21. Kapitel
Felix war noch kurz entschlossen zu einer kleinen Nachbarin zum Spielen gegangen, und Pia sollte ihn »frühestens in einer Stunde« dort abholen, hatte er sie gemahnt. Die Haushaltsarbeit war für heute so gut wie erledigt, also hatte sie unerwartet noch etwas Zeit für sich. Sie hatte doch endlich mal wieder laufen wollen … Einen Moment lang stand Pia unschlüssig in ihrer Küche und sah in den verhangenen Himmel hinaus … Ganz sicher drohte ein heftiger Gewitterschauer, oder etwa nicht? Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie sich einen Kaffee kochen und ihre private Post bearbeiten oder eine Runde joggen gehen? Die Erinnerungen daran, wie lange es her war und wie schlecht es um ihre Kondition bestellt war, gaben den Ausschlag, um den geifernden Köter »innerer Schweinehund« in seine Schranken zu weisen. Das letzte Mal war sie ihres Wissens in Dörnitz an der Ostsee gelaufen. Sie erinnerte sich genau an den Fall, der sie dorthin geführt hatte, nicht jedoch an das Datum. Schicksalsergeben zog sie sich ihre Laufsachen an und suchte ihre Joggingschuhe. Die fanden sich in der hintersten Ecke des Schuhschranks unter Felix’ Winterstiefeln und ihren Schlittschuhen.
Bevor sie es sich anders überlegte und doch lieber einen Kaffee kochte, womöglich die Schokoladen-Kokos-Taler dazu aus dem Küchenschrank holte, lief sie die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Sie joggte los in Richtung der Marienbrücke, wo sie die Bahngleise und den Stadtgraben überquerte. Beim
Hinauflaufen ging ihr Atem stoßweise, und ihre Füße fühlten sich an, als hätte sie Gewichte unter den Schuhen. Pia musste ihr ohnehin schon geringes Tempo noch weiter reduzieren. Die Brücke hinab ging es leichter, dahinter bog sie nach rechts zur Drehbrücke, über die sie die Altstadtinsel erreichte. Pia vermied es, hinüber zu den Mediadocks auf der Wallhalbinsel zu schauen, wo Lars seine Agentur gehabt hatte. Bewusst blickte sie die Engelsgrube hinauf, die der Dreh- und Angelpunkt eines ihrer ersten Fälle im K1 gewesen war. Sie lief weiter, am Hansemuseum vorbei, dessen Außenmauer hoch neben ihr aufragte, und bog nach rechts in die Kanalstraße ein, bevor sie die Hubbrücke erreichte. Eigentlich wollte sie einmal die Altstadt umrunden, doch je weiter sie lief, desto schwerer fühlten sich ihre Beine an. Reiß dich zusammen!, befahl sie sich. Das ist lächerlich. Du kannst laufen! Sie richtete sich auf, konzentrierte sich auf Haltung und Atmung. So war es schon besser … bis eine Gruppe Rentner sie joggenderweise auf dem Fußweg hinter dem Parkhaus am Burgtor überholte. Ein winziger Terrier, den sie mitführten, kläffte Pia an, bevor er Herrchen oder Frauchen auf seinen kurzen Beinen hinterherlief. Heute war jeder schneller als sie.
Es waren gerade mal geschätzte zwei Kilometer, die sie gelaufen war, und jeder Muskel tat ihr weh. Das würde nur besser werden, wenn sie wieder regelmäßig joggen ging. Ihr Körper signalisierte ihr gerade nur, dass er jetzt auf seine Fettreserven zurückgreifen musste, und das wollte er nicht!
Nach gut drei Kilometern, auf dem Fußweg zwischen dem Krähenteich und der Trave, war die Versuchung, der Quälerei ein Ende zu machen und das letzte Stück zu gehen, beinahe unwiderstehlich. Wieso hatte sie das mit ihrer Kondition so lange schleifen lassen? Sie bewunderte Kirsten für ihre Willensstärke, schon morgens vor der Arbeit laufen zu gehen.
