Donnie spähte über den Rand des flachen Teerpappedachs in die schmale Gasse hinunter, die zwischen dem Gebäude, in dem Luca Brasi wohnte, und dem kleineren Lagerhaus dahinter verlief. Überall auf dem Dach des Lagerhauses standen wild durcheinander Kisten, und ein Dutzend Männer ging mit Kartons auf der Schulter durch eine Tür, die von einer Kette offen gehalten wurde, ein und aus. Hinter Donnie flog eine Hochbahn über die Third Avenue, und das Klappern und Kreischen von Schienen, Lokomotive und dahinrasendem Metall wurde von den Gebäuden zurückgeworfen, die sie wie ein Tunnel umsäumten. »Himmel noch mal«, sagte Donnie, als Willie hinter ihn trat, »nebenan findet ein gottverdammter Kongress statt.« Er schob Willie zurück zur Dachmitte, außer Sichtweite der Arbeiter.
»Was ist denn da los?«, fragte Willie.
»Woher soll ich das wissen?« Neben einer verschlossenen Tür, die in das Gebäude hinunterführte, lag eine Brechstange. Donnie hob sie auf und wuchtete sie sich auf die Schulter. »Wo zum Teufel steckt Sean?«
»Steht Schmiere.«
»Wozu das denn? Herrgott, Willie, muss ich dir alles erklären? Los, hol ihn!«
»Sollen wir nicht erst schauen, ob wir das Schloss aufkriegen?« Donnie zwängte die Brechstange zwischen Schloss und Rahmen und stemmte die Tür auf. »Jetzt hol ihn schon.« Er schaute Willie nach, der zu den schwarzen Sprossen der Leiter hinübertrabte, die von der Feuertreppe aufs Dach führte. Donnie war stets aufs Neue überrascht, wie zerbrechlich sein Bruder wirkte, und es machte ihm auch ein wenig Angst. Willie war kein Schwächling, jedenfalls nicht, wenn es darauf ankam. In vieler Hinsicht war er vielleicht sogar der zäheste der drei Brüder. Nicht etwa, dass er sich vor nichts fürchtete. Vielleicht, so dachte Donnie, war er sogar ängstlicher als Sean. Aber er hatte ein braves irisches Temperament – es dauerte eine Weile, bis er in Fahrt kam, dann jedoch hielt ihn so schnell nichts auf. Willie schreckte vor nichts und niemandem zurück, und er focht seine Kämpfe selbst aus. Wie oft war er ganz grün und blau von der Schule nach Hause gekommen? Und immer hatte er versucht, es vor Donnie zu verbergen, damit der nicht loszog und denen, die ihn verprügelt hatten, die Zähne ausschlug. Jetzt beobachtete Donnie, wie sein Bruder auf dem Dach kniete und die Leiter hinunterschaute, und er machte sich Sorgen, eine steife Brise könnte aufkommen und ihn davonwehen.
Als Seans Kopf schließlich über dem Rand des Daches erschien, blickte Donnie zu einer Kette von hohen, schmalen Wolken hinauf; der Himmel verdunkelte sich zusehends. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist nach sechs«, sagte er, als Sean und Willie vor der Tür zu ihm traten.
»Vor sieben ist er nie hier«, erwiderte Sean. »Jedenfalls nicht, soweit ich das mitgekriegt hab.«
»Wir haben genügend Zeit«, fügte Willie hinzu.
»Herrgott!« Sean schlang die Arme um sich und klopfte sich auf die Schultern.
»Ist dir kalt?«, wollte Willie wissen.
»Ich hab Schiss«, sagte Sean. »Ihr etwa nicht?«
Willie runzelte die Stirn und sah zu Donnie hinüber.
Donnie versetzte Sean einen Klaps auf den Hinterkopf. »Wann wirst du endlich erwachsen?«
»Ich bin erwachsen«, erwiderte Sean und rieb sich den Kopf. »Ich hab nur Schiss.«
Sean setzte eine schwarze Wollmütze auf, zog sie sich tief in die Stirn und schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch. Die Jacke war rissig und zerknittert, und den Reißverschluss hatte er ganz geschlossen. Von der Lederjacke und der dunklen Mütze eingerahmt, war sein Gesicht so glatt und rosa wie das eines jungen Mädchens.
Donnie berührte den Griff der Pistole, die in Seans Gürtel steckte. »Baller damit bloß nicht herum, ohne zu zielen, hörst du?«
»Himmel Herrgott, zum hundertsten Mal – das weiß ich doch!«
Donnie legte Sean die Hände auf die Schultern und schüttelte ihn. »Wenn du abdrückst, dann schließ nicht die Augen, in der Hoffnung, du triffst irgendwas, denn sonst kassier ich eine Kugel und nicht Luca.«
Sean verdrehte die Augen und schien völlig überrascht, als Willie ihn am Hals packte.
»Hör zu, was Donnie dir sagt«, fauchte er. »Wenn du Donnie aus Versehen triffst, dann treffe ich dich mit Absicht, und wenn du mich triffst, du kleiner Trottel, dann bring ich dich um.«
Sean musterte seine Brüder einen Moment lang beunruhigt, dann lachten alle drei, als Sean endlich kapierte, dass Willie ihn auf den Arm nahm.
»Los, kommt«, sagte Donnie. An Sean gewandt fügte er hinzu: »Tu einfach, was wir dir sagen.«
Im Treppenhaus roch es nach Essig. Die vergilbende Farbe blätterte von den Wänden, und das Linoleum auf den Stufen war brüchig und hatte Löcher. Das Holzgeländer war breit und glatt, und die Pfosten waren rund, der Abstand zwischen ihnen gleichmäßig. Als sie die Tür zum Dach hinter sich schlossen, fanden sie sich in trübem Halbdunkel wieder – das einzige Licht kam von irgendwo unterhalb des Treppenabsatzes.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Sean.
»Irgendein Putzmittel.« Donnie ging zwei Absätze nach unten und blieb zwischen zwei Türen stehen, eine auf jeder Seite des Flurs.
»Hier ist es.« Sean deutete auf die Tür links von ihnen. »Er kommt immer zwischen sieben und halb acht. Er benutzt den Vordereingang an der Third. Kurz darauf geht in den Fenstern das Licht an. Er verbringt einige Zeit für sich, und um halb zehn, zehn tauchen nach und nach seine Kumpels auf.«
»Dann müssen wir jetzt eine Dreiviertelstunde warten«, sagte Donnie. »Und du bist dir sicher, dass du in den anderen Wohnungen niemand gesehen hast?«
»Da ist nie eine Menschenseele rein- oder rausgegangen«, sagte Sean. »Und auch die Fenster waren immer dunkel.«
Willie trat einen Schritt zurück, als wäre ihm gerade etwas Überraschendes eingefallen. Zu Donnie sagte er: »Meinst du, ihm gehört das ganze Gebäude?«
»Er hat ein Lagerhaus an der Park Avenue, ein Haus auf Long Island und dieses Gebäude an der Third? Himmel«, sagte Donnie. »Der muss wirklich Kohle machen!«
»Die Bude taugt doch nichts. Alle Viertelstunde schütteln dir die Züge die Knochen durch.«
»Umso besser für uns, wenn hier niemand wohnt«, sagte Sean. »Müssen wir uns keine Sorgen machen, dass irgendein Musterknabe die Bullen ruft.«
»Tja, sieht so aus, als würden seine Jungs eine Leiche finden, wenn sie hier aufkreuzen«, sagte Donnie. An Willie gewandt fügte er hinzu: »Falls uns genug Zeit bleibt, schneid ich ihm vielleicht den Schwanz ab und stopf ihn ihm ins Maul.«
»Heilige Scheiße, Donnie!« Sean trat einen Schritt zurück. »Verwandelst du dich jetzt in eine blutrünstige Bestie?«
»Hör auf, dich wie ein Mädchen zu benehmen«, zischte Willie. »Das hat der Bastard mehr als verdient!« Zu Donnie sagte er: »Da würden die anderen Makkaronis ganz schön dumm aus der Wäsche glotzen, was?«
Donnie ließ seine Brüder am Fuß der Treppe zurück und schaute sich im Flur um. Durch die Milchglasscheibe über der Tür am Ende der Treppe, die von den unteren Stockwerken heraufführte, fiel Licht herein. Das andere Ende des Flurs war dunkel. Als er über das ausgebleichte Linoleum zu seinen Brüdern zurückkehrte, setzte er prüfend einen Fuß vor den anderen. Das Gebäude war ziemlich heruntergekommen. Luca Brasi war kein Al Capone, der in königlichem Luxus lebte. Trotzdem, ihm gehörten wahrscheinlich nicht nur dieser Bau, sondern auch das Haus auf Long Island und das Lagerhaus an der Park Avenue, und allem Anschein nach zahlte er Kelly die Miete, denn soweit Donnie wusste, hatte das Mädchen in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag ehrlich gearbeitet – und sie war immerhin fünfundzwanzig. Also verdiente Brasi nicht schlecht, auch wenn er kein Al Capone war. »Ihr beiden!«, sagte Donnie und deutete die Treppe hinauf Richtung Dach. »Ihr wartet da oben, außer Sichtweite. Wenn er vor dieser Tür steht, pump ich ihn mit Blei voll. Allerdings«, fügte er hinzu, »werd ich mir vielleicht einen Moment Zeit lassen, um ein Wörtchen mit ihm zu reden, bevor ich ihn zur Hölle schicke.«
»Ich würd ihm auch noch gern die Meinung sagen«, erwiderte Willie.
