Lektion 9

Wie man Geschichten und Sterne liest

Die Wohnung duftete nach Chili, aber darunter mischte sich noch ein anderer Geruch, der an Holzkohle und Pfeffer erinnerte. Papa stand am Herd, kostete, verzog das Gesicht und würzte mit Paprikapulver nach.

»Lass mich raten«, rief ich ihm aus dem Flur zu, wo ich meine dreckigen Schuhe auszog. »Versalzen.«

Er zog die Augenbrauen zusammen und schnupperte. »Riecht man das oder willst du mich neppen?«

»Das, was man riecht«, sagte ich, trat auf Socken zu ihm und wies auf ein verräterisches Päckchen Puddingpulver, »ist verbrannte Milch. Ich tippe mal, sie ist dir übergekocht. Bist du heute etwas abgelenkt?« Ich schmunzelte, als er sich vor meinen Augen wand und schließlich mit den Schultern zuckte. Die Küche war das heilige Refugium meines Vaters. Wenn ihm hier Patzer unterliefen, musste es ernst sein mit seiner neuen Flamme.

Ich freute mich für ihn und versuchte, ihn ein wenig auszuquetschen, während wir im Stehen gleich aus dem Topf aßen. Offenbar jedoch waren Beziehungsangelegenheiten für ihn ein noch sensibleres Thema als für mich und so erfuhr ich nur, dass Corinna offenbar seine Liebe für Blind Guardian und Fernsehserien aus den Achtzigern teilte. Mein Appetit war zurückgekehrt und hatte Freunde mitgebracht, sodass wir vor dem Chili con Carne nicht klein beigaben, ehe der gesamte Topf leer und selbst der Boden mit Brot ausgewischt war. Nach dem Essen opferte ich mich und übernahm das Spülen.

»Dann kannst du noch etwas Pause machen, ehe du zur Arbeit musst«, meinte ich und drehte das Wasser auf. »Ich werde später noch rausgehen.«

Papa zog angesichts seiner Nachtschicht eine Grimasse. »Triffst du dich mit Dominic?«

Ich brummte unverfänglich, was sowohl Ja als auch Nein heißen konnte, dem Ja aber etwas näher kam.

»Ist das immer noch rein platonisch zwischen euch?«

Oh, oh. Der skeptische Unterton gefiel mir gar nicht. »Klar«, antwortete ich leicht fragend und malte einen Kringel aus Spülmittel ins Wasser.

»Nun ja, wenn es anders wäre«, druckste Papa herum, »nur für den Fall … dann würdet ihr es mir doch sagen, oder?«

Ich versuchte eine Taktik à la Marlon – ich wich aus. »Als der Verdacht das erste Mal aufkam, hast du Dom eine Schnabeltasse aus dem Pflegeheim gezeigt und ihn gefragt, ob er sich vorstellen kann, zu welch lustigen Dingen man diese zweckentfremden könnte.«

Papa lachte. »Das hat er doch nicht ernst genommen!«

»Hast du ihn seitdem noch mal hier gesehen? Ich schon, allerdings fragt er jedes Mal, ob du da bist, ehe er sich hertraut. Aber ich kann dich beruhigen. Dom und ich sind nur Freunde.«

»Sicher.« Papa trocknete den Topf ab, den ich gespült hatte, und stellte ihn in den Schrank. »Für den Jungen mit dem Sportwagen gilt übrigens dasselbe: Wer meiner Lieblingsküchenmagd wehtut«, ich warf den Spüllappen und er wich aus, »der lernt die Schnabeltasse kennen.« Er zwinkerte und ich drehte den Kopf weg, damit er mich nicht erröten sah. Den markigen Sprüchen zum Trotz würde er niemals jemanden verletzen, das wusste ich, dennoch konnte ich ihm nicht in die Augen sehen.

Denn wenn eines sicher war, dann das: Marlon würde mir wehtun.

Als ich mich zum Garten aufmachte, riss die Wolkendecke an mehreren Stellen auf. Im Westen blinzelte ein blutroter Sonnenuntergang hindurch und goss warmes Licht über die Baumkronen. Die Luft war angenehm, auch wenn ich nun eine Sweatjacke über Emmas T-Shirt tragen musste. Ich nahm den direkten Weg durch die Schrebergärten. Unter meinen Füßen schmatzte das nasse Gras und wusch den Dreck von meinen Schuhen, bevor die Feuchtigkeit bis in meine Socken drang.

Ich hörte Marlon, lange bevor ich ihn sah. Er schnaubte, zischte einen Fluch und schien mit schwerer Arbeit beschäftigt. Ich hörte rhythmisches Klatschen und leises Keuchen. Als ich jedoch die letzte Hecke überkletterte und sein Garten und die Hütte vor mir lagen, war kein Marlon zu entdecken. Dafür hockte der Rabe Pinsel auf dem Boden und beäugte mein Näherkommen skeptisch.

Ich machte ein paar vorsichtige Schritte in seine Richtung, um ihn nicht zu erschrecken.

Pinsel legte den Kopf schief. Er sah mich an, als fände er mich ebenso interessant wie ich ihn. Und es mag Einbildung gewesen sein, aber irgendwie wirkte er spöttisch. Überlegen. Beinahe … menschlich.

Plötzlich plusterte er sich auf, stieß ein in die Ohren schneidendes »Krrrah« aus und schlug wütend mit den Flügeln. Ich wich ein Stück zurück.

Marlon kam hinter der Hütte hervor, mit nacktem Oberkörper und einem erhobenen Spaten, von dem Erdklumpen auf seine bloßen Schultern fielen. Er stürmte durch den Garten, als wollte er den Raben nicht nur verjagen, sondern geradewegs erschlagen. Pinsel suchte sein Heil in der Flucht. Er hopste über den Boden, flatterte aufs Tor und erhob sich von dort mit einem zornigen »Krrrapp, krrrapp« in die Luft.

»Hau ab, verdammter Aasgeier!«, brüllte Marlon ihm nach. Er drehte sich zu mir um und schleuderte den Spaten von sich, sodass dieser in der Hecke landete. Ein paar Augenblicke rang er um Beherrschung, dann atmete er tief durch und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

Ich war überzeugt, etwas Wichtiges vergessen zu haben, aber ich kam nicht dahinter, was es war. Erst Marlons überhebliches Grinsen brachte mich auf die Idee. Richtig, ich sollte den Mund wieder schließen.

»Du«, ich musste mich räuspern, um nicht selbst zu krächzen wie ein Rabe, »magst keine Vögel, was?«

Er blieb einen guten Meter vor mir stehen und verschränkte die Arme, was seine Brustmuskeln spielen ließ. »Nur diese nicht. Sie gehen mir auf die Nerven, diese aufdringlichen Biester.«

»Sie sind neugierig«, verteidigte ich meine Raben.

Marlons Hände und Arme waren bis zu den Ellbogen von Schmutz verkrustet. Ich war eigentlich nicht der Typ Mädchen, der auf archaische, verdreckte Männer stand, aber in diesem Moment stellte ich mir vor, er würde mein Gesicht in seinen Händen halten und mich stürmisch küssen. Ich würde den Schweiß schmecken, der in winzigen Perlen auf seiner Oberlippe stand. Oh, oh.

Dummerweise wandte er sich ab. »Nein«, hörte ich ihn murmeln, während er zur Hütte ging. »Sie suchen Erinnerungen.« Auf seinem linken Schulterblatt war etwas, das ich zunächst für Dreck gehalten hatte und das sich nun als rotbräunliche Tätowierung entpuppte. Zwei schräge Linien vor einer senkrechten, die in einem Kreis mündete. Ich wusste nicht, was das darstellen sollte – möglicherweise Stöcke oder Holzschwerter in einer Haltevorrichtung –, aber ich sprach Marlon nicht darauf an.

»Erinnerungen?«, fragte ich stattdessen und folgte ihm. Im Halbdunkel der Laube machte ich seine Schreibarbeiten auf dem Tisch aus. Daneben befanden sich eine volle Kekspackung und eine leere Kaffeetasse. Wider Willen achtete ich mehr auf die flachen Muskeln an seinem Rücken und fragte mich, wie sich diese wohl anfühlten.

