da allein antrifft, weil Kirsten sich nichts aus solchen Treffen macht.« Ihre Wangen waren nun flammend rot.
»Das klingt recht hinterlistig. Oder war es vielleicht doch ein Zufall?«
»Birte hat keine Ideen und keinerlei Interesse an unseren Plänen, aber bei den freiwilligen Arbeitseinsätzen will sie mitmachen. Als ›sportlicher Ausgleich an der frischen Luft‹, wie sie behauptet.«
»Und was sagt Harro Welling dazu?«
»Männer sind ja so was von naiv, wenn es um Frauen geht. Ich habe ihn gewarnt, doch Harro hat nicht auf mich gehört. Er denkt tatsächlich, Birte habe plötzlich ihr Herz für Düstersee entdeckt und wolle mit uns den Maibaum aufstellen.
«
»Waren Sie dabei, als Birte Welling im Dorf nach so einem Treffen beinahe von einem Auto angefahren worden ist?«
»Ach, das. Auch so ein Ding von ihr. Die Versammlung war gerade zu Ende. Harro war mit dem Auto da. Sein Hof und die Häuser hier liegen ja etwas außerhalb vom Dorfkern, und wenn es dunkel ist und regnet, will man nicht unbedingt zu Fuß gehen. Ich saß auf dem Beifahrersitz, er am Steuer, und er wollte gerade losfahren. Da kam Birte und klopfte gegen das Fenster. Er ließ die Scheibe herunter, und sie verwickelte ihn in ein total überflüssiges Gespräch. Dass ich mit in seinem Wagen saß und von ihm nach Hause gefahren werden sollte, ignorierte sie vollständig. Das heißt, eigentlich war es sogar Kirstens Wagen. Sie fuhr einen Corsa, er hat einen Audi. Für die kurze Strecke nimmt man natürlich eher den Kleinwagen. Ich sah keine Scheinwerfer im Rückspiegel. Ich hörte nur, dass auf einmal ein Auto von hinten kam. Birte schrie auf und presste sich an die Fahrertür. Der Wagen raste einfach an uns vorbei. Birte behauptete dann, er habe sie gestreift.«
»Konnten Sie sehen, wie dicht das Auto an ihr vorbeigefahren ist?« Broders unterdrückte die Begeisterung in seiner Stimme. Endlich gab es mal etwas Handfestes, das er notieren konnte. Pia würde erfreut sein.
»Nein. Es ging zu schnell.«
»Und war das Auto beleuchtet oder nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, der hatte vergessen, seine Scheinwerfer anzustellen.«
»Okay. Daran werden Harro oder Birte Welling sich ja erinnern.«
»Ich glaube, Harro sagte so etwas wie: ›Nicht mal Licht hatte der Penner an!‹ Er stieg aus und fragte Birte mehrfach, ob ihr auch nichts passiert sei. Sie hat die Situation ausgenutzt
und laut geschluchzt. Sie behauptete, dass sie beinahe überfahren worden wäre. Dabei hat sie sich an Harro gelehnt, sodass er sie umarmen musste. Da ihr offenkundig nichts passiert war, musste sie ihn irgendwann aber wieder freigeben und zu ihrem Auto gehen. Mich hatte sie gar nicht beachtet.« Sie schlug die Augen nieder. »Es war mein letzter Abend im Dorfverschönerungsverein.«
Nachdem Susanne Thomsen gegangen war, besprachen Pia und Alex die Ergebnisse.
»Ist die Leiche schon geborgen?«, fragte Pia.
»Nein. Der Roboter kann uns dabei ja leider herzlich wenig helfen. Und solange Einsturzgefahr besteht, werden wir auch kein Team hinunterschicken. Der Plan sieht so aus, dass wir das Loch im Garten der Thomsens vergrößern und versuchen, uns der Leiche von oben zu nähern.«
»Wo genau liegt die denn?«
»Quasi auf der Grenze zwischen der Außenwand des Wohnhauses und der Terrasse.«
Pia erinnerte sich an die Terrasse aus Waschbetonsteinen. »Der oder die Täter haben damals möglicherweise die Terrassenplatten hochgenommen und ihr Opfer darunter begraben«, überlegte sie.