»Überlass das Reden mir«, sagte Donnie. »Ihr beide rührt euch nur, wenn was schiefgeht. Dann kommt ihr die Treppe runtergerannt, bevor irgendjemand kapiert, was los ist.«
Sean drückte sich die Hand auf den Bauch und sagte: »Himmel, Donnie, mir ist übel.«
Donnie legte ihm die Hand auf die Stirn. »Meine Fresse, du bist ja ganz klamm!«
»Der hat nur Schiss, sonst nichts«, brummte Willie.
»Klar hab ich Schiss. Hab ich doch gesagt!« Und an Donnie gewandt: »Ich muss immer an Kelly denken. Wenn sie rausfindet, dass wir Brasi umgelegt haben, verzeiht sie uns das nie. Er mag ja ein elender Bastard sein, aber er ist ihr Typ.«
»Ich halt’s nicht aus«, sagte Willie. »Du machst dir Sorgen wegen Kelly? Spinnst du jetzt völlig, Sean? Ab morgen sind sämtliche Makkaronis der Stadt hinter unseren irischen Ärschen her, und du machst dir Sorgen wegen Kelly? Der Herr sei mir gnädig, aber Kelly kann mich mal. Wir machen das auch für sie. Der verdammte Makkaroni hat sie ins Unglück gestürzt, und wir sollen einfach nur zuschauen?«
»Red keinen Unsinn – wir machen das nicht für Kelly«, sagte Sean. »Dir ist Kelly doch schon seit Jahren scheißegal.«
Willie sah Sean lange an und schüttelte schließlich den Kopf, als hätte sein kleiner Bruder endgültig den Verstand verloren.
Sean wandte sich zu Donnie um. »Du hast sie rausgeworfen und ihr erklärt, dass du nichts mehr von ihr wissen willst. Was blieb ihr denn anderes übrig, als sich von irgendeinem Typen aushalten zu lassen?«
»Sie hätte ja auch arbeiten gehen können«, sagte Willie. »Und ehrliches Geld verdienen.«
»Ach, hör doch auf!« Seans Antwort galt Willie, aber den Blick hatte er noch immer auf Donnie gerichtet. »Du hast ihr gesagt, dass du nichts mehr von ihr wissen willst«, wiederholte er. »Und jetzt will sie nichts mehr von uns wissen. So ist das gelaufen, Donnie.«
Donnie blickte schweigend an Sean vorbei zu dem Tageslicht hinüber, das durch die Milchglasscheibe hereinfiel, als sähe er dort etwas unendlich Trauriges. Dann wandte er sich zu Sean um und fragte: »Hab ich mich nicht um euch alle gekümmert?« Als Sean ihm die Antwort schuldig blieb, fügte er hinzu: »Sie hat sich mit einem gottverdammten Italiener eingelassen – mit dem Italiener, der uns aus allem rausgedrängt hat. Meinst du, das war Zufall, Sean? Meinst du, sie wusste nicht, was sie da tat?« Donnie beantwortete seine Frage selbst und schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nie wieder etwas von ihr wissen.« Er sah Willie an, und Willie sagte: »Aye!«
»Aye«, wiederholte Sean spöttisch. »Und was hat dir dein irischer Stolz eingebracht? Wir haben keine Schwester mehr!«
Donnie warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schaute die Treppe zum Dach hinauf. Draußen raste brüllend ein Zug vorbei, und im Flur herrschte ohrenbetäubender Lärm. »Also gut«, sagte er zu Sean, nachdem der Zug vorüber war. »Hau ab.« Er versetzte ihm einen Klaps in den Nacken. »Du bist nicht mit dem Herzen bei der Sache. Ich hätte dich da nicht mit reinziehen sollen.«
»Meinst du das ernst?«, wollte Willie wissen.
»Ja, klar.« Donnie schob Sean die Treppe hinauf. »Hau ab. Wir treffen uns zu Hause wieder.«
Sean sah Willie fragend an, und als Willie nickte, rannte er die Treppe hinauf und verschwand durch die Tür, die aufs Dach führte.
Als er weg war, fragte Willie: »Verdammt, Donnie, was soll das? Der Kleine wird nie erwachsen, wenn du ihn immer wie ein Baby behandelst.«
»Ich behandel ihn überhaupt nicht wie ein Baby.« Donnie klopfte zwei Zigaretten aus seinem Päckchen und hielt Willie eine hin.
Willie nahm sie, und während er sie anzündete, sah er Donnie abwartend an.
»Ich hab mir mehr Sorgen gemacht, dass der Kleine mir aus Versehen eine Kugel in den Rücken jagt, als dass Luca das absichtlich macht.« Er ging zum Eingang von Lucas Wohnung hinüber. »Ich werde hier stehen.« Er deutete zur Treppe, wo Seans Platz gewesen war. »Begreifst du, was ich sagen will?«
»Die Chancen stehen gut, dass er seine Knarre gar nicht erst in die Hand genommen hätte«, sagte Willie.
»Die Chancen stehen noch besser, wenn er gar nicht da ist. Rauch deine Kippe zu Ende, und dann lass uns in Stellung gehen.«
»Glaubst du, dass Kelly uns deshalb noch mehr hassen wird?«
»Kelly schert sich einen Dreck um uns, Willie. Und das weißt du nur zu gut. Und mir kann sie genauso gestohlen bleiben. Jedenfalls im Moment. Die ist viel zu verkorkst – das bringt nichts, wenn wir uns Sorgen um sie machen. Sie säuft, nimmt Pillen und was weiß denn ich noch alles … Wenn sie wieder die Kurve gekriegt hat – falls sie jemals wieder die Kurve kriegt –, wird sie uns dankbar sein, dass sie nicht den Rest ihres Lebens mit diesem verdammten Makkaroni verbringen muss. Himmel«, fügte er hinzu. »Kannst du dir das vorstellen – Luca Brasi zum Schwager zu haben?«
»Gott bewahre«, sagte Willie.
»Dafür sorgen wir schon selbst.« Donnie drückte seine Zigarette aus und beförderte sie mit einem Tritt in die nächste Ecke. »Los, mach hin.« Er deutete die Treppe hinauf und wartete, bis Willie in der Finsternis verschwunden war. »Allzu lange dauert es jetzt nicht mehr«, sagte er und zog sich in einen dunklen Winkel zurück.