»Hmhm.« Mit dem linken Arm wies er zum Tisch. »Die Geschichte ist fertig, du kannst sie lesen. Dort hinten in der Schublade sind Kerzen und Streichhölzer, falls du mehr Licht brauchst.« Sein rechter Ellbogen deutete in die andere Richtung, sodass es aussah, als würde er den Ententanz aufführen. Ich biss mir hinter seinem Rücken heftig auf den Zeigefinger, um nicht in Gelächter auszubrechen. Im Stillen dankte ich ihm, mich zur rechten Zeit von den kindischen Schwärmereien abzulenken, für die ich Rosalia immer schalt und die ich mir im Nachhinein kaum verzeihen würde.

»Ich springe mal rasch unter die Dusche. Fühl dich wie zu Hause.«

Er war in der Nasszelle verschwunden, bevor ich ihn fragen konnte, warum er hinter seiner Hütte den Boden umgrub. Aber gut, er hatte mit einem stumpfen Rasenmäher das Gras abgemetzelt, kaum dass er sich hier einquartiert hatte. Und nun pflanzte er eben Kartoffeln und Rosen an. Oder vergrub Leichen – es gab ja keinen Keller. Vielleicht beerdigte er auch Ängste, Erinnerungen oder Träume. Warum auch nicht? Ich verbot mir das Grübeln und zwang mich, Marlons Gartenarbeit als Zeichen zu nehmen, dass er hierbleiben oder zumindest nicht für ewig fortgehen würde. Wer rackerte sich schon in seinem Garten ab, wenn er ihn für lange Zeit brachliegen lassen wollte?

Ich hörte das Wasser im Nebenraum rauschen, daruntergemischt ein gepresstes Stöhnen. Duschte der Held auch noch kalt? Der Hahn am Spülbecken hatte nur einen Drehknauf, es war also davon auszugehen, dass es kein warmes Wasser gab. Wie grausam! Ich würde hier gewiss niemals duschen. Aber … Herrgott, warum sollte ich auch? Ich schüttelte all diese eigenartigen Gedanken aus meinem Kopf und raufte mir die Haare. Der Typ machte mich ganz wuschig.

Marlon kam vollständig angekleidet zurück. Ob ich das bedauerte oder guthieß, war nicht so leicht zu entscheiden. Wasser, das aus seinen Haaren troff, war inzwischen zu einem vertrauten Bild geworden. Ich gab mich viel lässiger, als ich mich fühlte, und zupfte ihm spielerisch an einer Strähne.

Er tippte den flachen Papierstapel an. »Hast du es noch gar nicht gelesen?«

»Nein, Monsieur Giraudoux, habe ich nicht.«

»Girau… Wer bitte?«

Erfreulicherweise wusste ich endlich einmal mehr als er. Der Theater-AG sei Dank. »Jean Giraudoux war ein französischer Schriftsteller. Er schrieb das Theaterstück Undine, das von einer Nixe und ihrer tragischen Liebe zu einem Ritter handelt.« Meine Stimme wurde beim Sprechen unwillkürlich leiser, da mir einfiel, dass ich schon an dieses Stück hatte denken müssen, als ich noch keinen Satz aus Marlons Feder kannte. »Ach, wenn doch alles anders wär«, rezitierte ich dramatisch und verbarg so meine Bestürzung. »Wie hätt ich ihn geliebt.«

Marlons Applaus kam in Form eines Lächelns und geriet müde. »Girau-Dingsbums war bestimmt ein besserer Schriftsteller als ich, denn meine wahre Stärke sind Comics. Weniger Worte, die mir im Weg rumstehen. Willst du die Geschichte trotzdem zu Ende lesen?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Wenn sich in der Geschichte Wahrheit findet, dann will ich sie hören. Von dir. Lies sie mir vor.«

Wie so oft wandte er sich ohne Antwort ab. Er trat an die Küchenzeile, füllte Wasser in einen Kessel und entzündete den Gasherd. Die Hände zu beiden Seiten des Herds abgestützt, als könnte er meine Forderung sonst nicht tragen, verharrte er. Er dachte nach. Und ließ sich furchtbar lange Zeit damit. Ich lehnte mich an die Tischkante und wartete auf seine Antwort.

Erst als das zuvor eisige Wasser kochte und den Kessel zum Pfeifen brachte, sagte Marlon: »In Ordnung.« Dann kippte er das Wasser in eine Thermoskanne, riss mit den Zähnen die Papieretiketten von drei Teebeuteln und warf diese dazu. Ehe er die Kanne schloss, schüttete er eine Handvoll Zucker hinterher. Schließlich legte er sich eine Decke über die Schulter und nahm zwei Plastikmüllsäcke, in denen er die Kanne und zwei Edelstahltassen verstaute. Er bedeutete mir, sein Manuskript mitzunehmen, und ging hinaus, wo er alles mit lautem Geschepper auf das flache Dach warf und dann eine Räuberleiter für mich machte.

Ich zögerte nicht und ließ mir von ihm hochhelfen. Die ersten Schritte aufs Dach tat ich sehr behutsam, zweifelnd, ob es mein Gewicht halten würde, aber es war stabil. Marlon zog sich an der Dachkante hoch und folgte mir. Er breitete die Müllsäcke auf dem feuchten Holz aus, legte die Decke darüber und machte eine Geste, als würde er mir den besten Platz in einer altmodischen Theatervorstellung anbieten. Wortlos setzte er sich neben mich, goss beide Tassen voll und drehte mir dann den Rücken zu.

»Ich kann das nicht vorlesen, wenn du mich ansiehst«, meinte er verschämt.

Ich drehte mich ebenfalls, sodass ich meinen Rücken gegen seinen lehnen konnte, und lauschte. Minuten schienen zu vergehen. Um uns flüsterten die Bäume, ein paar Vögel tauschten Tratsch aus. Die Geräusche der Straße, vereinzeltes Geschrei von Müttern, die ihre Kinder nach Hause riefen, sowie das monotone Pmpf-pmpf-pmpf der Stanzerei, all das verlor an Bedeutung. Marlon straffte mehrmals den Rücken, als müsste er Atem sammeln, um sich zu überwinden, aber als er schließlich zu lesen begann, war er entspannt und seine Stimme klang, als gehörte sie genau hierher.

War Brijans Braut Seirēn zunächst auch bestürzt, ihre Seele nicht einem Mann, sondern dem Meer geschenkt zu haben, so fügte sie sich doch rasch in ihr neues Leben. Statt ihrem eigenen Schicksal beweinte sie die Verstorbenen, jene, die das Meer verschlungen hatte und aus deren Leben es die Kraft gewann, Seirēns Körper zu verändern, bis sie selbst ein Teil davon war. Jahrelang fielen ihre Tränen ins Wasser, sodass alle sieben Meere salzig wurden und Seirēn keine Erinnerungen und keine Gefühle mehr blieben. Nachdem ihre letzte Träne vergossen war, schwamm sie zu ihrem Gatten, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn mit der ganzen Gier ihrer blanken, animalischen Triebe.

Brijan war erstaunt, dann entsetzt und schließlich ergab er sich dem Wesen, welches bis zu seinem Erscheinen eine Frau mit Träumen und Wünschen gewesen und mittlerweile zu einem Tier in menschlicher Hülle mutiert war, dessen Lebenssinn aus Nahrung und Fortpflanzung bestand. War es nicht er gewesen, der sie zu dem gemacht hatte? Nun hatte er ihr zu geben, was sie verlangte. Das salzige Wasser brannte in seinen Augen und wusch sein Gewissen davon, während Seirēn ihn zwischen ihren Schenkeln in die Tiefe zog.

Monate vergingen. Brijan lebte so zufrieden, wie er es nie für möglich gehalten hätte, mit Seirēn im Meer. Alles, was seine Frau wollte, war Nahrung und Liebe. Beides konnte er ihr im Übermaß geben und so geschah es bald, dass ihr Leib sich wölbte. Mit banger, doch auch freudiger Erwartung sah er der Geburt seines Kindes entgegen. Er sann darüber nach, ob es wie Seirēn sein würde. Unerträglich schön, mit einer Stimme, die die Fische geradewegs zwischen ihre hungrigen Lippen lockte, und ohne den menschlichen Makel der Sehnsüchte und Träume. Oder würde sein Kind ihm ähnlich sein? Ein menschlicher Geist, ein menschlicher Körper, doch kalt und in der Lage, zu leben wie ein Fisch?

