30. Kapitel
Es war Viertel nach neun, als Pia mit ihrem eigenen Wagen in die Adlerstraße einbog. Sie hielt sofort nach freien Parkplätzen Ausschau, die an einem Samstagabend um diese Uhrzeit rar waren. Als sie an ihrem Haus vorbeifuhr, setzte auf der gegenüberliegenden Seite ein am Straßenrand stehender Toyota den Blinker und fuhr in Richtung Fackenburger Allee davon. Pia wendete in einer Seitenstraße zügig, um nicht zu spät zu kommen, und parkte danach beinahe direkt vor ihrer Haustür ein.
»Glück muss man haben«, murmelte sie. Doch was heute passiert war, war nur teilweise Glück. Sie hätte am Leuchtturm angeschossen werden können oder Schlimmeres. Andererseits war jemand anders schwer verletzt worden und kämpfte im Krankenhaus ums Überleben. Zudem war Oliver Schröder ein wichtiger Zeuge, der in besserer Verfassung vielleicht ein wenig Klarheit in die verworrenen Ermittlungen hätte bringen können.
Pia fühlte sich, als hätte sie heute auf ganzer Linie versagt, obwohl sie nicht sagen konnte, worin ihr Versagen genau bestand. Am liebsten hätte sie sich nur noch mit einem Bier oder Glas Wein auf die Couch verkrochen und von irgendeiner Serie berieseln lassen. Doch oben in ihrer Wohnung war Marten, der sich um Felix gekümmert hatte. Seine spontane Bereitschaft, ihr zu helfen, war großartig gewesen. Es war ihm natürlich leichtgefallen, Felix’ Begeisterung zu wecken, wenn er ihm eine Fahrt in einem Streifenwagen in Aussicht stellen konnte. Aber gut. Jeder musste das in die Waagschale werfen, was er zu bieten hatte.
Doch nun musste sie sich einer Konfrontation stellen, die sie in ihrem deprimierten und gestressten Zustand lieber vermieden hätte.
Entschlossen, sich mit Marten auf keinerlei Diskussionen über was auch immer einzulassen, stapfte sie die Treppen hinauf und schloss ihre Wohnungstür auf. »Hallo, ich bin zurück!«, rief sie schon im Flur. Sie streifte die Schuhe ab und hängte die Outdoorjacke an die Garderobe. Dabei sah sie, dass die Jacke Blutflecken abbekommen hatte, ebenso die Schuhe. Sie nahm eine große Tüte aus der Kommodenschublade und stopfte beides hinein, um alles außer Sichtweite zu bringen, bis sie sich darum kümmern konnte. Felix sollte die blutigen Kleidungsstücke nicht zu Gesicht bekommen.
Sie steckte den Kopf ins Wohnzimmer, hielt sich ansonsten jedoch hinter der Tür verborgen. »Na, wie sieht es bei euch aus?«
Marten und Felix saßen auf dem Fußboden, die Playmobil-Polizeistation stand in voller Pracht aufgebaut zwischen ihnen. Ebenso eine Schale mit Chips … Auf Pias Couch lag eine aufgeschlagene Zeitung mit einer Lesebrille darauf. Pia unterdrückte ein Lächeln. Auch an Marten ging die Zeit also nicht spurlos vorbei.
»Hi, Mama, ich bin richtig Polizeiauto gefahren!«, rief Felix. »Ganz in echt!«
»Das ist ja toll, Schatz. Du musst mir gleich unbedingt alles genau erzählen. Ich mach mich eben noch ein bisschen frisch. Danach bin ich sofort bei dir.«
Marten sah sie prüfend an, nickte ihr dann unmerklich zu und hielt Felix eines der Fahrzeuge, in das er gerade einen kleinen Polizisten gesetzt hatte, zur Begutachtung hin. Der Art nach zu urteilen, wie er sie anschaute, war er bereits bestens darüber informiert, was sich in Pelzerhaken zugetragen hatte.