Sie aßen bereits seit einer Stunde, und Sandra hatte die ganze Zeit über nicht ein Wort gesagt. So blieb es Sonny überlassen, von seiner Familie zu erzählen, von seinen Plänen, seinen Träumen und was ihm sonst noch so einfiel, während Mrs. Columbo ihm mehrmals Kalbfleisch parmigiana auftat. Sie befanden sich in der Wohnung eines Vetters von Mrs. Columbo, in ihrer alten Wohngegend, wo sie einige Tage blieben, während ihr Vermieter ihr Apartment in der Arthur Avenue renovierte. Die Mahlzeit wurde auf einem kleinen runden Tisch mit einer weißen Tischdecke serviert, der an einem großen Fenster stand, das auf die Eleventh Avenue und auf eine der wackligen Fußgängerbrücken über die Bahngleise hinausging. Als Sonny noch klein gewesen war, hatte er oft auf der Brücke gesessen und die Beine baumeln lassen, während die Dampflokomotiven unter ihm hindurchfuhren. Er überlegte, ob er Sandra davon erzählen sollte, wie ihm zum ersten Mal das Herz brach, als er zusammen mit der hübschen, neun Jahre alten Diana Ciaffone auf ebendieser Brücke saß und ihr seine Liebe gestand, während die Welt hinter einer Dampfwolke verschwand und ein Zug klappernd und brüllend unter ihnen hindurchraste. Er wusste noch immer, wie Dianas Schweigen sich angefühlt und wie sie den Blick abgewandt hatte, bevor sie dann wortlos aufgestanden und davongegangen war. Als er daran zurückdachte, musste er lächeln, und Sandra fragte: »Was ist, Santino?«
Ganz erschrocken darüber, Sandras Stimme zu hören, deutete Sonny auf die Eisenbahnbrücke und antwortete: »Mir ist nur eingefallen, wie ich früher, als ich klein war, gerne auf dieser Brücke gesessen bin und den Zügen nachgeschaut hab.«
»Ah! Die Züge!«, rief Mrs. Columbo aus der Küche herüber. »Immer die Züge! Möge mich der Herr verschonen!«
Sandra erwiderte Sonnys Blick und lächelte über das gewohnheitsmäßige Grummeln ihrer Großmutter. Ihr Lächeln schien für Mrs. Columbo um Entschuldigung zu bitten und zu sagen: So ist sie nun mal, meine Großmutter.
Mrs. Columbo kam mit einer Schüssel sautierte Kartoffeln aus der Küche und stellte sie vor Sonny. »Die hat meine Sandra gemacht.«
Sonny rückte seinen Stuhl vom Tisch ab und faltete die Hände über dem Bauch. Er hatte gerade drei Portionen Kalbfleisch mit Linguine in Marinarasoße verzehrt, von allerlei Gemüse und einer ganzen gefüllten Artischocke gar nicht zu reden. »Mrs. Columbo«, erklärte er, »ich sage das nicht oft, aber ich schwöre, ich bekomm keinen Bissen mehr runter!«
»Mangia!«, rief Mrs. Columbo aus, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und schob die Schüssel Kartoffeln noch näher zu ihm hin. »Sandra hat sie extra für dich gemacht!« Wie immer war sie ganz in Schwarz gekleidet, obwohl ihr Mann schon seit über zehn Jahren tot war.
Sandra sagte zu ihrer Großmutter: »Non forzare …«
»Mich musste noch nie jemand zum Essen zwingen!«, fiel ihr Sonny ins Wort. Er stürzte sich auf die Kartoffeln und machte ein großes Aufhebens darum, wie köstlich sie waren, während Sandra und ihre Großmutter ihn anstrahlten – offenbar bereitete nichts auf der Welt ihnen mehr Freude, als ihm beim Essen zuzuschauen. Nachdem er die Portion aufgegessen hatte, hob er die Hände und sagte: »Non piú! Grazie!«, und lachte. »Wenn ich noch einen Bissen esse, platze ich.«
»In Ordnung.« Mrs. Columbo deutete in das winzige Wohnzimmer, das sich an die Küche anschloss. Die einzigen Möbelstücke darin waren ein Sofa, das an der Wand stand, ein niedriges Tischchen und ein Polstersessel. Über dem Sofa hing ein Ölgemälde des leidenden Antlitzes Jesu, daneben ein weiteres Ölgemälde der Jungfrau Maria, den Blick voller Trauer und Hoffnung himmelwärts gerichtet. »Setzt euch«, sagte Mrs. Columbo. »Ich bringe den Espresso.«
Als Mrs. Columbo vom Tisch aufstand, nahm Sonny ihre Hand. »Das Essen war großartig«, sagte er und hauchte einen Kuss auf ihre Finger. »Grazie mille!«
Mrs. Columbo betrachtete Sonny misstrauisch und sagte noch einmal: »Setzt euch. Ich bringe den Espresso.«
Im Wohnzimmer nahm Sandra auf dem Sofa Platz. Das marineblaue Kleid, das sie trug, reichte ihr gerade bis unter die Knie. Mit einer beiläufigen Handbewegung strich sie den Stoff über den Beinen glatt.
Sonny blieb mitten im Zimmer stehen. Er war sich unsicher, ob er sich neben sie oder doch eher auf den Sessel ihr gegenüber setzen sollte. Sandra schenkte ihm ein schüchternes Lächeln, ließ ihn darüber hinaus jedoch im Ungewissen. Er schaute hinter sich in die Küche, wo Mrs. Columbo außer Sichtweite am Herd werkelte. Rasch überlegte er, dass er ein oder zwei Minuten mit Sandra allein sein würde, und setzte sich neben sie aufs Sofa. Als sie daraufhin über das ganze Gesicht strahlte, nahm er ihre Hand und hielt sie fest, während er ihr in die Augen schaute. Er bemühte sich, nicht auf ihre Brüste zu starren, doch er wusste bereits, dass sie unter den gespannten Knöpfen ihrer weißen Bluse voll und schwer waren. Ihm gefielen ihre dunkle Haut und ihre Augen, und ihre Haare, die so schwarz waren, dass sie im schwindenden Tageslicht, das durch das Wohnzimmerfenster herinfiel, fast blau wirkten. Er wusste, dass sie erst sechzehn war, aber fraulicher hätte sie nicht sein können. Er überlegte, ob er sie küssen sollte, und fragte sich, ob sie ihn lassen würde. Er drückte ihre Hand, und als sie die Geste erwiderte, warf er einen Blick in die Küche, um sich zu vergewissern, dass Mrs. Columbo noch immer außer Sichtweite war, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Dann lehnte er sich zurück, um ihre Reaktion abzuschätzen.
Sandra reckte den Hals und stand ein Stück auf, um besser in die Küche schauen zu können. Offenbar überzeugt, dass ihre Großmutter sie nicht unterbrechen würde, legte sie Sonny eine Hand in den Nacken und eine auf den Hinterkopf, wobei sich ihre Finger in seinen Haaren verkrallten, und küsste ihn auf die Lippen – ein voller, feuchter, köstlicher Kuss. Als ihre Zunge seine Lippen berührte, reagierte sein Körper, alles kribbelte und regte sich.
Sandra zog sich von Sonny zurück und strich ihr Kleid wieder glatt. Mit ausdruckslosem Blick starrte sie vor sich hin und schaute Sonny nur ganz kurz an, bevor sie sich wieder von ihm abwandte. Sonny rückte näher an sie heran und legte den Arm um sie – er wollte noch so einen Kuss, aber sie drückte ihm die flachen Hände auf die Brust und hielt ihn auf Distanz, dann ertönte Mrs. Columbos dröhnende Stimme aus der Küche. »Eh! Wie kommt es, dass ich euch nicht reden höre!« Als sie einen Augenblick später aus der Küche hereinspähte, saßen Sandra und Sonny weit auseinander auf dem Sofa und lächelten sie an. Sie brummte etwas, verschwand wieder in der Küche und kehrte kurz darauf mit einem großen Silbertablett zurück, auf dem sie eine kleine Espressokanne, zwei Tässchen – eine für sie und eine für Sonny – und drei Cannoli trug.