Das schaffte man nur, wenn man es sehr regelmäßig tat. Immer zur gleichen Zeit. Kirstens Joggingtour war berechenbar gewesen!
Mit diesen Gedanken steigerte Pia ihr Tempo langsam wieder. Die Beine taten ihr weh wie bei einem grippalen Infekt, doch sie versuchte, es zu ignorieren. Über diesen Punkt musste sie hinauskommen, der Körper gewöhnte sich an die Belastung.
Kurz bevor sie wieder die Adlerstraße erreichte, wurde Pia schwindelig. Sie blieb stehen und stützte die Hände auf die Knie, atmete heftig und wartete ab, dass es besser würde.
»Mama, was hat die Frau?«, fragte ein Kleinkind im Buggy, das an ihr vorübergeschoben wurde. Es hielt ein großes Eis in der kleinen verschmierten Hand.
»Weiß ich nicht, Schätzchen«, sagte die Mutter, ohne von ihrem Handy aufzublicken.
»Mama, stirbt die Frau?«
Keine Antwort.
»Ich bin nur zu schnell gelaufen«, stieß Pia keuchend hervor. »Alles gut.«
Das Kind drehte sich im Buggy um, schleckte das Eis und sah sie mitleidig an, während die Mutter weiter auf ihrem Smartphone tippte. Mein Gott, rede mit deinem Kind!, dachte Pia.
Die restlichen hundert Meter trabte sie beinahe im Schritttempo. Sie hatte für gerade mal sechs Kilometer fünfundvierzig Minuten benötigt. Ihr Ausbilder wäre bei diesen Zeiten die Wände hochgegangen. Wie schnell war Kirsten gelaufen?, überlegte sie, während sie sich die Treppe in ihre Wohnung hochkämpfte. Sicherlich schneller als sie im Augenblick. Kirsten war gut im Training gewesen. Und wie schnell war Harro an der Mühle gewesen? Er machte
ebenfalls einen fitten Eindruck. Um die Alibis besser beurteilen zu können, würde sie selbst noch einmal zu der Mühle laufen müssen.
Nicht ahnend, wie räumlich nah ihm seine Kollegin gerade war und wie nah dem Tod, steuerte Broders zu dieser Zeit das Maklerbüro in der Lübecker Hüxstraße an, wo Birte Welling arbeitete. Er sah sich die angebotenen Häuser und Wohnungen an, die im Schaufenster mit Fotos und Texten angepriesen wurden. Dabei warf er durch das Glas einen Blick ins Innere des Geschäftsraums. Broders wusste, dass Birte Welling nicht da sein würde. Das hatte er vorher ausgekundschaftet.
Ein Mann Mitte zwanzig mit kinnlangen, nach hinten gegelten Haaren und einem bleistiftdünnen Bart, bekleidet mit einem weißen Hemd und einer dunklen Jeans, saß an einem der Schreibtische. Als Broders eintrat und sich umschaute, stand er nach einer Weile auf, umrundete eine deckenhohe Grünpflanze und trat mit einem professionellen Lächeln auf ihn zu. »Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Die Versuchung, sich als jemand auszugeben, der eine Immobilie kaufen wollte, war groß, denn als Broders sagte, wer er war, erlosch das Lächeln.
»Tut mir sehr leid. Frau Welling ist heute Abend nicht mehr im Hause. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
»Bestimmt können Sie das. Mit Birte Welling haben wir ja schon geredet. Es geht nur noch um eine Kleinigkeit. Ab wann Frau Welling neulich morgens hier im Büro war.« Broders nannte den Wochentag und das Datum. »Waren Sie an dem Morgen auch hier?«
»Oh. Das weiß ich nicht mehr. Ich müsste in meinem Terminkalender nachschauen. Wir sind alle viel unterwegs. Und
selbst wenn … Muss ich Ihnen diese Fragen eigentlich beantworten?«
Nein, das musste er nicht. Broders sehnte sich plötzlich nach den Zeiten, als Datenschutz noch nicht so in aller Leute Köpfe herumspukte. Als man der Polizei noch gern mit Rat und Tat zur Seite stand … Wann sollte das eigentlich gewesen sein?