Er sollte es nicht erfahren, denn Seirēn verschwand, als der Sommer nahte. Während man an Land Beltane-Feste feierte, deren Feuer bis hinaus aufs Meer zu sehen waren, gebar Seirēn unbemerkt Brijans erste Kinder. Mit flachem Bauch kehrte sie zu ihm zurück. Sie war, wie er sie kannte – unfähig zu sprechen, doch in der Lage, herbeizusingen, was sie brauchte, um ihren Hunger zu stillen. Sie war begieriger als je zuvor, nach Fischen ebenso wie nach ihm, und sie erlaubte ihm nicht, ihr fernzubleiben, um nach seinen Kindern zu suchen.

Die Jahre verliefen im Strom der Gezeiten. Beltane kam, Seirēn ging und ließ Brijans Kinder an Land zurück, um gleich darauf neue von ihm zu verlangen. Brijan vergaß, was ihn einst ausmachte. Das Meer bot zu viel Raum zum Vergessen.

Doch eines Tages, als im späten Sommer an Land das Lammas-Fest gefeiert wurde, beobachtete er etwas Sonderbares: Zwei Menschen gingen aufs Meer zu, wurden von den Wellen liebkost und empfangen. Sie tauchten ins Wasser und … lebten. Wie Seirēn. Und wie er. Brijan erkannte seine Erstgeborenen, ohne sie je zuvor gesehen zu haben. Doch dann verwandelten sie sich. Schuppen wucherten aus ihrer zarten Haut, Kiemen brachen blutig aus ihren Leibern hervor und der menschliche Unterkörper wurde zu einer Fischflosse. Seirēn begann in den Tiefen der See zu singen, lockte ihre Kinder jubilierend herbei. Die neugeborenen Meereswesen erwiderten die Gesänge und folgten ihr. Brijan aber blieb am Ufer zurück, als er sah, wie Menschen, weinend und rufend, seinen Kindern ins Meer folgten und ertranken. Seine kalte Haut schauderte, denn ihm wurde bewusst, dass weitere dieser Meereswesen entstehen würden und wiederum Nachfahren haben würden. Und alle folgten sie einem Verlangen. Menschliches Leben – jeden, der sie geliebt hatte – durch ihren Liebreiz ins Meer zu locken, wie Brijan es einst getan hatte.

Wie aus dem Nichts erschienen ihm die drei Meereswesen. In den letzten Jahren hatte er sie fast vergessen. Ihre Leiber glühten vor Freude angesichts der menschlichen Opfer, deren Leben im Meer zerflossen.

»Der Kreis ist geschlossen«, zischte das erste Wesen.

Das zweite kicherte. »Deine Schuld ist gezahlt.«

»Unaufhaltsam gezahlt«, schloss das dritte. »War doch ganz billig.«

»Für immer …«

»… und immer …«

»… und ewig.«

»Das ist die ganze Geschichte, Magpie.«

Marlons Erwartung lag so drückend in der Luft, dass ich kein Wort herausbekam. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, weil ich nicht wusste, was er mir sagen wollte. Er glaubte doch nicht ernsthaft, sich in ein Meereswesen zu verwandeln? Nein, das hatte er mir versichert. Um seinen Geisteszustand musste ich mich also nicht sorgen. Aber warum zum Geier erzählte er mir von diesen Sirenen? Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Rosalia. Es war eine Metapher. Doch wofür?

»Und?«, meinte Marlon und lehnte den Kopf zurück, sodass er auf meiner Schulter lag und seine Wange mein Ohr berührte. »Bestehe ich den Vergleich mit Girau-wemauchimmer?«

Ich war ihm unglaublich dankbar, dass er versuchte, mit einem Scherz den Druck von mir zu nehmen. »Das fragst du die Falsche. Deine Geschichte gefällt mir, aber ich bin ein schlechter Maßstab. Ich lese Bücher bloß für die Schule. Dementsprechend wenig kann ich sie leiden.« Wenn er sein Talent als Schriftsteller beurteilt haben wollte, hätte ich ihn zu Rosalia schicken sollen. Sie war die Belesene von uns, investierte ihr ganzes Taschengeld in Romane und schrieb im Matheunterricht Gedichte.

»Verdammt.« Sein Schmunzeln war hörbar. »Hätte ich das gewusst, hätte ich nicht den Literaten gespielt, sondern dir das Ganze als Comic gezeichnet.« Er legte den Kopf noch weiter zurück und sah in den Himmel.

Erste Sterne schälten sich aus dem sich rasch verdunkelnden Blau und flüsterten mir zu, dass es Marlon um etwas ganz anderes als um eine Beurteilung seiner literarischen Qualitäten ging.

»Ist es die Geschichte der Huntsmen?«, riet ich, ehe mich der Mut verließ. »Der König, der seine Tochter verlor … gründete er eine Föderation, um sich an den Meereswesen zu rächen?«

Ich spürte Marlon nicken. »Es muss tausend Jahre her sein, vielleicht noch länger. Aber es heißt, dass ein mächtiger Mann – vielleicht war er wirklich ein König – in seiner Verzweiflung die besten Ritter zusammenrief und zu den Urahnen der Huntsmen ausbildete.«

»Kann man ihm irgendwie nicht verübeln«, meinte ich und bereute meine Worte sofort. »Auch wenn Brijan mir leidtut und Seirēn … sie haben es ja nicht gewollt.«

Marlon reagierte nicht sofort, sondern sah weiter in den Himmel.

»Schade«, sagte er irgendwann, »es ist zu bewölkt, um das Sternbild des Wassermanns zu sehen. Ich glaube, dass einer dieser Sterne da oben dazugehört, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Stellt es denn Brijan dar?«, fragte ich in neckendem Ton.

Marlon antwortete vollkommen ernst. »Nein, aber vielleicht zeichnet es sein Schicksal.«

Ich löste mich von ihm, was ihn leicht zum Schwanken brachte, und drehte mich um. »Glaubst du an Astrologie? Dass unser Schicksal da oben geschrieben steht und Astrologen uns durch Horoskope sagen können, was passieren wird?« Ich wünschte mir, er würde die Frage verneinen, denn für mich war dieser ganze Wahrsage-Kram Quatsch, aber den Gefallen tat er mir nicht. Er legte sich auf den Rücken und schwieg, bis ich seiner wortlosen Bitte nachkam und mich ebenfalls hinlegte, um ins Firmament zu schauen.

»Ich glaube nicht an Horoskope, Tarot oder Hellsehen. Damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich zähle nicht zu den Leuten, die bei Astro-TV anrufen. Aber ich glaube an das Schicksal. Daran, dass Dinge aus einem bestimmten Grund geschehen. Alles spricht dafür, oder? Und ich glaube an Sterne, ja. Sie zu beobachten bringt uns dem Himmel nah, ohne dass wir die Füße vom Boden nehmen müssen.« Er deutete auf seine Schulter und mir wurde klar, was die Tätowierung darstellte.

»Du hast dir ein Teleskop tätowieren lassen?«

»Ein Galilei-Fernrohr. Ich wollte etwas, das bleibt. Ein Tattoo hat man für immer. Und ein Fernrohr, das den Himmel mit der Erde verbindet, fand ich passend.« Etwas schien ihn traurig zu stimmen, aber dann räusperte er sich und der Eindruck war verschwunden.

»Ich glaube«, fuhr Marlon fort, während das Firmament immer mehr winzige Sternchen unseren Blicken freigab, »dass einzelne Punkte im Leben feststehen. Wie die Sterne eben. Nichts hält sie, sie schweben frei und bleiben doch auf ihrem Platz, ohne dass du sie verschieben kannst.«

Ein kaum wahrnehmbares Schaudern ging durch seinen Körper. Ich spürte es dort, wo sich unsere Schultern berührten, und irgendwie, auch wenn ich es nicht erklären konnte, las ich Angst darin. Als wäre diese aus ihm herausgezittert. Um ihm etwas näher zu sein, legte ich meine Handfläche auf seine Brust, ohne den Blick von den Sternen zu nehmen. Es war faszinierend, denn je länger ich hinsah, umso mehr Sterne zeigten sich. Es war, als offenbarten sie sich nur denjenigen, die sie sehen wollten. Als wären sie sich zu schade für oberflächliche Blicke.