Sonny betrachtete die Cannoli gierig, und alsbald plauderte er wieder unbefangen mit Mrs. Columbo, während sie den Espresso einschenkte. Es machte ihm Spaß, über sich selbst zu reden und darüber, wie er etwas aus sich machen wollte, dass er irgendwann hoffentlich mit seinem Vater zusammenarbeiten würde und wie groß das Geschäft seines Vaters doch war, die Firma Genco Pura Olive Oil, dass jeder Laden in der Stadt ihr Olivenöl führte, und eines Tages würden sie es vielleicht landesweit vertreiben. Sandra lauschte andächtig, hing geradezu an seinen Lippen, während Mrs. Columbo beifällig nickte. Sonny konnte problemlos gleichzeitig reden und essen. Er nippte an seinem Espresso und erzählte. Nahm einen Bissen von seinem Cannolo, ließ ihn sich auf der Zunge zergehen und redete dann weiter. Und hin und wieder riskierte er einen verstohlenen Blick auf Sandra, obwohl Mrs. Columbo sie nicht aus den Augen ließ.
Luca saß seiner Mutter gegenüber am Esstisch und hielt den Kopf in den Händen. Gerade hatte er noch gegessen, seine Gedanken schweifen lassen und ihr keine Beachtung geschenkt, während sie von allem Möglichen erzählte, aber jetzt fing sie wieder von Selbstmord an, und er spürte, wie er allmählich Kopfschmerzen bekam. Manchmal wurden diese so schlimm, dass er selbst große Lust hatte, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, nur damit das Pochen aufhörte.
»Glaub bloß nicht, dass ich dazu nicht in der Lage bin«, sagte seine Mutter, und Luca massierte sich die Schläfen. »Ich habe alles genau geplant. Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, sonst würdest du das deiner Mutter nicht antun. Immer habe ich Angst, einer der Nachbarn könnte an der Tür klopfen und mir sagen, dass mein Sohn tot ist oder dass er ins Gefängnis muss. Du weißt nicht, wie das ist, jeden Tag aufs Neue.« Sie tupfte sich mit der Ecke einer weißen Papierserviette die Tränen aus den Augenwinkeln. »Mir ginge es besser, wenn ich tot wäre.«
»Ma«, sagte Luca. »Kannst du bitte mal aufhören?«
»Nein, kann ich nicht.« Seine Mutter warf Messer und Gabel auf den Tisch und schob ihren Teller von sich. Es gab Pasta mit Fleischklößchen. Und sie hatte das Abendessen verhunzt, weil sie in der Nachbarschaft Gerüchte gehört hatte, irgendein Ganove wolle ihren Sohn umbringen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn wie James Cagney in diesem Film, in dem er durch die Straßen geschleift wird und mehrere Kugeln einsteckt, und dann bringen sie ihn zum Haus seiner Mutter, wie eine Mumie in Verbandszeug gewickelt, und lassen ihn vor ihrer Tür liegen, und Lucas Mutter befürchtete, dass sie ihren Sohn so vorfinden könnte, und ließ die Spaghetti verkochen und die Soße anbraten, und jetzt stand das missratene Essen vor ihnen wie ein böses Omen, und sie dachte unentwegt daran, dass sie sich lieber umbringen würde, als mit anzusehen, wie ihr Sohn ermordet oder verhaftet wurde. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte sie.
»Von was hab ich keine Ahnung?«, fragte Luca. Ihm kam es so vor, als hätte sich seine Mutter in eine alte Frau verwandelt. Er konnte sich noch an früher erinnern, als sie noch schicke Kleider angezogen und sich geschminkt hatte. Auf den alten Fotos sah sie wunderschön aus. Sie hatte leuchtende Augen, und auf einem Bild trug sie ein langes, rosafarbenes Kleid mit einem dazu passenden Schirm, und sie lächelte ihren Mann an, Lucas Vater, der ebenfalls ein ganzer Kerl gewesen war, wie Luca, groß und kräftig gebaut. Sie hatte jung geheiratet, noch als Teenager, und Luca war auf die Welt gekommen, bevor sie einundzwanzig gewesen war. Jetzt war sie sechzig, was alt war, aber nicht uralt, und so wirkte sie auf ihn, uralt, nur noch Haut und Knochen, und ihr Schädel zeichnete sich deutlich unter ihrem pergamentenen, faltigen Gesicht ab; ihre grauen Haare waren strähnig und gingen ihr allmählich aus. Sie trug dunkle Kleider, ein altes Weib in Lumpen, und er konnte ihren Anblick kaum ertragen. »Von was hab ich keine Ahnung?«, wiederholte er.
»Luca!«, sagte sie flehentlich.
»Ma, was ist denn? Wie oft hab ich dir schon gesagt – mir geht es gut. Um mich musst du dir keine Sorgen machen.«
»Luca, ich mache mir ja solche Vorwürfe!«
»Fang jetzt nicht wieder damit an, Ma, bitte. Ich möchte nur in Ruhe zu Abend essen.« Er legte die Gabel hin und rieb sich die Schläfen. »Bitte. Ich hab entsetzlich Kopfweh.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie ich leide.« Seine Mutter wischte sich mit der Serviette die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß, dass du dir die Schuld dafür gibst, was in jener Nacht passiert ist, und das schon seit Jahren. Weil …«
Luca schob seinen Teller mit Spaghetti über den Tisch, bis er gegen den Teller seiner Mutter krachte. Sie wich erschrocken zurück, und er packte den Tisch mit beiden Händen, als wollte er ihr das ganze Geschirr in den Schoß kippen. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust. »Fängst du jetzt wieder damit an? Wie oft müssen wir uns damit noch rumquälen, Ma? Verdammt noch mal, wie oft?«
»Darüber müssen wir nicht sprechen, Luca«, sagte sie, dann rannen ihr die Tränen über die Wangen. Sie schluchzte und vergrub den Kopf in den Händen.
»Jesus Maria …« Luca langte über den Tisch und berührte seine Mutter am Arm. »Mein Vater war ein Säufer und ein Großmaul, und jetzt schmort er in der Hölle.« Er öffnete die Handflächen, als wollte er sagen: Was gibt es da zu bereden?
Ohne aufzublicken wiederholte seine Mutter zwischen einzelnen Schluchzern: »Darüber müssen wir nicht sprechen.«
»Hör zu, Ma, das ist alles Schnee von gestern. Ich hab schon eine Ewigkeit nicht mehr an Rhode Island gedacht. Ich weiß nicht mal mehr, wo wir da gewohnt haben. Ich weiß nur noch, dass es weit oben war, im neunten oder zehnten Stock, und wie wir immer laufen mussten, weil der Aufzug nie funktionierte.«
»In der Warren Street«, sagte seine Mutter. »Im neunten Stock.«
»Das ist Schnee von gestern«, wiederholte Luca und zog seinen Teller wieder zu sich heran. »Lass es gut sein.«
Lucas Mutter trocknete sich mit dem Ärmel die Augen und betrachtete ihren Teller, als wollte sie wirklich etwas essen; dabei schluchzte sie noch, und ihr Kopf wippte mit jedem angestrengten Atemzug auf und ab.
Luca sah zu, wie sie weinte. An seinem Hals traten die Adern hervor, und sein Kopf war von einem pulsierenden Schmerz erfüllt, der sich anfühlte, als würde sich etwas Heißes um seinen Kopf zusammenziehen. »Ma«, sagte er leise. »Der Alte war ein Säufer und er hätte dich ins Grab gebracht. Ich hab getan, was getan werden musste. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich begreife nicht, warum du immer wieder darauf rumreitest. Himmel, Ma, wirklich! Man sollte doch meinen, du würdest die ganze Sache lieber vergessen. Aber alle paar Monate willst du wieder darüber reden. Das ist vorbei. Schnee von gestern. Lass es gut sein.«
»Du warst erst zwölf«, brachte seine Mutter zwischen zwei Schluchzern hervor. »Du warst erst zwölf, und damals fing alles an. Seither gerätst du immer wieder in Schwierigkeiten.«
Luca seufzte und spielte mit einem der Fleischklößchen auf seinem Teller.