Pia ging ins Badezimmer und hielt die lädierten Hände unter laufendes Wasser. Sie wusch den Schmutz ab, betrachtete die oberflächlichen Verletzungen, vor allem die an den Knien, und gab etwas Desinfektionsspray darauf. Das würde schnell heilen. Dann zog sie sich aus. Ihre Jeans hatte einen Riss und war insgesamt schmutzig geworden. Das Oberteil war am unteren rechten Ärmel mit Blut befleckt, ansonsten hatten die Jacke und die schusssichere Weste es vor weiterem Schaden bewahrt. Sie bürstete ihr Haar und duschte sich. Dann ging sie im Bademantel ins Schlafzimmer hinüber. Nebenan hörte sie im Vorbeigehen Felix lachen. Sie zog sich wahllos ein paar frische Sachen an. Danach fühlte sie sich in der Lage, sich den weiteren Herausforderungen des Abends zu stellen: Felix’ Erlebnissen zu lauschen, ihn anschließend ins Bett zu bringen und Marten freundlich, aber bestimmt nach Hause zu schicken.
Felix hatte seinen Schilderungen nach eine tolle Zeit mit Marten verbracht. Pia wollte lieber gar nicht so genau wissen, wie der es arrangiert hatte, dass ihr Sohn so kurzfristig in einem Streifenwagen hatte fahren dürfen – mit Blaulicht und Martinshorn. Danach war Felix mit Marten Pizza essen gewesen, und sie hatten die Playmobil-Polizeistation wieder aufgebaut. Nachdem ihr Sohn alles aufgeregt erzählt hatte, fielen ihm, noch während er auf Pias Schoß saß, die Augen zu.
»Ich will später auch zur Polizei«, murmelte er an ihrer Schulter, bevor er endgültig einschlief. Pia konnte ihn in sein Zimmer tragen, wo er sich ohne Protest bettfertig machen ließ und einfach weiterschlief, als sie ihn hinlegte .
»Es war großartig von dir, wie du dich um Felix gekümmert hast. Vielen Dank!«, sagte Pia, als sie wieder ins Wohnzimmer kam.
Marten saß auf der Couch, las die Zeitung und hatte die Füße auf den Hocker gelegt. Bei ihrem Eintreten nahm er die Lesebrille ab.
»Das hat mir Spaß gemacht«, sagte er. »Felix ist ja richtig begeisterungsfähig.«
»Du hast ihm heute aber auch ein außergewöhnliches Unterhaltungsprogramm geboten.« Pia setzte sich ihm schräg gegenüber in den Sessel. Sie grinste. »Mit der Brille siehst du übrigens richtig seriös aus.«
»Ja, meine Lesebrille. Ich arbeite daran.« Er verzog das Gesicht. »An der Seriosität, meine ich. Und du siehst ein bisschen geschafft aus.«
»Du hast sicher schon gehört, was passiert ist.«
»In groben Zügen.« Er musterte sie nochmals. »Ich bin froh, dass es so glimpflich ausgegangen ist.«
»Zumindest für mich und unsere Leute«, sagte Pia.
Er nickte. »Du hast bestimmt Durst und auch Hunger. Darf ich dir in deiner eigenen Wohnung etwas aus deinen Vorräten zu trinken anbieten? Wir haben auch extra eine Pizza für dich mitgebracht. Felix meinte, du magst Parma e Rucola sehr gern.«
Pias Plan, Marten so schnell wie möglich loszuwerden, bekam ein paar Risse. »Ein Bier und ein Stück Pizza wären großartig«, antwortete sie. »Moment. Ich komme mit in die Küche …«
»Nein, ich mach das schon. Felix hat mir ja gezeigt, wo alles ist.« Er grinste und war verschwunden.
»Verräter«, murmelte Pia und schloss kurz die Augen .