Marlon berührte meinen Handrücken, bevor er fortfuhr. »Fixpunkte stehen, aber schau dir all die Leere dazwischen an. Auf welchen Wegen und in welcher Reihenfolge wir durch unser Leben gehen, bleibt uns überlassen.« Er hob die Hand und wies mit seinem Zeige- und seinem Mittelfinger nach oben, zog Linien von einem Stern zum danebenliegenden. »Wir können kurze, direkte Strecken wählen. Straight forward. Oder wir taumeln im Dunkeln umher, machen Umwege, nehmen auf der Suche nach dem richtigen Weg hundert falsche.« Seine Finger zogen Kreise, Schleifen, Schlenker. Und lagen plötzlich an meinen Lippen. Glitten über meinen Mund, mein Kinn und zogen mein Gesicht sanft in seine Richtung.

Wenn ich ein Umweg für ihn war, dann war ich eindeutig für diese Umwege. »Was passiert, wenn ein Stern runterfällt?«, flüsterte ich.

»Dann geht einer unserer Fixpunkte verloren. Deshalb müssen wir uns etwas wünschen, wenn das passiert. Damit ein neuer aufleuchtet. Wusstest du nicht, dass jeder aufrichtige Wunsch irgendwo da draußen einen neuen Stern entstehen lässt?«

Ich schüttelte leicht den Kopf, ohne Marlon aus den Augen zu lassen, und dachte an die letzte Sternschnuppe, die ich wunschlos hatte vorbeiziehen lassen. »Nachdem ich zum ersten Mal hier gewesen bin, habe ich einen Stern fallen sehen und mir nichts gewünscht. Fehlt mir jetzt ein Fixpunkt in meinem Schicksal?« Belustigt zog ich die Augenbrauen hoch, aber Marlon blieb ernst und ließ sich nicht irritieren.

»Nein, du hattest Glück«, antwortete er leise, fast war es ein Flüstern. »Ich habe sie auch gesehen. Und mein Wunsch betraf uns beide.«

Ich rollte mich auf die Seite, stützte mich auf einen Arm und lehnte mich über ihn. Seine Hand blieb, wo sie war, in dem Winkel zwischen meinem Kinn und meinem Hals. Mit dem Daumen berührte er meinen Mundwinkel. Es gab so vieles, was ich ihm sagen musste, so vieles, das ich ihn fragen wollte. Vor mir lag ein Bild in Scherben, ein Bild, das die Wahrheit zeigte. Ich sah in Marlons Blick, der an meinen Lippen haftete, dass er mir alle Teile gegeben hatte und nun darauf wartete, dass ich sie zusammensetzte, aber mein Kopf verweigerte die Mitarbeit und mein Mund das Sprechen. Ich schloss die Augen, küsste ihn, um nichts sagen zu müssen, und merkte im gleichen Moment, dass der Kuss ihm alles verriet, was er von mir wissen wollte. Meine Wut lag in diesem Kuss, meine Angst, meine Entschlossenheit und all meine Zärtlichkeit. Hatte ich zuvor geglaubt, diese Emotionen würden nicht zueinander passen, sich gar widersprechen, lernte ich in diesem Moment, wie gut sie sich ergänzten. War das das ominöse Gefühl, das man Liebe nannte?

Als ich die Lippen von seinen löste, prickelten sie, brannten gar ein wenig von seinen feinen, sandigen Bartstoppeln. Marlon öffnete die Augen zur Hälfte, schluckte so hart, dass ein klackendes Geräusch aus seiner Kehle drang, und brachte etwas in mir zum Kochen, sodass ich nicht mehr wusste, ob ich ihn küssen, streicheln oder schlagen wollte.

»Geh nicht weg«, wisperte ich. Dann musste ich die Zähne zusammenbeißen und die Finger in seine Oberarme graben.

Bitte, bitte, geh nicht weg.

Ich hatte angenommen, er würde mir hier oben nicht ausweichen können, aber er tat es trotzdem, indem er an mir vorbei in den Himmel sah. Die Sterne und Wolken spiegelten sich in seinen Augen.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, sah ich in den Nachthimmel. Um uns herum wurde es lauter. Wind kam auf und riss die ersten Blätter von den Bäumen. In meinen Ohren warfen Marlons Worte über die Sterne Echos. Und dann kippte einer dieser Gedanken und löste eine Kettenreaktion aus.

Astrologie ließ einen Menschen, der mit beiden Füßen auf dem Boden stand, in den Himmel sehen. Marlon mit den kohlrabenschwarzen Augen musste fortgehen und brauchte etwas, das ihm half zurückzukommen. Raben suchten Erinnerungen. Seine Geschichte vom Meer war ein Spiegel und wie in seinen Augen spiegelte sich im Meer … spiegelte sich im Meer …

Der Himmel.

»Du …« Ich brauchte alle Willenskraft, um die Worte herauszupressen. »Du wirst in den Himmel gehen.«

Das ergab keinen Sinn oder vielleicht doch, nur konnte ich diesen nicht greifen. Mein Kopf war verstopft von einer alles verdrängenden Furcht.

Erbkrankheit. Seine Eltern waren fort, doch er würde bald wieder bei ihnen sein. Und überall der verdammte Himmel.

Sag, dass du nicht stirbst. Sag, dass du nicht stirbst.

»Sag, dass du nicht … stirbst.«

»Ich sterbe nicht.«

Warum erleichterte mich seine müde Antwort kein bisschen? Ich krallte mich in seine Schultern, hielt mich an ihm fest oder hielt ihn bei mir und tat ihm mit Gewissheit weh. Warum diese Geschichte vom Meer? Damit er nichts Verbindliches sagen musste? Um gehen zu können? Und mich ohne den wahren Grund zurückzulassen? Warum fragte ich mich das noch? Ich wusste es längst. Ich kannte ihn.

»Sondern?«

Marlons Miene blieb hart wie Eisen, er mied meinen Blick. Über seinem Gesicht lag der Schatten aus Misstrauen dichter und finsterer als je zuvor. »Du weißt es, Magpie. Sprich es aus. Sag es, ich kann das nicht. Ich habe es dir gezeigt, nun musst du es erkennen.«

Wind fuhr mir ins Haar, kroch kühl unter meine Kleider. Ich wollte erwidern, dass ich es nicht aussprechen konnte. Herrgott, ich war doch nicht verrückt! Aber dann quollen die Worte doch über meine Lippen, nicht einmal hinter Ironie oder dem Versuch zu scherzen versteckt, sondern so selbstverständlich, dass mir fast das Herz stehen blieb, als ich sie aus meinem Mund hörte.

»Du denkst, dass du dich in einen Vogel verwandeln wirst. In einen der Raben.«

Sein Blick traf auf meinen. Irgendetwas an Marlon veränderte sich und machte ihn mir fremd. Ich brauchte ein paar Atemzüge, ehe mir klar wurde, was es war. Die Maske aus Misstrauen. Sie erzitterte, bekam haarfeine Risse, die sich wie ein Geflecht über sein Gesicht ausbreiteten. Dann brach die Maske weg. Nichts deutete auf eine Schwachstelle hin. Und doch erkannte ich, dass Marlon zum ersten Mal vollkommen schutzlos war. Keine Lüge, kein Geheimnis mehr. Nie hatte ich etwas Zerbrechlicheres in den Händen gehalten als diesen Augenblick. Die Welt kümmerte sich nicht darum, aber mein Universum begann zu beben, als Marlon sich aufrichtete, bis er mir gegenübersaß und leicht auf mich heruntersah. Ich glaubte zu weinen, weil mir plötzlich Wasser über die Wangen lief, erkannte dann aber, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Schwere Tropfen, die auf die Dachlatten klopften und ploppende Laute verursachten, wenn sie in unsere vollen Teetassen fielen.

»Noa? Glaubst du mir?«

Ich war mir nicht sicher, ob er die Frage aussprach oder so intensiv dachte, dass ich sie hören konnte. Gern hätte ich gelacht, gesagt, dass er einen Vogel hatte, oder die entsprechende Geste gemacht. Ich wollte ihm nicht glauben. Aber ich konnte nicht anders, weil es wahr war.