»Du hast das nicht absichtlich getan.« Die Stimme seiner Mutter war kaum mehr als ein Flüstern. »Mehr will ich gar nicht sagen. Ich gebe mir selbst die Schuld daran. Es war nicht dein Fehler.«
Luca stand vom Tisch auf, um ins Bad zu gehen. Ihm dröhnte der Kopf, und er wusste, diese Kopfschmerzen würden die ganze Nacht andauern, wenn er nichts nahm. Aspirin würde wahrscheinlich nicht groß helfen, aber er konnte es ja versuchen. Bevor er jedoch das Bad betrat, kehrte er um und ging zu seiner Mutter zurück. Ihr Kopf war auf die Arme gesunken, und sie schluchzte wieder. Luca legte ihr die Hand auf die Schultern, als wollte er sie massieren. »Erinnerst du dich an unseren Nachbarn?«, fragte er. »Der Typ, der uns gegenüber gewohnt hat?« Er spürte, wie seine Mutter sich unter seinen Händen versteifte.
»Mr. Lowry«, sagte sie. »Er war Lehrer an der Highschool.«
»Genau. Und wie ist er gestorben?« Er wartete einen Moment, bevor er fortfuhr. »Ach richtig, er ist vom Dach gefallen. Stimmt doch, oder, Ma?«
»Ja, das stimmt. Ich habe ihn kaum gekannt.«
Luca strich seiner Mutter übers Haar und ging dann ins Bad, wo er im Arzneischränkchen eine Dose Squibb’s entdeckte. Er schüttelte drei Tabletten heraus, steckte sie sich in den Mund, schloss die Tür des Schränkchens und betrachtete sich im Spiegel. Ihm hatte noch nie gefallen, wie er aussah, wie seine Stirn sich über seinen tiefliegenden Augen vorwölbte. Er sah wie ein beschissener Affenmensch aus. Seine Mutter hatte unrecht, es war kein Unfall gewesen: Er hatte seinen Vater absichtlich getötet. Das Kantholz lag in der Diele, weil er es dorthin getan hatte. Da hatte er längst beschlossen, seinem Vater den Schädel einzuschlagen, wenn er das nächste Mal seine Mutter verprügelte oder Luca in die Eier trat, wofür er eine besondere Vorliebe hatte, und dann lachte er immer, wenn Luca winselte und stöhnte. Dergleichen tat er allerdings nur, wenn er betrunken war. In nüchternem Zustand war er nett zu Luca und Lucas Mutter. Manchmal ging er mit ihnen runter zum Hafen und zeigte ihnen, wo er arbeitete. Einmal war er in einem geliehenen Segelboot mit ihnen aufs Meer hinausgefahren. Er hatte Luca den Arm um die Schulter gelegt und ihn »meinen großen Jungen« genannt. Fast wünschte Luca, er wäre nie gut zu ihnen gewesen, denn sein alter Herr war oft betrunken, und dann hielt es niemand mit ihm aus, und wenn er nicht eine andere Seite gehabt hätte, dann würde Luca vielleicht nicht davon träumen, dass sein Vater zurückkommen würde. Sie machten ihn müde, diese Träume und die Erinnerungen, die immer wieder in seinem Gedächtnis aufblitzten: seine Mutter, von der Taille abwärts nackt und ihre Bluse zerrissen, darunter die leuchtend weiße Haut, die sich über ihren prallen Bauch spannt; wie sie versucht, von seinem Vater wegzukriechen, während sie bereits aus einer Stichwunde blutet und der Alte ihr mit einem Tranchiermesser nachkriecht und schreit, dass er es aus ihr rausschneiden und an die Hunde verfüttern wird. Das ganze Blut, und ihr runder, weißer Bauch so prall, und dann der blutige Kopf des Alten, nachdem Luca ihm eins mit dem Kantholz übergezogen hat. Ein Schlag auf den Hinterkopf, und sein Vater war sofort bewusstlos, dann stand Luca über ihm und drosch auf ihn ein, bis er nichts mehr wahrnahm außer Blut und Geschrei, dann die Polizei und Tage im Krankenhaus, und sein kleiner Bruder, der die Gebärmutter nicht lebend verlassen hatte, wurde beerdigt, während Luca noch im Krankenhaus war, bevor er nach Hause durfte. Danach war er nicht wieder zur Schule gegangen. Weiter als bis zur fünften Klasse hatte er es nicht geschafft, er arbeitete in Fabriken und im Hafen, bevor sie nach New York zogen, wo er auf den Betriebshöfen der Bahn schuftete, und das war noch etwas, was er an sich nicht mochte: Er war hässlich und dumm.
So dumm allerdings auch wieder nicht. Er betrachtete sich im Spiegel. Seine dunklen Augen. Schau dich doch mal an, dachte er und meinte damit, dass er mehr Geld hatte, als er ausgeben konnte, und eine kleine, straff organisierte Gang, vor der sich alle in der Stadt fürchteten, sogar die ganz großen Tiere wie Giuseppe Mariposa – sogar Mariposa hatte Angst vor ihm, vor Luca Brasi. So dumm war er also gar nicht. Er schloss die Augen, und das Pochen in seinem Hinterkopf füllte die Finsternis aus, und in der pochenden Finsternis dachte er an das Dach auf Rhode Island zurück, wohin er ihren Nachbarn gelockt hatte, Mr. Lowry, den Lehrer. Luca hatte ihm erzählt, dass er ihm ein Geheimnis verraten wolle, und nachdem sie erst einmal auf dem Dach waren, stieß er ihn hinunter. Wie er geflogen war und die Arme ausgebreitet hatte, als würde ihn jemand bei der Hand nehmen und retten! Er war auf dem Dach eines Autos gelandet, das nach innen durchgebrochen war, und die Windschutzscheibe war geborsten wie bei einer Explosion.
Luca ließ etwas Wasser in seine hohle Hand laufen und wusch sich das Gesicht. Es war angenehm kalt, und er strich sich die Haare mit den nassen Händen nach hinten und ging dann zurück in die Küche, wo seine Mutter bereits den Tisch abgeräumt hatte und mit dem Rücken zu ihm an der Spüle stand.
»Hör zu, Ma«, sagte Luca. Behutsam massierte er ihr die Schultern. Draußen wich der Abend allmählich der Nacht. Er schaltete die Küchenlampe an. »Hör zu, Ma, ich muss los.«
Seine Mutter nickte, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Luca trat noch einmal zu ihr und strich ihr übers Haar. »Mach dir keine Sorgen um mich, Ma. Ich kann schon selbst auf mich aufpassen.«
»Natürlich.« Die Stimme seiner Mutter war über dem laufenden Wasser kaum zu hören. »Natürlich kannst du das, Luca.«
»Und ob ich das kann.« Er küsste sie auf die Stirn und nahm Jackett und Hut vom Garderobenständer neben der Tür. Er schlüpfte in das Jackett, setzte den Hut auf und schob sich die Krempe in die Stirn. »Also gut, Ma. Ich bin weg!«
Seine Mutter nickte nur, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Auf der Straße, unterhalb des Hauseingangs, holte er tief Luft und wartete, bis das Pochen in seinem Hinterkopf etwas nachgelassen hatte. Auf dem Weg die Treppe hinunter waren die Kopfschmerzen wieder schlimmer geworden. Der Wind wehte den Geruch des Flusses herbei, und es stank nach Pferdemist – als er auf die Washington Avenue hinausschaute, entdeckte er einen großen Haufen direkt am Randstein. Pferdewagen waren keine zu sehen, nur ein paar Autos und einige Leute, die nach Hause gingen, die Treppen zu ihren Wohnhäusern hinaufstiegen, sich mit ihren Nachbarn unterhielten. Ein paar hagere Jungs in zerrissenen Jacken rannten an ihm vorbei, als würden sie vor etwas weglaufen, aber Luca sah niemanden, der sie verfolgt hätte. Im Gebäude seiner Mutter öffnete sich ein Fenster, und ein kleines Mädchen schaute heraus. Luca kramte eine Schachtel Camels aus der Jacketttasche und zündete sich eine an, wobei er die Hände schützend um das Streichholz legen musste. Es war ziemlich stürmisch und es wurde zunehmend kälter. Auf den Straßen wurde es dunkel, und die Schatten der Mietshäuser legten sich über Eingangstreppen, winzige Gärten und lange Gassen. Das Pochen in Lucas Kopf war noch immer da, aber es hatte etwas nachgelassen. Er schritt zur Ecke der Washington Avenue und bog in die 165., schlenderte zu seinem Apartment, das sich zwischen dem Gebäude, in dem seine Muttter wohnte, und dem Lagerhaus befand.
