20. Kapitel
Zwei Stunden lang berichtete Peter Minsen mit ruhiger Stimme, was sich seit dem Jahr 2000 in der von ihm geleiteten Entwicklungsabteilung bei KWG zugetragen hatte. Die Antriebstechnik für U-Boote, die damals bei KWG ausgetüftelt wurde, war für konventionell betriebene U-Boote gedacht, während die Großmächte fast ausschließlich auf atomare Antriebsformen setzten, erläuterte Minsen die Ausgangslage. In Deutschland beschäftigte man sich bei KWG mit der Entwicklung von außenluftunabhängigen Antriebsanlagen. Es ging laut Peter Minsen dabei besonders um Brennstoffzellen-Antriebe, auf die sich unter anderem Richard Thomsen spezialisiert hatte. Gemeinsam mit zwei Kollegen, Andreas Brinkmann und Werner Kulisch, die beide etwas jünger als Thomsen waren, entwickelte er einen besonders effizienten neuen Brennstoffzellen-Antrieb. Minsen berichtete immer ausführlicher über U-Boot-Klassen und Brennstoffzellen, sodass Alex Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen.
»Wenn Richard Thomsen ein so herausragender Ingenieur war, wie Sie es darstellen, wieso wurde er dann nicht entsprechend befördert und auch bezahlt?«, fragte Marten. »Immerhin waren Sie sein Vorgesetzter. Sie hatten doch etwas dazu zu sagen.«
Minsen zuckte mit den Schultern. »Ich konnte das nicht allein entscheiden. Und oftmals gewinnt halt der, der die besten Verbindungen hat oder der am lautesten schreit. In diesem Fall galt sein Kollege Andreas Brinkmann als das Wunderkind, und er wurde befördert. Die anderen beiden gingen dabei leer aus. Richard war frustriert und ließ in seiner Arbeitsleistung nach. Wir hatten mehrere Personalgespräche, in denen er betonte, dass die Erfolge im Wesentlichen auf seine Arbeit zurückzuführen seien, nicht auf Brinkmanns. Er konnte es nur nicht beweisen, und letztlich interessierte das im Vorstand auch niemanden, solange die Ergebnisse stimmten. Mit der Zeit bekam ich den Eindruck, dass Richard Thomsen in Zukunft lieber segeln gehen wollte, wenn er nicht das bekäme, was er sich vorstellte.«
»Und der Dritte im Bunde, Werner Kulisch?«, hakte Marten nach.
Minsen trank seinen Whisky in einem Zug aus. »Das wissen Sie bestimmt schon. Der verschwand ebenfalls.«
Alex schwirrte der Kopf. Doch Marten nickte.
»Werner Kulisch ist nach Richard Thomsens Verschwinden auch nicht mehr zur Arbeit erschienen. Er hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen. Doch er kehrte danach nicht in die Abteilung zurück. Da er allein lebte, keine Familie und wohl auch kaum Freunde hatte, erregte der Umstand, dass er sich aus seinem Lebensumfeld – wie es so schön heißt – entfernt hat, weniger Aufsehen. Es hieß später sogar, dass er entweder mit Richard Thomsen mitgesegelt sei und sie in gemeinsamer Gefahr ums Leben gekommen seien. Dafür gibt es allerdings keine Zeugen. Wie gesagt, Thomsen wurde ja in der Förde noch auf seinem Boot gesehen, Kulisch jedoch nicht. Die andere, inoffiziell kommunizierte Lösung war eine ganz andere.« Er zögerte einen Augenblick. Ein Windstoß rüttelte an der Markise. Minsen zuckte zusammen, ging an den Rand der Terrasse und blickte prüfend über sein Grundstück. Wenn er es tat, um die Spannung zu erhöhen, so war er erfolgreich .
Alex lehnte sich erwartungsvoll nach vorne. Aus dem Augenwinkel sah er, wie auch Martens Haltung sich anspannte.
Minsen kam wieder zurück an den Tisch. »Ich will es mal vorsichtig formulieren«, setzte er neu an. »Zumindest Werner Kulisch könnte ab einem bestimmten Zeitpunkt in die eigene Tasche gewirtschaftet und unser Wissen weitergegeben haben.«
»Moment mal«, entfuhr es Alex. »Sie reden von Spionage?« Allmählich wurde ihm klar, warum Marten Unruh vom LKA bei den Ermittlungen mit von der Partie war.