»Im Moment kann ich Sie nicht zwingen, aber sobald wir Sie als Zeugen im Auftrag der Staatsanwaltschaft vorladen, sind Sie dazu verpflichtet. Sie sparen uns allen eine Menge Zeit und Geld, indem Sie meine Fragen beantworten, die uns helfen, Birte Welling auszuschließen.«
»Ach, so ist das.« Bei dem Wort »Geld« schienen ein paar Synapsen in seinem Gehirn zu funken. »Einen Moment bitte.«
Er verschwand hinter der riesigen Zimmerpflanze und kam mit einer Frau Anfang fünfzig wieder, die ein rosafarbenes Kostüm mit goldenen Knöpfen trug, die mit ihren Ringen und Goldketten korrespondierten. »Ich übernehme das. Danke dir, Frederick«, sagte sie und schenkte Broders ein Eintausend-Watt-Lächeln.
Sie führte ihn in ihr Büro, ließ sich seinen Polizeiausweis zeigen und schlug einen in falsches Krokoleder gebundenen pinkfarbenen Terminplaner auf. Dass sie ihre Termine noch in ein Buch schrieb, machte sie Broders schon beinahe sympathisch.
»Also, hier haben wir es schon. Ja, an dem Vormittag war Frau Welling im Büro. Später, um elf Uhr, hatte sie einen Termin mit einem Ehepaar, das ein Landhaus von mindestens fünfhundert Quadratmetern sucht …«
»Grundstück?«
»Nein, Wohnfläche. Reicht Ihnen das?
«
»Um wie viel Uhr morgens war Frau Welling denn hier?«
»So gegen neun Uhr.«
Demnach hätte es ausgereicht, wenn sie um halb neun in Ahrensbök oder Düstersee aufgebrochen wäre. Birte Welling hatte für den Todeszeitpunkt von Kirsten Welling kein Alibi. »Sie waren ebenfalls hier und haben Sie gesehen?«, fragte er die Maklerin trotzdem.
»Ja, ausnahmsweise. Normalerweise komme ich gegen elf Uhr vormittags. Als Ausgleich dafür, dass ich oft länger hier bin, wie Sie sehen, und viele Besichtigungstermine abends stattfinden.«
»Wie kommt es dann, dass Sie an dem Tag früher im Büro waren?«
»Weil Frau Welling mir gesagt hatte, dass sie morgens erst einmal einen Arzttermin hat und eventuell etwas später kommt als sonst. Bei Gynäkologen weiß man ja nie so genau, wie lange es dauert. Viele haben ihre Praxis nicht richtig im Griff.«
»Was meinen Sie damit?«
Sie schenkte ihm ein süffisantes Lächeln. »Sie gehen ja nicht zum Gynäkologen, sonst wüssten Sie, dass die Guten so beliebt sind wie Freibier im Fußballstadion. Die Wartezimmer sind entsprechend voll. Ich konnte mich einfach nicht darauf verlassen, dass Frau Welling hier pünktlich die Tür aufschließt.«
»Wussten Sie denn schon länger, dass Birte Welling an dem Tag einen Arzttermin hatte, oder war es etwas Akutes? Ich meine … Normalerweise legt man seine Arzttermine doch außerhalb seiner Arbeitszeit«, sagte Broders und hoffte, dass sie den Köder schluckte und ihm noch mehr Informationen zu dem Arzttermin lieferte. Damit könnte er die ärztliche Schweigepflicht umgehen. Das Zeugnisverweigerungsrecht galt für Ärzte und auch für deren Berufshelfer sowohl gegenüber de
n Ermittlungsbehörden als auch vor Gericht. Wenn er dort nachfragte, würde er auf Granit beißen, was den Grund von Birte Wellings Arztbesuch betraf. Bei ihrer Vorgesetzten hingegen …
»Sie sagen es!« Die Maklerin sprang darauf an und verdrehte die Augen. »Aber bei Frau Welling muss man jetzt froh sein über jeden Tag, den sie zur Arbeit erscheint. Sobald man als Arbeitgeber auch nur ›Mucks‹ macht, legen die Frauen einem doch eine monatelange Krankschreibung auf den Tisch.« Sie schüttelte den Kopf, sodass ihre Ketten leise klirrten.