Er berührte den Griff seiner Pistole, der aus seiner Innentasche ragte, nur um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Er würde Tom Hagen töten, und das würde die Corleones gegen ihn aufbringen. So oder so – es würde Ärger geben. Vito Corleone hatte den Ruf, eher ein Schwätzer als ein Killer zu sein, aber Clemenza und seine Jungs waren harte Burschen, vor allem Clemenza selbst. Genco Abbandando war Vitos Consigliere und sein Partner im Olivenölgeschäft. Peter Clemenza war Vitos Capo. Jimmy Mancini und Richie Gatto wiederum arbeiteten für Clemenza … Das war alles, was er mit Sicherheit wusste, aber eine richtig große Organisation hatte Corleone nicht, kein Vergleich mit Mariposa oder gar den Tattaglias und den anderen Familien. Luca hatte den Eindruck, dass die Corleones ein Zwischending zwischen einer Gang und einer Organisation waren. Er wusste, dass Clemenza über mehr Männer verfügte als nur Mancini und Gatto, aber er kannte sie nicht. Vielleicht arbeitete Al Hats auch für die Corleones, aber sicher war er sich da nicht. Das musste er alles herausfinden, bevor er den Jungen abservierte. Ihm war es scheißegal, ob die Corleones eine Armee hinter sich hatten, aber er wusste gerne, womit er es zu tun bekam. Seinen Jungs würde das wahrscheinlich nicht gefallen, überlegte Luca, und als hätte der Gedanke sie herbeigerufen, fuhr in dem Moment JoJos gelber DeSoto neben ihm rechts ran, und Hooks blickte zum Fenster hinaus.
»Hey, Boss«, sagte er und stieg aus dem Wagen. Er trug einen schwarzen Porkpie mit einer grünen Feder im Hutband.
»Was habt ihr denn hier verloren?« Luca schaute zu, wie JoJo und der Rest der Jungs ausstiegen und die Türen zuknallten. Sie bildeten einen Kreis um ihn.
»Es gibt Ärger«, sagte Hooks. »Tommy Cinquemani will sich mit dir treffen. Er ist vorhin mit ein paar von seinen Leuten im Lagerhaus aufgekreuzt. Wirkte ziemlich angepisst.«
»Er will sich mit mir treffen?« Lucas Kopf pochte noch immer, aber dass Cinquemani von der Bronx hierhergekommen war, um ein Treffen zu arrangieren, entlockte ihm ein Lächeln. »Wen hatte er dabei?«, fragte er und setzte den Weg zu seinem Apartment fort.
JoJo warf einen Blick zum Wagen hinüber.
»Lass ihn stehen«, sagte Luca. »Du kannst ihn später holen.«
»Wir haben unsere Knarren unter den Sitzen versteckt«, meinte JoJo.
»Und die klaut euch jemand, in diesem Viertel?«
»Okay«, willigte JoJo ein und schloss sich zusammen mit den anderen Luca an.
»Also, wer hat Cinquemani begleitet?«, wollte Luca noch einmal wissen. Wie sie so daherschlenderten, nahmen sie den ganzen Gehsteig ein. Die Jungs in ihren Anzügen und Krawatten hielten sich links und rechts von Luca.
»Nicky Crea, Jimmy Grizzeo und Vic Piazza«, sagte Paulie.
»Grizz!« Das war der Einzige von den dreien, den Luca kannte, und er mochte ihn nicht. »Was wollte Tommy?«
»Er möchte sich mit dir treffen«, sagte Hooks.
»Hat er gesagt, warum?«
Vinnie Vaccarelli schob die Hand in die Hose, um sich zu kratzen. Vinnie war ein drahtiger Junge Mitte zwanzig, der Jüngste der Gang. Seine Kleider schienen immer an ihm herunterzuhängen. »Er möchte sich mit dir über Verschiedenes unterhalten.«
»Der Zahnarzt will mich also sehen«, sagte Luca.
»Der Zahnarzt?«, fragte Vinnie.
»Hör endlich auf, dich an den Eiern zu kratzen, okay?« Vinnie riss die Hand aus der Hose. »So nennen sie Cinquemani. Der Zahnarzt. Vielleicht will er sich an meinen Zähnen zu schaffen machen.« Als die Jungs nichts erwiderten, erklärte Luca: »Er reißt den Leuten gerne mit Beißzangen die Zähne raus.«
»Ach du Scheiße«, sagte Hooks, der offenbar nichts mit einem Typen zu tun haben wollte, der seine Feinde misshandelte.
Luca musste lächeln. Seine Jungs wirkten alle ein wenig nervös. »Ihr seid ein Haufen finocch’s«, sagte er und ging weiter, als wäre er gleichermaßen belustigt und enttäuscht.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte Hooks.
Sie befanden sich auf der Third Avenue, neben der Hochbahn, nur wenige Türen von Lucas Apartment entfernt.
Luca stieg die drei Stufen zum Eingang seines Hauses hoch und schloss die Tür auf, während seine Jungs ihm dabei zuschauten. Er öffnete die Tür und wandte sich zu Hooks um. »Soll Cinquemani doch warten. Sagt ihm gar nichts. Der kommt bestimmt wieder, und vielleicht ist er dann freundlicher.«
»Himmel Herrgott.« Hooks trat in den Hausflur und blieb vor Luca stehen. »Mit diesen Typen können wir nicht Katz und Maus spielen, Boss. Mariposa hat einen seiner Capos zu uns geschickt. Wenn wir das ignorieren, finden wir uns demnächst in einer länglichen Kiste wieder.«
Luca ging einen Schritt in den Flur hinein, und die anderen folgten ihm. Die Tür fiel ins Schloss, und um sie herum wurde es dunkel. Luca legte einen Lichtschalter um. »Riecht es hier nicht nach Zigaretten?«, fragte er Hooks und schaute zum nächsten Treppenabsatz hinauf.
Hooks zuckte mit den Achseln. »Für mich riecht es überall nach Zigaretten. Warum?« Er klopfte eine Winston aus seiner Schachtel und zündete sie an.
»Nichts.« Luca ging die Treppe hinauf, dicht gefolgt von seiner Gang. »Ich kann Cinquemani nicht ausstehen«, sagte er, »und Grizz ebenso wenig.«
»Jimmy Grizzeo?«, fragte Paulie.
»Ich hab mal zusammen mit Grizz einen Überfall durchgezogen«, sagte Luca, »bevor er sich mit Cinquemani zusammengetan hat. Ich mochte ihn damals nicht, und ich mag ihn heute nicht.«
»Grizz ist eine Niete«, sagte Hooks. »Cinquemani ist das Problem. Mariposa hat ihn geschickt, und Mariposa können wir nicht ignorieren.«
»Warum nicht?« Langsam machte Luca die Sache Spaß. Er hatte noch immer Kopfweh, aber wenn er sah, wie Hooks sich wand, vergaß er seine Schmerzen.
»Weil nicht alle von uns sterben wollen«, sagte Hooks.
»Dann bist du in der falschen Branche«, entgegnete Luca. »In unserem Geschäft wird man nicht alt.« Sie standen vor der Tür zu seiner Wohnung, und er drehte sich zu Hooks um, während er in seiner Jacketttasche nach dem Schlüssel kramte. »Du darfst dir keine Gedanken machen, ob du stirbst, Hooks. Die anderen müssen sich Gedanken machen, ob sie demnächst sterben. Begreifst du, was ich dir sagen will?«
Hooks wollte etwas erwidern, doch dann knallte eine Tür, und über ihnen waren eilige Schritte zu hören. Alle drehten sich um und schauten die Treppe zum Dach hinauf.
»Gib mir deine Knarre«, sagte Willie.
»Wozu brauchst du die?« Donnie war gerade dabei gewesen, die Leiter vom Dach hinunterzuklettern, und schaute zu Willie hinauf. Als sie gesehen hatten, dass Luca seine ganzen Kumpels dabei hatte, hatten sie ihren Plan auf später verschoben. Der Himmel war fast ganz dunkel geworden, und hier oben war kaum noch etwas zu erkennen.