Als sie die Augen wieder öffnete, standen ein Bier und eine Pizza auf einem Holzbrett auf dem Couchtisch neben ihrem Sessel. »Oje, ich muss wohl kurz eingenickt sein.«
»Du hast tief und fest geschlafen, Pia. Aber nur kurz. Die Pizza ist noch heiß.«
Sie merkte erst beim Essen, wie hungrig sie war. Als sie das meiste förmlich verschlungen hatte und das Brett beinahe leer war, berichtete sie detailliert, was sich in Pelzerhaken zugetragen hatte. »Ich weiß zwar nicht, wer mir das MEK hinterhergeschickt hat. Und eigentlich finde ich es auch ziemlich übertrieben für ein einfaches Treffen auf einer Seebrücke. Aber falls du das warst: danke schön, auch dafür.«
Marten ließ sie im Unklaren darüber, wer dafür verantwortlich war. Stattdessen stellte er ihr Fragen zu allen Einzelheiten, die sich zugetragen hatten. »Ist es möglich, dass Oliver Schröder derjenige war, der auf dich geschossen hat?«
»Theoretisch kann er es gewesen sein. Er müsste danach sofort nach Hause gelaufen oder gefahren sein. Doch was soll dann mit ihm passiert sein?«
»Vielleicht hat er auf sich selbst geschossen. Habt ihr eine Waffe gefunden? Habt ihr überhaupt danach gesucht? Sie könnte weggerutscht und unter einem Möbelstück oder so verborgen gewesen sein.«
Pia winkte ab. »Denkst du, wir sind blöd? Da war keine Waffe in der Nähe.«
»Es war demnach kein Suizidversuch?«
»Nein. Und außerdem: ein Schuss in die Schulter, noch dazu von schräg hinten? Das ist keine sehr übliche Vorgehensweise, wenn man sich erschießen will.«
»Also gut. Dann gehen wir erst mal davon aus, dass Oliver Schröder von einer anderen Person angeschossen worden ist. Er könnte jedoch trotzdem der Schütze gewesen sein, der es auf dich abgesehen hatte …«
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte Pia. »Die Zeit, um vom Leuchtturm zu seinem Haus in Pelzerhaken zu kommen, wäre sehr knapp gewesen. Es kam mir auch so vor, als läge er schon etwas länger dort.«
»Vom Leuchtturm«, wiederholte Marten nachdenklich.
»Ist die SMS mit der Planänderung eigentlich von Oliver Schröders Telefon aus gesendet worden?«
»Ja. Jedenfalls von der Nummer, die Kirsten in ihrem alten Handy unter dem Kontakt ›Oliver‹ gespeichert hatte und unter der ich ihn angerufen hatte, um mich mit ihm zu verabreden.«
»Habt ihr sein Handy bei ihm oder in dem Haus irgendwo gefunden?«
Pia erstarrte. »Nein«, sagte sie. »Er hatte es nicht am Körper, und es lag auch nicht offen in seinem Arbeitszimmer herum. Ich habe mich noch im Flur und in der Küche umgesehen. Auch wenn ich nicht bewusst danach gesucht habe. Ich hätte ein Mobiltelefon bemerkt, wenn es dort irgendwo gelegen hätte.«
Wenn sie daran gedacht hätte, es zu suchen, hätte sie die Nummer wählen können, als sie im Haus gewesen war. Das hatte sie jedoch nicht getan. Sie war mit den Gedanken bei Oliver Schröders Verletzung und seinem Überleben gewesen. »Es muss noch mal jemand hinfahren und gezielt danach suchen«, erklärte Pia. »Wir haben das Haus versiegelt, doch spätestens morgen …«
»Was bedeutet es deiner Meinung nach, Pia, wenn wir sein Mobiltelefon nicht finden?«
»Er kann es am Leuchtturm verloren haben, als das MEK auf ihn geschossen hat und er weggelaufen ist. Oder er hat es als Beweis beiseitegeschafft … Alternativ hat der Täter es ihm abgenommen, derjenige, der ihm die Schussverletzung be igebracht hat. Das halte ich für am wahrscheinlichsten«, sagte sie nach kurzer Überlegung.