»Junger Mann«, erwiderte Minsen mit hochgezogener Augenbraue. »Wenn man im Bereich der Wehrtechnik tätig ist, ist Spionage etwas, mit dem Sie sich tagtäglich auseinandersetzen müssen. Das fängt schon am Werkstor an, wo sie gefilzt werden wie nur was. Spätestens seit dem ISPS -Code war das alles überhaupt nicht mehr lustig.«
»Was ist das für ein Code?«, fragte Alex, der sich gedanklich nicht abhängen lassen wollte.
»Das ist der ›International Ship and Port Facility Security Code‹, kurz › ISPS -Code‹ genannt. Es geht um die Gefahrenabwehr bei Schiffen und Hafenanlagen, an denen Schiffe für Auslandsfahrten abgefertigt werden. Kurz gesagt will man unter anderem damit verhindern, dass Schiffe oder Container zum Transport gefährlicher Waren oder als Bomben ›missbraucht‹ werden. Spätestens seit dem elften September 2001 wurde die Dringlichkeit solcher Maßnahmen ja mehr als deutlich. Wir bei KWG haben das natürlich hautnah zu spüren bekommen«, referierte Minsen mit schon etwas schwerer Zunge.
»Und Sie halten es für möglich, dass Richard Thomsen mit Kulisch gemeinsame Sache gemacht hat?«, lenkte Marten die Ausführungen zurück zu ihrem Thema .
»Ja, sicher.« Peter Minsen schenkte sich schwungvoll nach. »So ein neuartiger Antrieb ist Millionen wert für andere Werften oder …«
»… andere Mächte«, ergänzte Unruh.
»Moment mal«, sagte Alex. »Wir reden hier von Landesverrat.«
»Ganz genau, Herr Kollege«, bestätigte Marten ungeduldig.
»Einige von KWG glauben, natürlich ganz inoffiziell, dass die beiden ihr Wissen verkauft und sich abgesetzt haben, als ihnen die Sache zu heiß geworden ist«, fuhr Minsen ungerührt fort. Er trank noch einen kräftigen Schluck und blickte in sein schon wieder halb leeres Glas. »Kulisch könnte für den Fall vorgesorgt und bereits etwaige Zahlungen ins Ausland transferiert haben. Ähnlich könnte Richard Thomsen es natürlich auch gemacht haben. Dafür spricht, dass die Gelder, die die beiden für ihre Spionagetätigkeiten doch vermutlich erhalten haben, nie irgendwo aufgetaucht sind. Oder aber«, Minsen zählte die Möglichkeiten an den Fingern ab, »Kulisch ist unabhängig von Richard Thomsens Verschwinden ums Leben gekommen. Sie können es sich aussuchen. Die offizielle Version lautete übrigens bei Kulisch ›Suizid ohne Leiche‹.«
»Und was ist Ihre Version?«
»Nachdem sie sich von ihrem Kollegen Andreas Brinkmann und letztlich der KWG ausgenutzt und schlecht behandelt fühlten, haben Kulisch und Thomsen ihre Konstruktionspläne in Sachen Antriebstechnik von U-Booten an den Meistbietenden verkauft.« Er trank sein Glas aus und sog zischend die Luft ein.
Alex starrte ihn an. »An die Konkurrenz?«
»Ja, so könnte man sagen. Und ich nehme weiterhin an, dass die Pläne ins Ausland gingen. Obwohl man ihnen beiden keine entsprechenden Kontakte nachweisen konnte, tauchten ihre Entwicklungsergebnisse in späteren Jahren angeblich in Südkorea auf. Von Chile war auch die Rede …«
Marten nickte. Es schien ihn nicht sonderlich zu überraschen.