»Das ist jetzt egal«, sagte Willie. »Gib schon her!«
»Du hast doch selber eine Pistole«, erwiderte Donnie. Er zog sich hoch, um einen Blick zu der geschlossenen Tür hinüber zu werfen. »Uns folgt niemand. Die haben nichts mitbekommen.«
»Jetzt gib mir die verdammte Knarre!«, sagte Willie.
Donnie langte in sein Schulterholster und reichte Willie seine Pistole. »Ich hab immer noch keine Ahnung, wozu du die brauchst.«
Willie deutete zum nächsten Dach hinunter. »Los, hau ab«, sagte er. »Ich komm gleich nach.«
Donnie lachte. »Drehst du jetzt völlig durch?« Er blickte nach unten, um den Fuß auf die nächste Sprosse zu setzen, und als er wieder hochschaute, rannte Willie über das Dach. Im ersten Moment erstarrte Donnie, so verwirrt war er, aber dann schwang er sich über den Rand des Daches auf die Teerpappe, während Willie bereits durch die Tür verschwand.
Das ist bestimmt eines der Nachbarskinder, dachte Luca. Die klettern andauernd auf dem Dach herum. Vielleicht spielen sie da oben Fangen. In dem Augenblick krachte die Tür auf, jemand kam die Treppe heruntergerannt, und eine Hochbahn raste mit Getöse vorbei. Luca wich in einen dunklen Winkel zurück und zog seine Pistole. Dann hagelte es Kugeln.
Ein Typ – und die Mündungen von zwei Pistolen blitzten auf. Luca sah nur Schatten, die Feuer spuckten. Hörte nur das Quietschen und Donnern des Zuges, von Schüssen begleitet. Als es vorbei war, als die Schatten gespenstisch schnell davonglitten, war, wenn er abdrückte, nur ein trockenes Klicken zu vernehmen, und da wusste er, dass er zurückgeschossen hatte, immer wieder, aber verflucht noch mal, nach dem ersten Schuss konnte er sich an nichts mehr erinnern, das Fenster war geborsten, er hatte sich über Paulie gebeugt, der getroffen worden war und stöhnte, dann hatte er abgewartet, was als Nächstes geschehen würde, es stank nach Schießpulver und es herrschte Stille, nachdem der Zug vorüber war und niemand mehr herumballerte. Vor Überraschung war er wie erstarrt stehen geblieben, und als er das abgeschüttelt hatte und ihm klar wurde, dass gerade ein Killer mit zwei Knarren auf sie geschossen hatte wie ein verdammter Cowboy, stürzte er die Treppe hinauf und dem Kerl nach.
Doch das Dach war leer. Auf beiden Seiten des Gebäudes führten Feuerleitern hinunter. Er nahm sich vor, sie abmontieren zu lassen. Auf der anderen Seite der Gasse stand ein halbes Dutzend Arbeiter in Overalls an der Dachkante und schaute herüber. Hinter ihnen stapelten sich Kisten und Kartons. Luca brüllte ihnen zu: »Habt ihr Vögel irgendwas gesehen?« Als niemand antworte, rief er: »Na, was jetzt?«
»Wir haben nix gesehen«, sagte jemand mit irischem Akzent. »Nur Schüsse gehört.«
»Das waren keine Schüsse«, erwiderte Luca. »Nur irgendwelche Jungs mit Knallern, die vom vierten Juli übrig waren.«
»Ach so«, sagte die Stimme. »Na dann.« Und zog sich mit den anderen zurück.
Luca wandte sich um und sah, dass Hooks und JoJo rechts und links der Tür standen, die ins Haus hinunterführte, die Pistolen locker in den Händen. »Steckt die Knarren weg.«
»Paulie und Tony hat’s erwischt«, sagte Hooks.
»Schlimm?« Luca schritt zwischen ihnen hindurch und die Treppe hinunter. Im Hausflur war es dunkel, und er musste sich am Geländer festhalten und jede Stufe ertasten.
»Sie werden’s überleben«, sagte JoJo.
»Seit wann bist du Arzt, du Arschgeige?«, sagte Hooks, und an Luca gewandt: »Tony wurde am Bein getroffen.«
»Wo am Bein?«
»Ein paar Zentimeter weiter links, und der Junge würde Falsett singen.«
»Paulie?«
»Glatt durch die Hand«, erwiderte JoJo. »Sieht aus wie gekreuzigt.«
Auf dem Treppenabsatz vor Lucas Apartment blies der Wind durch das geborstene Fenster. »Luca«, sagte Hooks, »Cinquemani und Mariposa kannst du nicht für dumm verkaufen. Die bringen uns alle unter die Erde.«
»Da hat er recht, Luca«, sagte JoJo. »Das ist doch verrückt! Und für was? Ein paar Ladungen Schnaps?«
»Habt ihr Schiss? Habt ihr Schiss, es könnte ernst werden?«
»Das weißt du besser, Boss«, sagte Hooks.
Tony stand fluchend und stöhnend im Eingang zu Lucas Apartment, den Handballen auf sein Bein gepresst, um die Blutung zu stoppen. Luca schlug ein paar Scherben aus dem Rahmen des Fensters. Es war dunkel, nur aus der offenen Tür und von der Straße fiel etwas Licht in den Hausflur. Fast sah es so aus, als würden keine Bullen kommen, sonst hätten sie die Sirenen schon gehört. Luca beugte sich aus dem Fenster und schaute zur Hochbahn hinunter. Die Straße war leer; keine Kinder rannten herum, keine alte Frau fegte ihre Eingangstreppe.
Hinter Luca wickelte Vinnie Tony ein Halstuch ums Bein. »Er blutet wie ein Schwein«, sagte er. »Ich krieg’s einfach nicht abgebunden.«
»Bring ihn und Paulie ins Krankenhaus«, befahl Luca. »Denkt euch irgendwas aus. Sagt ihnen, es ist am Hafen passiert.«
»Ins Krankenhaus?«, fragte Hooks. »Meinst du nicht, dass Dr. Gallagher sich darum kümmern kann?«
»Du machst dir zu viele Gedanken, Hooks«, erwiderte Luca und nickte Vinnie zu.
Vinnie verschwand in dem Apartment, um Paulie zu holen. Als er durch die Tür trat, sagte er zu Hooks und JoJo: »Helft mir, Tony zu tragen.«
Hooks nahm seinen Hut ab und spielte mit den Federn herum. Zu Luca sagte er: »Was nun? Was machen wir mit Cinquemani?«
Luca schlug mit dem Griff seiner Pistole die restlichen Scherben aus dem Fensterrahmen. Er blickte himmelwärts zu den wenigen Sternen, die schwach in der Finsternis funkelten. Ein paar kleine Vögel flogen auf den Fenstersims zu und drehten dann ab. »Gut, vereinbaren wir ein Treffen mit Cinquemani«, brummte er und setzte sich auf den Sims. »Sag ihm, wir hätten verstanden. Sag ihm, dass es an einem öffentlichen Ort stattfinden soll …«
»Wo?«, fragte Hooks. »In einem Restaurant oder so was?«
»Das ist egal.«
»Wieso ist das egal?« Hooks setzte den Hut auf, nahm ihn wieder ab und setzte ihn wieder auf. »Ich kapier das nicht. Wollen wir nicht entscheiden, wo das Treffen stattfindet?«
»Hooks«, sagte Luca. »Du gehst mir langsam auf die Nerven.«
»Hey, Boss.« Hooks öffnete die Handflächen, eine Geste, die besagte, dass er keine weiteren Fragen mehr stellen würde. »Ich sag ihm, dass es egal ist. Sie können sich den Treffpunkt aussuchen.«
»Gut. Aber mach ihnen klar, dass es an einem öffentlichen Ort sein muss. Zur Sicherheit von allen.«
»Klar«, sagte Hooks. »Wann?«
»So bald wie möglich. Je früher, desto besser. Wenn sie den Eindruck haben, dass du Schiss hast, ist das in Ordnung.« Er deutete auf Tony, der so aussah, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. »Bring die Jungs ins Krankenhaus. Und dann komm wieder hierher, damit ich dir erklären kann, was ich vorhabe.«
Hooks sah Luca lange an, öffnete den Mund, als wollte er noch eine letzte Frage stellen – und überlegte es sich dann anders. »Los, komm, JoJo«, sagte er, und die beiden verschwanden im Apartment.