»Sie meinen, Frau Welling ist …«
»Schwanger. Im dritten Monat. Und das in ihrem Alter!«
Die rechtsmedizinische Untersuchung des Leichnams leitete ein junger Mediziner namens Kevin Luckner. »Es ist Urlaubszeit, wie Sie wissen«, sagte Luckner beinahe entschuldigend. »Ansonsten hätte mein Chef diese spannende Leiche sicher gern selbst obduziert. Aber ich stehe mit ihm in Verbindung, wenn irgendwelche Fragen auftauchen sollten.«
»Spannend, inwiefern?«, wollte Marten Unruh wissen.
»Eine gut konservierte Wachsleiche findet man nicht allzu häufig. Da müssen viele Lagerungsbedingungen erfüllt sein, bis es zu dieser Art von Mumifizierung kommt. Die Feststellung des Todeszeitpunkts wird eine Herausforderung.« Er trat mit Alex und Marten an die Bahre aus Edelstahl, auf der die Leiche lag. Alex musste sich beherrschen, um nicht zurückzutreten oder wegzusehen. Er hatte sich den Toten zwar schon beim Abtransport kurz angeschaut, und er war auch schon oft bei Obduktionen dabei gewesen, aber etwas Derartiges hatte er so noch nicht zu Gesicht bekommen und kannte es allenfalls aus Lehrbüchern
.
Die Kleidungsreste, die während der Aufnahmen des Roboters und auch bei der Bergung den Körper noch notdürftig bedeckt hatten, waren entfernt worden. Als Alex sich dazu zwang, Details wahrzunehmen, sah er zwei Einschusslöcher im Brustkorb des Toten in der Nähe des Herzens.
»Der Täter war ein guter Schütze. Es sieht beinahe so aus, als wäre der Tote exekutiert worden«, bemerkte Marten. »Die Einschusslöcher liegen sehr dicht beieinander.«
»Ja, und sie haben beide das Herz getroffen. Es handelt sich um relative Nahschüsse … Der Schütze schoss höchstens aus eineinhalb bis zwei Meter Entfernung.«
»Können Sie schon etwas über die verwendete Waffe sagen?«
»Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Handfeuerwaffe. Die Patronenkugeln befinden sich nicht mehr im Körper des Toten. Mit etwas Glück werden Sie sie noch am Tatort finden, wo auch immer der war. Wissen Sie da schon Näheres?«
»Nein«, antwortete Marten. »Ein etwas genauer definierter Todeszeitpunkt und auch die Identität des Toten würden uns da weiterhelfen. Und Sie können uns noch nicht sagen, um was für eine Waffe und um welche Art von Munition es sich handelt?«
»Nein. Auch anhand der Einschusslöcher und Schusskanäle lassen sich keine genauen Aussagen über die Waffe und Munition mehr treffen. Dazu ist die Liegezeit zu lang und die Leiche doch in einem zu schlechten Zustand.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass der Leichnam nach dem Tod noch bewegt worden ist? Der Fundort ist nicht der Tatort?«
»Das schließe ich mehr aus der Auffindesituation. So, wie mir der Fundort beschrieben wurde, würde ich denken, dass
gar kein Platz vorhanden war für einen Täter, der von vorn auf das Herz zielt. Demnach ist die Leiche später erst dorthin verbracht worden.«
»Es sei denn, der Stollen ist erst später eingestürzt«, sagte Marten. »Zum Todeszeitpunkt kann es dort unten auch noch ganz anders ausgesehen haben. Ein unterirdischer Gang oder Raum, in dem sich Täter und Opfer befunden haben.«
»Ja. Aber das zu beurteilen geht anhand dieser Leiche nach der langen Liegezeit jetzt zu weit.«
»Was können Sie uns denn sagen?« Alex wollte sich nicht unnötig lange im Obduktionssaal aufhalten. Ungeduldig sah er den Rechtsmediziner an. Doch Luckner wartete seelenruhig ab, bis der Lärm der Säge verklungen war. Am Nebentisch wurde gerade ein Schädel geöffnet.