»Es hat diesbezüglich sogar eine Untersuchung gegeben«, sagte Minsen. »Als dann KWG zu tief in der Sache mit drinsteckte, verfolgte man die Angelegenheit jedoch nicht weiter. Immerhin war die KWG ein wichtiger Arbeitgeber in Schleswig-Holstein. Aber sie brauchten ein paar Bauernopfer. Eines davon war ich. Ich hatte keine Ahnung, wie die Spionage genau abgelaufen ist, doch ein mögliches Leck aus meiner Abteilung heraus war natürlich mein Todesurteil. Leider wurde meine Erwartung, wenigstens zu erfahren, was sich zugetragen hatte und wie, enttäuscht. Bevor ich detailliert zu der Sache aussagen konnte, wurde mir der Mund verboten. Natürlich nur telefonisch und zu meinem Besten, und zum Besten meiner Familie …« Seine Augen waren nun glasig und seine Aussprache undeutlich: »Ich bin nicht stolz darauf, doch ich habe dann auch nichts Weiterführendes mehr gesagt. Was wohl niemanden störte. Sogar den Ermittlungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft wurde anscheinend von oberster Stelle ein Riegel vorgeschoben.« Minsen starrte mit abwesender Miene auf die beinahe leere Whiskyflasche auf dem Tisch.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Marten.
Peter Minsens Kopf bewegte sich hin und her wie ein großes Pendel. »Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Und das war schon viel zu viel«, fügte er nuschelnd hinzu.
»Glaubst du, was er uns erzählt hat?«, wollte Alex wissen, als sie wieder zu den Autos gingen. »Dass Richard Thomsen und Werner Kulisch Spione waren? Minsens Ausführungen und Verdächtigungen kommen mir ziemlich … fantasievoll vor. Und er war am Ende auch alles andere als nüchtern.«
» In vino veritas
Pia saß an ihrem Schreibtisch, als Schelling vom K6 sie anrief. Er war ein erfahrener Kollege von der Spurensicherung, und Pia hatte nach vielen gemeinsam bearbeiteten Fällen einen guten Draht zu ihm.
»Hej, Pia. Du bist doch diejenige, die den Fall Kirsten Welling noch mal ins Rollen gebracht hat, oder?«
»Ja, das stimmt. Kirsten ist ja eine Schulfreundin von mir gewesen. Ich war auf ihrer Beerdigung. Da bin ich überhaupt erst darauf aufmerksam geworden, dass eventuell etwas nicht stimmt.«
»Ich habe davon gehört. Der geheimnisvolle Unbekannte am Grab. Hast du schon in Erfahrung gebracht, wer das war?«
»Leider nein. Die Fahndung läuft. Wir haben von zwei Augenzeugen Phantombilder anfertigen lassen. Außerdem suchen wir über die Presse und die sozialen Medien.« Pia seufzte. »Noch ist nichts dabei herausgekommen.«
»Dafür hab ich eventuell etwas«, sagte Schelling auf seine unnachahmlich trockene Art.
»Und zwar?«
»Einen Ohrring. Oder einen Stecker, um genau zu sein. Den vorderen Teil eines silbernen Ohrsteckers mit einem kleinen Stein. Einem Rosenquarz.«
»Echt jetzt? Wo habt ihr ihn gefunden?«
»Moment, Moment. Lass mich das auskosten. Es ist eventuell sogar eine DNA -Spur daran. «
»Bitte, Schelling …«
»Also gut. Wir haben ihn an dem Wehr sichergestellt, wo Kirsten Welling ertrunken ist. Die genaue Stelle kann ich dir auf den Fotos zeigen. Er lag an der Böschung im Kies.«
»Dann kann er ebenso gut von dem Opfer stammen oder schon länger dort liegen, und irgendwer hat ihn da verloren«, sagte Pia ernüchtert.
»Ich habe mich danach schon erkundigt. Das Opfer hatte keine Ohrlöcher. Und was die Liegedauer des Steckers betrifft: Das verwendete Silber läuft nach einiger Zeit an. Meiner Einschätzung nach hat der Ohrstecker noch nicht sehr lange im Freien gelegen.«
»Was ist mit der DNA -Spur?«
»Ein Haar hat sich in einem der Silberdrähte verfangen. Der Steckerkopf sieht aus wie eine Blüte, die gebogenen Drähte sind die Blütenblätter. Das Haar dort zu finden ist ein ungeheurer Glücksfall, würde ich sagen. Mit Haarwurzel!«
»Okay. Das klingt wirklich gut«, räumte Pia ein. »Und welche Farbe hat das Haar?«
»Blond, leicht rötlich.«
»Moment, ich schicke dir eben per Mail ein Foto davon.«
Pia betrachtete den Ohrstecker auf dem Bild. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Stecker noch nie bewusst gesehen hatte. Der Schmuckstein war rund, hellrosa, hatte laut dem daneben abgebildeten Lineal einen Durchmesser von etwa sieben Millimetern und schimmerte matt. Die Fassung war als stilisierte Blüte aus gedrehtem Silberdraht gearbeitet. Nun verstand Pia, wie sich das Haar in den Windungen hatte verfangen können. Das Silber leuchtete hell und rein und war noch nicht angelaufen.