Ich nickte, erst ganz zaghaft, dann heftig. Real wurde es dennoch erst, als ich es aussprach. »Ich glaube dir.«

Und von dem Moment an drehte sich meine Welt in die andere Richtung.

Wir mussten dem Platzregen danken, denn hätte er uns nicht vom Dach getrieben, wären wir vermutlich die ganze Nacht bewegungslos und schweigend dort sitzen geblieben. Ich paralysiert von der unglaublichen Enthüllung, Marlon – so nahm ich an – von der Tatsache, dass ich nicht sofort die Männer mit den Hab-mich-lieb-Jacken alarmierte. Er hatte es tatsächlich nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch ihm glauben würde. Er hielt mich also für nicht ganz normal – na, prächtig. Mit seinen Geschichten und Halbwahrheiten hatte er sich Fluchtwege offengehalten, kleine Sicherungen gebaut, um sich zu schützen, sollte ich ihn für verrückt erklären.

Marlon kletterte zuerst vom Dach. Ich reichte ihm die Thermoskanne, die Tassen sowie die Decke und sprang, bevor er die Hände frei hatte, um mir behilflich zu sein. In der Laube schien das Prasseln des Regens verstärkt, es war nervenzerfressend laut und schluckte meine ersten verzagten Fragen nach dem Wie und Warum.

»Sind es die Raben? Sind sie …«

Marlon zuckte unruhig mit den Schultern und sah mich nicht an. »Nicht alle. Ich weiß es nicht genau, bei manchen kann man es nicht mehr erkennen.« Er lief in der kleinen Hütte auf und ab, stellte Kerzen von links nach rechts, schob einen Eimer über den Boden, stopfte ein Handtuch in das undichte Fenster und wischte schließlich den Tisch ab, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Ich nahm ihm das Tuch aus der Hand, hielt seinen Unterarm fest und bemerkte erst dann, was er überhaupt tat. Vor uns auf dem Holztisch zerplatzten Wassertropfen, die sich ihren Weg durchs Dach gebahnt hatten. In dem Eimer, der nun neben seinem Bett stand, wies ein leises Plopp-plopp-plopp darauf hin, dass auch hier das Dach undicht war.

»Es regnet rein«, stellte ich fest. Welch grandiose Erkenntnis – Glückwunsch, Noa! Er wusste das längst und hatte versucht, es mich nicht merken zu lassen. Beklommen biss ich mir auf die Unterlippe.

»Tut mir leid«, sagte er, wühlte in einem Rucksack, zerrte eine Jacke hervor und warf sie mir zu. »Zieh die über, ich bringe dich nach Hause.«

Ich biss fester. Wusste ich nun zu viel und er wollte mich loswerden, ehe ich Fragen stellte? Ich konnte doch jetzt nicht gehen. Außer …

»Kommst du mit?«

Er zuckte erneut mit den Schultern. »Ich schick dich doch nicht allein durch den Regen.«

»Nein, ich meine, ob du mit zu mir kommst. Zu mir nach Hause.« Um ein wenig bei mir zu bleiben. Ein paar Stunden, dachte ich. Oder über Nacht. Lieber noch für immer.

»Deine Eltern werden etwas dagegen haben, wenn du nachts nasse Fremde mitbringst«, entgegnete er, als wir vor die Tür traten. Mich schützte seine Jacke. Er schien den Regen im Gesicht zu genießen, als würde dieser seine Anspannung fortwaschen. An dem kurzen, behaglich wirkenden Durchstrecken seiner Schultern erkannte ich den Moment, als das Wasser sein Sweatshirt durchdrang. Ich schob meine Finger in seine Handfläche und versuchte mir vorzustellen, er hätte Flügel, Klauen und glänzend schwarze Federn, an denen der Regen abperlte. Es gelang mir viel zu leicht.

Ich räusperte mich. »Mein Vater ist bei der Arbeit. Er hat Nachtschicht, kommt also erst morgen früh um sieben nach Hause und wird dann schlafen wie ein Toter.«

Ob er erkannt hatte, wie weit meine Planung ging? Er ließ es sich nicht anmerken.

Wir passierten ein paar vergessene Lavendelsträucher, die im Regen so schwer dufteten, dass das Atmen fast lästig wurde.

»Was ist mit deiner Mutter?«

»Meine Eltern sind getrennt.« Sein Griff um meine Hand wurde fester und ich sagte rasch: »Das muss dir nicht leidtun, es ist okay. Wir kamen einfach nicht mehr miteinander aus. Sie lebt die meiste Zeit im Ausland und sie ist glücklich dort.« Ich rieb mir einen Regentropfen von der Nase, der mich kitzelte. »Deine Eltern und dein Bruder … sind sie auch … so wie du?«

»Harpyien«, sagte Marlon laut und beobachtete mich dabei genau.

Harpyien.

Ich drängte mit aller Kraft das Bild zurück, das mir in den Sinn kam, und sah stattdessen Marlon an. Er tastete mein Gesicht mit seinem Blick ab, vermutlich forschte er nach einem Hinweis, dass ich ihm doch nicht glaubte. Aber seine Chance zur Flucht war vorüber und auch ich machte keinen Rückzieher. Ich wollte ihm nicht mehr misstrauen, ich wollte mehr erfahren.

Ich nickte ihm aufmunternd zu, damit er weitersprach.

 »Ja, sie sind wie ich. Es ist keine Seuche, nicht ansteckend oder übertragbar. Wir sind eine Unterart des Menschen, von Geburt an. Der Legende nach ist es ein Fluch, der einst über ein Dorf verhängt wurde, weil die Menschen mit ihrem Leben am Boden unzufrieden waren und blasphemisch nach Macht über den Himmel verlangten. Andere sagen, es sei kein Fluch, sondern die göttliche Erfüllung dieses Wunsches.«

»Was glaubst du?«

Er gab keine Antwort, vermutlich, weil er sich selbst nicht sicher war.

Harpyien. Das war also das Wort, das zwischen uns gestanden hatte. Harpyien – Menschen, die sich in Vögel verwandelten. Ich wiederholte es in Gedanken, dann formte ich es lautlos mit den Lippen.

Marlon musste trotzdem etwas gemerkt haben, denn er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Glaub nur nicht, wir würden aus Eiern schlüpfen.«

»Natürlich nicht.« Ich schnalzte mit der Zunge, als hätte ich Ahnung, und rieb mir verlegen die Nase. »Du wirst mir einiges erklären müssen. Ihr verwandelt euch also in Raben.«

»In Vögel«, korrigierte er. »Ich stamme aus einer Rabenfamilie, aber es gibt auch andere Arten. Kleinere und unauffälligere. Die haben es etwas leichter.«

»Das ist reichlich verwirrend. Bis eben dachte ich, Harpyien …«, ich stockte, weil mir das Wort so leicht über die Lippen gekommen war. »Na ja, ich dachte bei dem Begriff bisher an hässliche Frauen mit Hängebrüsten, Schnäbeln und Flügeln.«

»Wir sind eine alte Rasse«, erklärte Marlon. »Zu Zeiten, als nur hohe Gelehrte das Schreiben beherrschten, erzählte man sich Geschichten allein über Bilder. Ein Mischwesen aus Mensch und Tier sieht dramatischer aus als eine vollständige Verwandlung in eine andere Gestalt. Daher kommen die Mythen.«

Wir überkletterten das Tor der Kleingartenanlage und traten auf die Straße. Die Stadt erschien mir plötzlich unheimlich, als hätte das Wissen, dass Fabelwesen existierten – und dass ganz nebenbei Marlon, mein Freund, eins von ihnen war –, ihr die vertrauten Farben entzogen und sie neu koloriert. Ob da draußen wohl noch andere Geschöpfe herumliefen, von denen ich nichts wusste?

»Gibt es auch Menschen, die sich in andere Tiere verwandeln können?«, fragte ich im Flüsterton.