»Eine ganze Menge. Wir haben ja gestern schon die Kleidung des Toten entfernt. Dabei ist mir aufgefallen, dass es sich zum Teil um Kunstfasergewebe handelt. Ich fand es seltsam, da die Stollen doch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen sollten. Ich dachte, ich hätte vielleicht einen Wehrmachtssoldaten auf dem Tisch. Jedenfalls eine Person, die in den Vierzigerjahren dort unten ums Leben gekommen ist. Stattdessen liegt der Tote seit zwanzig oder weniger Jahren dort.« Luckner klang vorwurfsvoll. So, als hätten Marten und Alex ihn absichtlich getäuscht und ihm eine minderwertige Leiche untergeschoben.
»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte Marten.
»Ich habe einen Waschzettel mit Materialangaben sowie ein Etikett der Herstellerfirma in der Kleidung des Toten gefunden. Diese Marke ist meinen Recherchen zufolge erst seit dem Jahr 1999 auf dem Markt. Wenn das Opfer kein Zeitreisender gewesen ist, kann der Mann also nicht vor 1999 gestorben sein. Eher später.
«
Vom Nebentisch zog ein ekelerregender Geruch herüber, und auch die Wachsleiche vor ihnen duftete nicht gerade nach Frühlingsluft. »Was können Sie uns zu dem Toten selbst sagen?«, fragte Alex mit einer Spur Ungeduld in der Stimme, die Marten veranlasste, ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anzuschauen.
Luckner nahm ein Klemmbrett mit diversen Zetteln von einem bereitstehenden Wagen. »Es handelt sich um eine männliche Leiche mit einer Körperlänge von ungefähr hundertachtzig Zentimetern und einem Lebendgewicht von schätzungsweise achtzig Kilo. Der Mann hatte mittelgraues, gelocktes Haar, wie Sie ja noch sehen können …«
»Einen Moment bitte. Der Tote ist circa eins achtzig groß gewesen?«, wollte Marten wissen.
»Jetzt misst der Körper nur noch hundertsiebzig Zentimeter, sodass der Mann zu Lebzeiten etwas größer gewesen sein dürfte. Ich schätze, um die eins achtzig.«
»Richard Thomsen war ein Meter vierundneunzig«, sagte Alex in Martens Richtung. »Und wog fünfundneunzig Kilo.«
»Dann ist das nicht der Mann, der hier vor uns liegt«, erklärte Luckner.
»Die Leiche sieht ziemlich zusammengeschrumpft aus«, bemerkte Marten.
»Die Haut und das übrige Gewebe, ja, aber nicht die Knochen«, versetzte der Rechtsmediziner.
»Das Haar passt auch nicht auf Richard Thomsen.« Alex hatte sich allmählich an den Anblick der Wachsleiche gewöhnt, und es gelang ihm, mit etwas mehr wissenschaftlicher Neugierde hinzuschauen. Das mumifizierte Gesicht des Toten hatte wenig Ähnlichkeit mit dem auf den Fotos, die er von Thomsen gesehen hatte, selbst wenn er die Entstellung berücksichtigte, die die Jahre unter der Erde dem Körper
zugefügt hatten. »Richard Thomsen war graublond, allerdings mit nur sehr spärlichem Haarwuchs.«
»Und wenn es sein Kollege Werner Kulisch von
KWG
ist?«, fragte Marten.