»Jetzt muss ich also nur noch die Besitzerin des Ohrsteckers finden und habe eine Tatverdächtige«, sagte Pia .
»Genau«, erwiderte Schelling. »Meine Vorarbeit ist mal wieder hervorragend. Was ihr da beim K1 macht, ist doch Kindergarten gegen das, was wir beim K6 alles leisten.«
»Ich weiß das auch wirklich zu schätzen«, sagte Pia. »Demnach könnte es sich um eine Täterin handeln. Falls dem so ist, fürchte ich nur, dass sie den anderen Ohrstecker entsorgt haben wird, als sie nach dem Mord feststellte, dass sie das Gegenstück verloren hat. Oder handelt es sich um ein besonders wertvolles Stück?«
»Nein. Ich bin kein Schmuckexperte, aber ich würde schätzen, der Stecker ist so fünfzig Euro wert, den verwendeten Materialien nach zu urteilen. 925er Sterlingsilber und ein Halbedelstein. Ich liefere übrigens nur die Fakten, was du daraus machst, ist deine Sache.«
»Wie lange dauert das mit der DNA -Analyse?«
»Eine knappe Woche.«
»Danke dir«, erwiderte Pia. »Ich kümmere mich darum.« Sie hatte eine Idee, wie sie mit dem Ohrring weiter vorgehen konnte.
Juliane saß an ihrem Schreibtisch. Sie sah erstaunt auf, als Pia nach kurzem Klopfen eintrat.
»Das muss Gedankenübertragung gewesen sein«, sagte sie. »Ich habe mich gerade gefragt, wie es mit der Ermittlung Welling vorangeht.«
»Es hat sich gerade etwas Neues ergeben«, berichtete Pia. Sie setzte ihre Kollegin ins Bild, ohne auf Broders’ Exkurs in die Welt der Rindergynäkologie einzugehen. Der würde sie massakrieren, wenn sie den anderen davon erzählte. »Und ich brauche jetzt deine Unterstützung. Die Spurensicherung hat in der Nähe des Fundorts von Kirsten Wellings Leiche einen Ohrring sichergestellt.« Sie reichte Juliane einen Ausdruck des Fotos. »Wir müssen wissen, wem der gehört hat.«
Juliane betrachtete das Foto. »Okay, der sieht recht ungewöhnlich aus. Hast du einen Tipp für mich, wo ich mit der Suche anfangen soll?«
»Bei allen, die mit Kirsten Welling zu tun hatten. Familie, Freunde, Bekannte und Nachbarn, Arbeitskollegen.«
»Na, vielen Dank!« Juliane grinste. »Und ich nehme an, es eilt.«
Erleichtert darüber, auf weniger Widerstand zu stoßen, als sie erwartet hatte, gab Pia ihr eine Liste mit den Namen der involvierten Personen, die sie im Laufe der Ermittlung zusammengetragen hatte. »Ich glaube, wir können bei dem Schmuckstück mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Frau als Trägerin ausgehen. Kirsten Welling hatte laut Schelling übrigens keine Ohrlöcher. Sie selbst hat den Ohrstecker also nicht getragen und dort verloren.«
»Also gut. Ich kümmere mich gleich morgen darum«, sagte Juliane.
Pia nickte. Im Hinausgehen zögerte sie. »Ich habe eine Idee. Ich war vor zwei Jahren auf Kirsten und Harro Wellings Hochzeit eingeladen. Es gab einen professionellen Fotografen, der den Ehrgeiz und wohl auch den Auftrag hatte, von allen Gästen Porträtaufnahmen zu erstellen.«
»Verstehe«, meinte Juliane. »Damit ist ein großer Teil der infrage kommenden Personen abgedeckt. Vorausgesetzt, die Besitzerin des Ohrrings hat diesen Ohrstecker auch zu der Hochzeitsfeier getragen. Weißt du zufällig noch, wer der Fotograf war?«
»Nein, aber Harro Welling wird es dir sagen können.«