Marlon seufzte. »Wenn, dann verstecken sie sich gut.«

»Und die Meereswesen?«

»Fantasie. Ich habe zumindest noch keine Nixe kennengelernt.« Er errötete hauchzart, ich sah es trotz der Dunkelheit. »Ich mag das Meer und es hat mit unserer Verwandlung zu tun. Und es …«

»Spiegelt den Himmel.«

Er lächelte und ich führte den grausamen Gedanken fort, dass die Tochter des armen Königs, der zum ersten Huntsman geworden war, von einem von Marlons Volk geraubt worden war. Von einer Harpyie.

Aber nicht von Marlon.

»Wie viele seid ihr?«

»Nur wenige. Harpyien zu finden, ist wie die Suche nach einer Muschel im Meer. Spätestens wenn sie ihre Kinder verlassen haben, vergessen sie endgültig, dass sie zum Menschsein fähig sind. Aber die meisten verwandeln sich schon nach der ersten Metamorphose nicht zurück. Nie.«

Unweigerlich griff ich wieder nach seiner Hand, verflocht meine Finger mit seinen, als würde er sonst fortfliegen. »Ist es das, was Corbin mir zu sagen versucht hat? Brauchst du mich dafür? Um einen Anreiz zum Zurückkommen zu haben?« Es auszusprechen war seltsam. Ich konnte ihm kaum so wichtig sein, dass er für mich die Freiheit des Himmels aufgeben würde. Mir schwindelte beim bloßen Versuch, mir vorzustellen, wie es wohl wäre, fliegen zu können wie ein Vogel.

»Es ist nicht richtig«, murmelte er betrübt. Seine Finger zuckten, er machte Anstalten, mir seine Hand zu entziehen, aber ich ließ nicht los. »Man hat uns gesagt, dass diejenigen, die sich in einen Menschen verlieben, es meist schaffen zurückzukommen. Ich wollte es trotzdem nicht. Es ist nicht fair.«

Wir waren bei mir zu Hause angekommen, ich drehte den Schlüssel im Schloss, blieb aber stehen, auch als die Tür schon offen stand.

»Musst du dich denn ver… Ich meine, musst du wirklich gehen? Im August schon?«

Marlon nickte und flüsterte: »Die Verwandlung findet meist in meinem Alter statt. Sie ist nicht ganz ungefährlich. In der ersten Vollmondnacht im August, in der Nacht, in der man damals das Lammas-Fest feierte, gelingt sie den meisten, daher müssen wir dieses Datum nutzen. Wer weiß, vielleicht stehen zu dieser Zeit die Sterne günstig. Der Himmel ist dann voll von Magie. Man kann sie regelrecht spüren. Wir werden von anderen unserer Art abgeholt, die auf diese Magie reagieren wie auf ein geheimes Zeichen der Natur. Sie unterstützen die Verwandlung und lehren uns das Leben als Vogel.« Er versuchte sichtlich, mir sachlich zu erklären, was geschehen würde, aber ich sah die Angst hinter der kühlen Fassade.

Als wir durchs Treppenhaus nach oben gingen, kam mir der Gedanke, dass er mir vielleicht einfach nur ein Märchen erzählte, um mich ins Bett zu bekommen. Die Idee gefiel mir, ich versuchte sie festzuhalten und ihr mehr Glauben zu schenken. Die Vorstellung von einem lügenden Marlon, dem es auch in Zukunft gut gehen würde, gefiel mir besser als die von einem ehrlichen Marlon, dem etwas bevorstand, das ihn offenbar so sehr ängstigte. Leider spürte ich zu deutlich, dass er nicht log.

»Im Gegensatz zu deinem Zimmer ist es ziemlich langweilig«, sagte ich, als ich die Tür zu meinen vier Wänden aufstieß.

»Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen, als aus dem Pappkarton zu leben, egal wie kreativ der Mensch war, der meine Wände bemalt hat.« Marlon sah sich neugierig um, tippte meine am Schrank baumelnden Feuerpoi an und verrieb ein wenig Ruß zwischen den Fingern. Er betrachtete eine an der Wand hängende Fotocollage von mir und Rosalia und begutachtete meine CD- und DVD-Stapel, die überall im Raum verteilt standen. Als er den Meisenknödel hinter der Fensterscheibe entdeckte, warf er mir einen tadelnden Blick zu.

Ich erinnerte mich, dass einer der Raben auf meiner Fensterbank gesessen hatte, dass ich ihn und seine Artgenossen beobachtet und ihnen Futter zugeworfen hatte. Mit einem Mal war ich erschüttert. Sie waren keine Vögel, keine Tiere, sondern Menschen … wie Marlon. Erst jetzt schien ich endgültig zu begreifen, als hätte mein Gehirn mir zuvor Zeit zum Durchatmen gönnen wollen und die Wahrheit nicht vollständig zugelassen. Er würde werden wie sie, ob er wollte oder nicht. Diese Erkenntnis traf mich so schmerzvoll, dass ich den Raum verlassen wollte. »Hast du schon zu Abend gegessen?«, fragte ich, weil mir außer der Küche kein Ort einfiel, an den ich hätte fliehen können.

Marlon deutete meine Frage falsch, blickte grüblerisch zwischen mir und dem Meisenknödel hin und her, rang eine Sekunde lang um Fassung und brach dann in schallendes Gelächter aus. Er versuchte sich das Lachen zu verkneifen, als er bemerkte, wie schockiert ich ihn anstarrte, presste sich eine Faust vor den Mund, doch er war machtlos angesichts der Absurdität. Das Lachen sprudelte aus ihm heraus, bis ihm Tränen über die Wangen liefen und er nach Luft schnappen musste. Vermutlich war es die Anspannung, die Erleichterung, dass er sein Geheimnis mit mir geteilt hatte, sowie die Schrecken des Tages – all das brach nun aus ihm hervor.

Auch ich musste zaghaft kichern. Marlon hielt sich den Bauch, ließ sich auf den Boden fallen und stieß dabei gegen den Turm aus PSX-Spielen, der kippte, sodass die Hüllen über den Teppich schlitterten. Ich prustete los und ließ mich neben Marlon sinken. Mit bebendem Zwerchfell drückte ich mich an ihn, zupfte ihm die Haare aus der Stirn, spürte seine Brust zucken und konnte nun selbst nicht mehr aufhören zu lachen. Ich wollte ihn küssen, aber wir schlugen nur mit den Zähnen gegeneinander und warfen bei dem Versuch, uns zu umarmen, meinen Schreibtischstuhl um. Wir lachten, bis mir der Bauch wehtat und mein Gesicht völlig verkrampft war, konnten aber noch immer nicht aufhören. Was sollten wir auch anderes tun? Er war verzweifelt, ich verstört. Überwältigt waren wir beide. Was blieb uns anderes übrig, als zu lachen und zu weinen und uns aneinander festzuklammern, als hinge unser Leben davon ab?

Als wir uns endlich wieder fingen und das Lachen abebbte, um gelegentlichem Kichern und dem Geräusch hemmungslos hochgezogener Nasen Platz zu schaffen, konnten wir uns kaum ansehen. Marlons Gesicht lag an meiner Brust, Emmas T-Shirt war feucht von seinen Tränen. Meine rannen mir in den Halsausschnitt und juckten mich dort.

Als Marlon das Gesicht wieder Richtung Fenster drehen wollte, zog ich sein Kinn schnell zu mir. »Nicht zum Knödel gucken«, warnte ich ihn, darum bemüht, möglichst ernst zu schauen. »Noch einen Lachkrampf überlebe ich nicht.« Das war ernst gemeint, unter meinen Rippen schmerzte es so sehr, dass ich mich kaum bewegen konnte. Ich schniefte und befürchtete, nun ernsthaft weinen zu müssen, weil ich ein paar Sekunden ausschließlich glücklich gewesen war und der schreckliche Moment näher kam, an dem dieses pure Glück wieder zersplittern würde.