Alex zuckte mit den Schultern. »Da fehlen uns bisher noch nähere Angaben zu Statur und Aussehen. Zahnunterlagen wären auch hilfreich …«
»Da habe ich bereits entsprechende Röntgenaufnahmen, auch der Zähne, veranlasst«, sagte Luckner. »Und ich habe noch etwas für Sie.« Er wies den Sektionsassistenten an, den Leichnam vorsichtig umzudrehen. Es raschelte und knirschte, und ein paar Insekten flogen auf. Alex’ wissenschaftliche Neugierde verflog, und er sah eilig knapp an der Leiche vorbei in Richtung Fenster. Er schaute erst wieder hin, als die Leiche bäuchlings vor ihnen auf der Bahre lag.
Luckner wandte sich dem Kopf des Toten zu. Der Hautlappen und das lockige Haar, das den Hinterkopf bedeckte, ließen sich dank der bereits geleisteten Vorarbeiten hochklappen wie die Lasche eines Briefkuverts und gaben den Blick auf die Schädelknochen frei. »Sehen Sie die feinen Risse, meine Herren? Unser Opfer ist heftig mit dem Kopf auf etwas aufgeschlagen. Es könnte ein harter Boden gewesen sein. In dem Zustand, in dem sich die Leiche befindet, lässt sich aber nicht mehr feststellen, wann es zu dem Trauma gekommen ist, vor oder nach Eintritt des Todes.«
»Könnte der Mann nicht auch mit dem berühmten stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden sein?«
»Nein.« Der Rechtsmediziner klang bedauernd. »Die wunderbare Hutkrempenregel. Die Schädelverletzung liegt klar unterhalb der gedachten Linie einer Hutkrempe. Das spricht nicht für einen Schlag auf den Kopf, sondern eher für einen Sturz auf einen festen Gegenstand. Ansonsten hätte ihn
jemand von schräg unten schlagen müssen, oder aber das Opfer hätte den Kopf gerade sehr weit hinunterbeugen müssen, als der Schlag es traf.«
»Gibt es außer dem Kleidungsetikett und dem Waschzettel noch weitere Anzeichen, an denen Sie den Todeszeitpunkt festmachen können?«
»Das ist bei dieser Art von Mumifizierung nicht ganz einfach. Sie wollen ja nicht, dass ich rate. Ich werde Ihnen allenfalls ein ungefähres Zeitfenster nennen können, und auch erst dann, wenn unsere Untersuchungen abgeschlossen sind. Wahrscheinlich ziehen wir noch einen forensischen Entomologen zurate.«
»Wir sind mitten in einer Ermittlung«, sagte Alex. »Auf die Insektenheinis zu warten dauert uns zu lange. Können Sie uns nicht wenigstens schon mal eine grobe Schätzung geben?«
»Also gut. Hier vorab Folgendes: Der Todeseintritt erfolgte laut der Kleidung des Toten im Jahr 1999 oder später. Geschlecht, Größe und Gewicht habe ich Ihnen schon mitgeteilt. Ebenso die Haarfarbe und Struktur. Die Todesursache ist entweder eine Schädelfraktur, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch einen Sturz verursacht wurde, und anschließend wurden auf das Opfer noch zwei Schüsse ins Herz mit einer Handfeuerwaffe abgegeben. Alternativ waren die zwei Schüsse ins Herz die Todesursache, und die Schädelverletzung ist vorher oder aber kurz danach eingetreten. Beispielsweise, als das Opfer zu Boden stürzte und mit dem Kopf aufschlug.«
»Die Schussverletzungen waren oder wären auf jeden Fall letal gewesen?«
»So sicher wie wir hier stehen.«
»Und das Schädeltrauma?
«
»Das ist nicht mehr festzustellen nach der langen Liegezeit der Leiche.«
»Aber es ist noch brauchbares Material für eine
DNA
-Analyse vorhanden?«
»Ja. Doch das dauert, wie Sie ja wissen.«