»Genau das vermute ich auch«, stimmte Marten zu. »Könnte es nicht folgendermaßen abgelaufen sein? Unser Täter wollte Oliver Schröder zum Schweigen bringen. Er war ja überhaupt erst derjenige, der uns darauf gebracht hat, dass Kirsten ermordet worden ist. Diese Information ist zwar nicht mehr zurückzunehmen, aber höchstwahrscheinlich weiß Oliver Schröder noch mehr. Und zwar etwas, das den Täter überführen kann …
Entweder ist die zeitliche Koinzidenz ein Zufall, oder aber der Täter wusste von deiner Verabredung mit Schröder. Er wusste oder befürchtete, dass Oliver Schröder sein Wissen der Polizei mitteilen wollte. Um das zu verhindern, sucht er ihn in seinem Haus auf und schießt auf Schröder, bevor der mit dir sprechen kann. Dann nimmt er Oliver Schröders Handy an sich und schreibt dir, dass der neue Treffpunkt der Leuchtturm ist, weil er dich dort leichter aus dem Verkehr ziehen kann als auf der Seebrücke. Er fährt dorthin, um den zweiten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen, und schießt auch auf dich. Doch er hat nicht mit dem MEK gerechnet.«
»Aber warum auf mich schießen, wenn er Oliver Schröder schon vor unserem Treffen ausgeschaltet hat?«
»Es war wohl einfach eine gute Gelegenheit, dich loszuwerden. Immerhin hast du die Ermittlungen überhaupt erst ins Rollen gebracht …«
»Aber ich hätte wichtige Hinweise doch schriftlich festgehalten oder zumindest mit den Kollegen geteilt.«
Marten hob die Schultern. »Eine Panikreaktion. Alles schon vorgekommen. Das hieße, dem Täter steht das Wasser bis zum Hals.«
Pia rieb sich die Stirn. »Also gut. So könnte es gewesen sein. Ich glaube allerdings nicht an einen Zufall, was den Zeitpunkt des ersten Mordversuchs angeht. Oliver Schröder wurde ja sehr kurz vor unserer Verabredung ausgeschaltet. Es bleibt die Frage, woher der Täter, er oder sie, so genau über meine Verabredung mit Schröder Bescheid wusste. Susanne Thomsen war zumindest darüber informiert, dass ich ihn dringend suche … Von ihr habe ich auch den Tipp mit dem Haus in Pelzerhaken.«
»Sie kann diese Information bewusst oder unbewusst an jemanden weitergegeben haben. Nur …« Marten trank sein Bier aus. »Wie hat der Täter dir eine Nachricht von Schröders Handy aus schicken können? Diese Dinger sind doch normalerweise für fremde Nutzer gesperrt.«
Pia blickte auf ihre lädierten Hände. »Ganz einfach«, sagte sie. »Der Täter hat Schröder in seinem Haus angeschossen. Ich gehe davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt dachte, er habe ihn getötet. Als Oliver Schröder leblos vor ihm lag, hat er dessen Mobiltelefon genommen, mit Schröders Daumenabdruck auf der Home-Taste das Handy entsperrt und mir die SMS geschickt. Anschließend hat er das Teil einfach mitgenommen. Ansonsten hätten wir es ja wohl bei ihm gefunden.«
»Der Täter könnte es immer noch bei sich haben«, bemerkte Marten. »Das muss ich nachprüfen lassen.«
»Es ist viel wahrscheinlicher, dass er das Telefon längst beseitigt hat«, vermutete Pia. »Es kann sonst wo sein.«
Marten nickte. Trotzdem zog er sein Smartphone hervor und rief jemanden an, dem er entsprechende Instruktionen gab. Es war inzwischen so dunkel in ihrem Wohnzimmer, dass Pia nur noch seine Umrisse erkennen konnte.
»Sag mal, Marten. Du wolltest mir doch noch etwas erzählen«, bemerkte sie, als sein Gespräch beendet war. »Was hat dich überhaupt wieder hierhergeführt?«