Ob Marlon mir das ansah oder ob es ihm ähnlich ging, wusste ich nicht, aber er legte mir eine Hand über die Augen, machte leise »Schschsch« und küsste mich. Es wurde der eigenartigste Kuss meines Lebens, denn unsere Lippen waren völlig verkrampft. Wir kämpften beide gegen einen erneuten Lachanfall an, ich zudem gegen meine Tränen – und küssten uns. Meine Hände glitten ohne einen Anflug von Scheu unter sein T-Shirt, als hätten wir uns schon tausendmal halb totgelacht und uns danach wieder lebendiggeküsst. Er hielt mir die Augen zu, erlaubte der Welt nicht, mich dabei zu stören, seinen Rücken und seine Schultern zu streicheln. Wir küssten uns, bis es wieder gut war, bis wir wieder atmen und uns ansehen konnten – was wir taten, bis sich meine Augen vor Erschöpfung wund anfühlten und ich sie schließen musste. Es war anstrengend, Marlon anzusehen. Er hatte eine derart intensive Art, mich zu beobachten, dass es schien, als sauge er die Energie aus mir heraus, um sie mit den Details meines Gesichts in sich aufzunehmen und Teile von mir mit sich zu tragen, wohin er auch ging. Ich schauderte, lehnte mich an die Heizung, die kalt gegen meine Schultern drückte, und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Mir war, als fühlte ich seine Blicke auf meiner Haut. »Was machst du?«, flüsterte ich und bemerkte, dass ich heiser klang.

»Ich präge mir ein, wie du aussiehst.« Auch seine Stimme war rau.

Ich kicherte müde. »Wie sehe ich denn aus? Verquollene Augen? Wunde Nase?« Ich kratzte mich an ebendieser, was den Zustand nicht verbesserte.

»Hmhm«, machte er zufrieden. Er berührte hauchzart den prickelnden Bereich über meiner Oberlippe. »Ich muss mir merken, wie sich deine Haut von ein paar harmlosen Küssen rötet.«

»Pff, harmlos.«

»Und ich muss mir das Geflecht dieser winzigen Adern auf deinen Lidern einprägen.«

»Kannst du das etwa noch nicht auswendig aufmalen?« Ich öffnete die Augen, beobachtete, wie sein Blick und sein Zeigefinger dem Schwung meiner Augenbrauen folgten.

»Ich wünschte, ich könnte ein Bild von dir mitnehmen. Damit ich dich nicht vergesse.«

»Du vergisst mich bestimmt nicht.«

Noch während er sich wegdrehte, stand er auf und mir war sofort klar, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Ehe ich ein Wort erwidern konnte, sah er auf die Armbanduhr. »Ich sollte gehen. Es ist spät.«

Draußen regnete es so heftig, als wollte der Himmel die ganze Stadt wegspülen. Wenn man aus dem Fenster sah – und es schaffte, am Meisenknödel vorbeizuschauen –, schien es, als wäre die Nacht eine einzige große Wassermasse.

Ich erhob mich und schloss meine Hände um Marlons Unterarm, als wollte ich ihn gewaltsam festhalten, sollte es nötig werden. »Du musst nicht gehen. Du wirst ganz nass und in deiner maroden Hütte kannst du bei dem Wetter unmöglich schlafen.«

»Heißt das, ich soll bei dir schlafen?« Sein Ton war neckend, aber ich würde mich von ihm sicher nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Meine Freunde übernachten häufiger mal bei mir. Ist doch nichts dabei.« Das war übertrieben. Rosa schlief häufiger bei mir, Dom war zuletzt über Nacht geblieben, als wir zehn gewesen waren.

»Wirklich nicht?«, hakte er nach. »Da ist gar nichts bei?«

Zufrieden registrierte ich ein winziges Funkeln in seinen Augen, das man mit gutem Willen für Eifersucht halten konnte. Leider trieb seine Antwort auch ein wenig Hitze in meine Wangen. Marlon verstand sich vortrefflich auf Zweideutigkeiten. Ich war allerdings auch nicht ganz ohne.

»Vielleicht mache ich für dich irgendwann eine Ausnahme. Für heute aber will ich dich nur nicht in den Regen rausschicken. Oder hast du zufällig eine Ente in der Verwandtschaft?«

Er lachte, verzog das Gesicht, offenbar schmerzte auch sein Zwerchfell, und hob beide Hände. »Ich gebe mich geschlagen, ehe du mit gehässigen Hähnchenwitzen anfängst. Darf ich zuerst ins Bad?«

Ich verneigte mich ein Stück. »Erste Tür links, werter Herr. Handtücher sind im Weidenkorb unter dem Waschbecken.«

Ich schloss die Tür hinter ihm, lehnte mich gegen das Holz und dankte dem Himmel für die Sterne, den Regen und für Marlon. Den Gedanken, dass er ihn mir auch wieder wegnehmen würde, verbannte ich. Rasch schlüpfte ich aus meinen Kleidern, zog ein bequemes T-Shirt und eine Pyjamahose an. Marlon zum Schlafen Wäsche meines Vaters zu geben, wäre mir seltsam vorgekommen, aber ich hatte zum Glück ein paar ausreichend große Band-T-Shirts und entschied mich für eins von den Stones. Klassisch, nicht ganz neu und gern getragen – das passte zu Marlon. Ich warf es ihm zu, als er zurückkam, und ging ins Bad.

Nach einer eiligen Katzenwäsche fand ich Marlon wie selbstverständlich in Boxershorts mit gekreuzten Beinen auf meinem Bett sitzend vor. Mir lag ein frecher Kommentar auf der Zunge – zum Beispiel, wie er auf die Idee kam, im Bett schlafen zu dürfen, und ob er sich nicht lieber auf die Gardinenstange setzen wollte. Aber die lieb gemeinten Gehässigkeiten vergingen mir, als ich sah, wie müde er wirkte. Ich hatte ihn einmal gefragt, ob er je entspannt war. Vielleicht wenn ich schlafe, war seine Antwort gewesen. Ich wäre gerne die ganze Nacht wach geblieben, wenn ihm das helfen würde, ruhiger zu schlafen. Ich schloss meine Zimmertür zweimal ab und versprach im Stillen, diese Nacht auf ihn aufzupassen.

Ich zog die Vorhänge zu, ließ aber die Rollläden nicht herunter, da der Regen zu laut dagegengeprasselt hätte. Dicht neben dem Fenster blieb ich stehen, überlegte, ob ich Marlon eine zweite Decke holen sollte oder eine Flasche Wasser für die Nacht oder weiß der Teufel was. Das Licht auszuknipsen und mich zu ihm ins Bett zu legen, schien mir von einer Sekunde auf die andere unvorstellbar. Herrgott, jetzt fürchtete ich mich schon vor meinem Bett! Normalerweise hörte ich Musik zum Einschlafen, aber ich zog die Hand zurück, die ich bereits nach den CDs ausgestreckt hatte. Vielleicht würde ihn das denken lassen, ich wollte romantische Stimmung schaffen, und dann würde er glauben, dass ich … Ja, was? Mit ihm schlafen wollte? Vielleicht dachte er das sowieso. Ich hatte ihn ja förmlich angebettelt, über Nacht zu bleiben.

»Noa? Komm her.« Seine Stimme war ebenso fest wie weich und ebenso verlockend wie furchterregend. Ich suchte fieberhaft nach einer Ausrede, das Zimmer noch einmal zu verlassen, aber dann riss ich mich zusammen, ging zu meinem Bett und setzte mich auf den Rand der Matratze.

Er zupfte an den Spitzen meiner Haare. »Soll ich gehen?«

Gehen oder … anfangen? »Ähm, wie bitte? Was hast du gesagt?«

»Du hast mich verstanden.«

»Nein. Nein, du sollst nicht gehen.« Aber sag mir, dass du einfach nur schlafen willst, denn alles andere kommt zu plötzlich, und zurückweisen kann ich dich nicht, weil ich nicht weiß, ob ich das will.

»Gut.« Er rutschte zum Fußende, streckte sich nach dem Lichtschalter aus und übergoss mich mit Schwärze.

Mein Magen fühlte sich an wie beim Zirkeltraining, während der letzten drei von dreißig Sit-ups. Zwanzig Zentimeter fragiler Sicherheitsabstand trennten uns. Raum, den ich mutig um ein paar Millimeter verringerte, indem ich meinen Arm bewegte. Ich gewöhnte mich an die Dunkelheit und wagte einen zaghaften Blick in Marlons Richtung. Seine Augen waren offen und sehr schwarz und mein Mund war offen und sehr trocken. Ich zog den Arm wieder an mich, um die zwanzig Zentimeter wiederherzustellen, da drehte er sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und lehnte sich über mich. Mein Herz machte Radau, mein Magen krampfte und meine Lunge verweigerte die Mitarbeit.