»Ja, theoretisch ist das vielleicht möglich«, sagte Alex. »Aber der Leichnam liegt sehr tief und auf einer schrägen Ebene. Und falls es tatsächlich der Leichnam von Richard Thomsen ist: Wer begräbt den toten Mann oder Vater unter seiner Terrasse, wo er sich später zum Grillen hinsetzt?«
»Sehr schwer vorstellbar«, gab Pia zu.
»Das alles spricht eher dafür, dass die Bewohner des Hauses unschuldig sind. Doch eigentlich hätten sie wohl
mitbekommen müssen, wenn ihre Terrasse auseinandergenommen worden wäre, um eine Leiche darunter zu begraben.«
»Es könnte nachts passiert sein. Oder als die Thomsens mal ein paar Tage lang nicht zu Hause waren. Aber dann handelt es sich bei dem Toten wohl eher nicht um Richard Thomsen.«
»Oder der Zeitpunkt seines Todes stimmt nicht mit dem seines Verschwindens überein. Oder die Leiche wurde irgendwo zwischengelagert.«
»Der Rechtsmediziner hat übrigens schon einen Blick auf unsere Kameraaufzeichnung der Leiche geworfen. Die Todeszeitpunktbestimmung ist ja immer heikel. Wenn der Todeszeitpunkt schon etwas länger zurückliegt, legen sie sich ja nur ungern fest. Doch der Rechtsmediziner sagt, es könne sich auch um einen Todesfall aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs handeln.«
»Das wäre aber schon ein komischer Zufall.« Pia starrte in ihren leeren Kaffeebecher. »Habt ihr inzwischen herausgefunden, wer sich am späten Samstagabend auf dem Grundstück der Thomsens herumgetrieben hat?«, fragte sie dann. Marten hatte ihr gesagt, er würde die
BKI
Kiel über den Vorfall unterrichten.
Alex kniff die Augen zusammen. »Ich hab gehört, was dort Samstagnacht passiert ist. Was hast du denn dort gemacht?«
»Ich habe nach Jörg Thomsen gesucht. Niemand wusste, wo er untergekommen ist. Ich dachte, er wohnt vielleicht heimlich weiter in seinem Haus. Stattdessen hab ich zwei Leute im Garten an der Öffnung zu dem Gängesystem beobachtet.«
»Marten Unruh vermutet, dass es nur neugierige Jugendliche waren, die du da aufgeschreckt hast.«
»Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre vielleicht einer von ihnen eingestürzt. Das Gelände ist nicht umsonst abgesperrt.
«
»Aber es ist nicht unbedingt deine Aufgabe, das Betreten zu verhindern.«
»Wegschauen konnte ich allerdings auch nicht.«
Er nickte. »Jörg Thomsen war also nicht dort?«
»Ich konnte zumindest keine Anzeichen dafür entdecken. Ich bin dann den zwei Eindringlingen gefolgt, doch sie sind mir entwischt. Kurz darauf bin ich mit Marten Unruh zusammengestoßen. Inwiefern ist er eigentlich mit dem Fall betraut?«
»Dazu kann ich nicht viel sagen.«
»Arbeitet er mit uns zusammen oder nicht?«
»Nicht direkt. Er ist in einer anderen Abteilung, die sich nur peripher mit unseren Ermittlungen befasst. Es hat dort eine Überschneidung gegeben.«
»Was ist das für eine Abteilung?«
»Auch das kann ich dir nicht sagen.«
»So etwas wie die berühmten X-Akten?«
»Ja. Nur ohne Außerirdische.«
Pia unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen. Es war sicher nicht Alex’ Entscheidung, sie im Unklaren zu lassen.
Das Telefon läutete. Jörg Thomsen war eingetroffen und wurde gerade nach oben begleitet.