Marlon küsste meine Stirn und murmelte etwas, das ich erst ab dem zweiten Satz verstand.

»All I wished and all I wanted was to kiss you goodnight in the dark. Now kissing you goodnight in the dark is nothing but wishing, and wishing, you know, is everything I ever want in the dark of the sky.«

»Ein Song?«, hauchte ich. Zu mehr reichte mein Atem nicht.

Marlon nickte, sein Haar fiel über mein Gesicht und roch nach ihm. »Corbin hat ihn geschrieben. Ich habe ihn aber nie verstanden, bis ich dich kennenlernte. Schlaf gut, Magpie.«

Schlaf gut? Wie witzig, Marlon.

Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Ich beobachtete ihn, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er tatsächlich ruhig und entspannt neben mir liegen konnte. Aber er konnte es.

»Warum nennst du mich so?«, fragte ich irgendwann in die Stille.

Er schmunzelte mit geschlossenen Lidern, aber ich war nicht sicher, ob es amüsiert oder traurig wirkte. »Wenn du eine Elster wärst, könnte ich dich mitnehmen und niemand hätte etwas dagegen, weil Raub nichts Schlimmes für Elstern ist.«

»Ja, wenn ich fliegen könnte.« Ich seufzte. »Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie es ist, zu fliegen?«

»Ich weiß, wie es ist.« Seine Stimme klang düster und selbst im Dunkeln konnte ich die Anspannung sehen, die sich um seine Mundwinkel spann. Er nahm meine Hand. »Ich träume davon. Es ist grenzenlos. Die Erde unter dir ist die einzige Grenze, die du hast. Über dir ist nichts. Du kannst so hoch fliegen, wie du möchtest, so hoch, wie du es schaffst.«

In meinem Magen kribbelte es. Als säße ich auf einer Schiffsschaukel, am höchsten Punkt, genau in dem Moment, wenn es wieder nach unten geht und man sich für einen Sekundenbruchteil schwerelos fühlt.

»Der Wind«, fuhr Marlon fort, »schlägt dir nicht ins Gesicht, er trägt dich. Wenn du die Flügel ausbreitest, fängt er sich zwischen deinen Federn. Du spannst die Muskeln an, jede Sehne. Mit jedem Flügelschlag nutzt du die Luft und den Wind, sie geben dir Widerstand, schaffen dir genug Masse, damit du dich davon abstoßen, und genug Freiraum, damit du darin eintauchen kannst. Sie halten dich im Arm, aber sie halten dich nicht fest.« Marlon strich meinen Unterarm entlang, vom Handgelenk zur Ellenbeuge, und die Berührung wanderte ohne sein Zutun weiter bis zu meinem Herzen.

»Irgendwann wird die Luft zu dünn, der Wind zu eisig. Aber keiner sagt dir, was du tun sollst, was du kannst oder darfst. Du kannst alle Grenzen überschreiten, wenn du Mut hast. Deine einzige Grenze bist du selbst. Du bist frei zu tun, was immer in deiner Kraft liegt.«

Ich seufzte erneut und bedauerte ernsthaft, nicht seine Elster zu sein, nicht mit ihm gehen zu können. »Der Traum vom Fliegen«, flüsterte ich.

»Richtig«, stimmte Marlon zu und plötzlich war seine Stimme so hart, dass ich einen kalten Druck von der Intensität einer Stahlklammer im Nacken spürte. »Nur dass du dann keine Träume mehr kennst. Keine Träume und keine Wünsche mehr, keinerlei Interesse, deine Grenzen zu erweitern. Tiere«, er spuckte das Wort fast aus, »haben keine Träume.«

Ich lag eine gefühlte Ewigkeit da, sah an die Decke und suchte nach Worten.

»Aber du bist kein Tier«, sagte ich schließlich. »Du bist Marlon.«

Er neigte den Kopf und sah mich an, ausdruckslos, als verstünde ich nichts. »Bis zum ersten Vollmond im August.«

Ich wollte es nicht begreifen. Die ganze Wahrheit war so viel weitreichender, als ich zunächst angenommen hatte. Sie lag offen vor mir, aber ich weigerte mich, sie anzurühren, weigerte mich, sie in meinen Kopf zu lassen, weil das, was er mir soeben zu sagen versucht hatte, schlimmer war als meine verklärte Vorstellung von einem Jungen, der sich in einen Vogel verwandelte. Leider kroch mir das Wissen dennoch in den Kopf, sosehr ich auch die Fäuste ballte, mir die Nägel in die Handfläche grub und die Lippen zusammenpresste, als könnte pure Willenskraft daran etwas ändern, als könnte sie mich davor bewahren, zu begreifen. Aber ich begriff. Er würde sich nicht verwandeln. Er musste zu einem Vogel werden. Die Worte meiner Oma kamen mir in den Sinn: In ihren Augen ist die Grausamkeit des Himmels.

Sie hatte recht. Ich hatte es damals nicht verstanden, aber der Himmel war grausam. Ich erkannte es, wenn ich in Marlons Augen sah. Er würde fliegen und seine Träume, seine Wünsche und alles, was ihn ausmachte, hinter sich auf der Erde lassen.

Marlon würde aufhören zu existieren.

»Ich werde dich vergessen, Noa.« Seine Stimme war so leise, dass es wehtat, ihr zu lauschen. »Ich werde alles vergessen und es wird nichts geben, was mich das bedauern lässt. Ich werde nichts bereuen und mir wird nichts fehlen. Ich werde mich selbst vergessen. Meine einzige Chance, wieder zu mir zu finden, liegt darin, mich trotzdem zu erinnern. Dazu braucht es ein Wunder.«

Du wirst dich erinnern, dachte ich, aber ich sagte etwas anderes.

»Ich werde dich nicht vergessen.«

Wir schliefen noch lange nicht, sahen einander nicht an und berührten uns nicht, abgesehen von meiner Hand, die in seiner lag, bis unsere Handflächen nass geschwitzt waren. Wir ließen dennoch nicht los. Wir redeten.

Er fragte mich nach meinen Zukunftsplänen und ich verriet ihm, wie ahnungslos ich davorstand und wie dankbar ich war, durchs Abitur etwas Zeit zu haben. Ich erzählte ihm von meiner Vorliebe für Sport und Mathe sowie von meinen Schwächen in Deutsch und dass ich das Theaterspielen in der Schul-AG liebte, obwohl mir das Lernen der Texte schwerfiel. Wir lachten leise über meinen Kindheitstraum, Schauspielerin zu werden, aber insgeheim überlegte ich, ob er sich wohl an mich erinnern würde, wenn mein Bild auf großen Filmplakaten in jeder Stadt zu sehen wäre.

Er erzählte mir von seiner Schulzeit, davon, wie gerne er immer schon erzählt und gesprochen hatte und wie wenig es ihm gelungen war, weil Worte für ihn wie arrogante schöne Mädchen waren, die sich aus der Ferne bewundern ließen, sich jedoch abwandten, wenn man sie ansprechen oder nur näher in Augenschein nehmen wollte.

»Wenn alles anders wäre«, fragte ich ihn, »wo wärst du in fünf Jahren und was würdest du tun?«

Marlons Antwort ließ nicht lange auf sich warten und verwirrte mich. Ich hatte gedacht, er sähe sich als Schriftsteller oder als Astronom. Es war schließlich nichts als ein Wunschtraum, warum also nicht in den Wolken schweben? Stattdessen sagte er todernst: »Ich wäre Bauer. Ich hätte ein Feld, um in der Erde herumzuwühlen, einen Trecker, ein paar Kühe, in deren Stall Musik laufen würde, damit sie bessere Milch gäben, außerdem Hühner und einen Hund, der die Krähen verjagte. Ich wäre ständig damit beschäftigt, Mist wegzumachen und am Hungertuch zu nagen, weil Landwirte wirklich schlecht verdienen. Zudem hätte ich eine höchstwahrscheinlich erfolglose, aber nichtsdestotrotz wunderbare, verfressene Schauspielerin durchzufüttern. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich der glücklichste Bauer der Erde wäre?«

Ich hatte keine Ahnung, wie glücklich der gemeine Durchschnittsbauer war, aber ich glaubte Marlon. Es war das Bild, mit dem ich einschlief, als er noch wach lag.