Lucas Kopfschmerzen waren sofort weg gewesen, als die Schießerei angefangen hatte. Er stand im dunklen Treppenhaus, hörte Tony stöhnen und fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
Sonny fuhr vor der Bäckerei rechts ran, schaltete den Motor ab und ließ sich auf den Fahrersitz zurücksinken. Er zog sich den Hut in die Stirn, als wollte er ein Nickerchen machen. Hier in der Gegend war es ziemlich laut – vom Betriebsbahnhof hallte das Poltern der Züge herüber, und Autos und Pferdekarren klapperten die Straße hinunter. Er hatte sich gerade von Sandra verabschiedet und war dann eine Weile die Arthur Avenue entlanggeschlendert, weil er sich eingesperrt fühlte und, wie so oft, nichts mit sich anzufangen wusste. Dann war er ins Auto gestiegen, ohne sich wirklich darüber im Klaren zu sein, dass er zu Eileen wollte. Er war sich noch immer nicht sicher, ob es nicht besser wäre, nach Hause zu fahren und ins Bett zu gehen, aber er verbrachte nur ungern einen Abend allein in der Mott Street. Was sollte er dort tun? Wenn etwas in seinem Kühlschrank war, aß er es, aber er ging nicht gerne einkaufen. Normalerweise ging er zum Essen nach Hause, und seine Mutter gab ihm mit, was übrig war. So fanden Lasagne oder Cannelloni den Weg in seinen Kühlschrank, zusammen mit großen Gläsern Soße. Wenn er bei seinen Eltern gewesen war, hatte er hinterher immer genug zu essen, um mehrere Tage davon satt zu werden. Dann stattete er seiner Mutter wieder einen Besuch ab – und so weiter. In seiner Wohnung lag er oft auf dem Bett und starrte die Decke an, und wenn er nicht einschlief, stand er auf und machte sich auf die Suche nach einem von seinen Kumpels oder ging irgendwo Karten spielen oder in eines der illegalen Lokale. Am nächsten Tag schleppte er sich dann todmüde zur Arbeit. Sandra hatte ihn ganz schön auf Touren gebracht. In Gedanken knöpfte er ihr die Bluse auf, um an ihre Brüste heranzukommen, die nur darauf warteten, dass er sie anfasste. Aber er konnte sie auch genauso gut vergessen, denn es würde noch eine ganze Reihe solcher Abendessen brauchen und vielleicht sogar einen Verlobungsring, bis er an diese nackten Brüste herankam – und so weit wollte er denn doch nicht gehen. Aber er mochte sie. Sie war nett und sah gut aus. Sie hatte ihn am Haken.
Sonny schob sich den Hut in den Nacken, beugte sich übers Lenkrad und schaute zu Eileens Apartment hinauf. Im Wohnzimmer brannte Licht. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er einfach so abends auftauchte, ohne vorher anzurufen. Er sah auf seine Armbanduhr. Fast neun Uhr, also war Caitlin wahrscheinlich im Bett. Bei dem Gedanken, dass Eileen sich abends vielleicht ebenso langweilte wie er, dass sie vielleicht nur ein wenig Radio hörte, bevor sie ins Bett ging, stieg er aus dem Wagen und klingelte bei ihr. Eileen öffnete ein Fenster und schaute heraus, und er öffnete die Arme und sagte: »Ich dachte, du magst vielleicht etwas Gesellschaft.« Sie trug ein blaues Kleid mit einem weiten Kragen, und ihre Haare waren onduliert. »Du warst beim Friseur«, sagte er, und sie lächelte, wobei er sich nicht sicher war, ob sie sich freute, ihn zu sehen, aber unglücklich wirkte sie auch nicht. Sie schloss das Fenster und verschwand wortlos. Sonny trat vor die Tür und lauschte. Als er weder ihre Wohnungstür aufgehen, noch ihre Schritte auf der Treppe hörte, nahm er den Fedora ab und kratzte sich am Kopf. Er trat wieder ein paar Schritte zurück, um noch einmal zu ihrem Fenster hochzuschauen – und da flog die Tür auf, und Cork stand auf der Straße.
»Hey, Sonny!«, sagte er und hielt die Tür auf. »Was machst du denn hier? Eileen hat gesagt, du würdest nach mir suchen?«
»Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?« Sonny sprach ein wenig zu laut, um seine Überraschung zu verbergen, aber Cork schien es nicht zu bemerken.
Corks Hemd war mit hellroten Handabdrücken über dem Herzen beschmiert. »Caitlin«, erwiderte Cork und runzelte die Stirn. »Das Hemd ist ruiniert.«
Sonny strich mit einer Fingerspitze über die roten Flecken, doch sie blieb sauber.
»Irgendwelche Kinderfarbe«, fuhr Cork fort, der noch immer die Handabdrücke anstarrte. »Eileen hat gesagt, das Hemd kann ich vergessen.«
»Die Kleine ist echt ein Satansbraten.«
»So schlimm ist sie gar nicht. Also, was ist los?«
»Ich hab bei dir vorbeigeschaut, und du warst nicht da«, log Sonny.
»Ich bin ja auch hier.« Cork musterte seinen Freund mit einem schiefen Blick, als würde er an seinem Verstand zweifeln.
Sonny hustete mit vorgehaltener Hand, während er versuchte, sich etwas einfallen zu lassen. Genau, der Plan für ihren nächsten Überfall! »Ich hab von einer neuen Lieferung erfahren«, sagte er mit gesenkter Stimme.
»Was? Heute Abend?«
»Nee.« Sonny trat neben Cork und lehnte sich gegen die Tür. »Wann genau, weiß ich noch nicht. Ich wollte dir nur davon erzählen.«
»Kann das nicht warten?« Cork schaute die Treppe hinauf und winkte Sonny dann in den Hausflur. »Es ist kalt. Fühlt sich schon an wie Winter.«
»Die Lieferung ist klein«, erklärte Sonny und setzte sich auf die untersten Stufen. »Der Wagen, in dem sie transportiert wird, ist mit einem Unterbau ausgestattet. Außerdem sind Flaschen in der Polsterung versteckt.«
»Wem gehört sie?«
»Wieder? Mariposa? Was machen wir denn damit? Luca können wir sie nicht verkaufen.«
»Das ist das Beste daran«, erwiderte Sonny. »Juke nimmt sie uns direkt ab. Ohne Mittelsmann.«
»Und wenn Mariposa herausfindet, dass das Juke’s seinen Schnaps verkauft?«
»Wie soll er das herausfinden? Juke erzählt es ihm bestimmt nicht. Und Mariposa ist nie in Harlem.«
Cork setzte sich neben Sonny und streckte sich auf den Stufen aus, als wären sie ein Bett. »Wie viel verdienen wir an einer so kleinen Lieferung?«
»Das ist ja das Tolle«, sagte Sonny. »Es handelt sich um erstklassigen Champagner und Wein aus Europa. Wirklich teures Zeug – kostet fünfzig bis hundert Mäuse die Flasche.«
»Wie viele Flaschen?«
»Zwischen drei- und vierhundert, schätze ich.«
Cork ließ den Kopf auf eine Stufe sinken und rechnete in Gedanken nach. »Heilige Mutter Gottes«, sagte er schließlich. »So viel wird uns Juke aber nicht zahlen.«
»Schon klar. Aber wir werden trotzdem einen Haufen Geld verdienen.«
»Woher hast du den Tipp?«
»Besser, du weißt das nicht, mein Freund. Warum, vertraust du mir nicht?«
»Scheiße! Du weißt, dass wir alle unser Testament machen können, wenn Mariposa uns auf die Schliche kommt.«
»Das wird er schon nicht. Außerdem ist es dafür sowieso schon zu spät. Wenigstens sterben wir dann als reiche Männer.«
»Wie viele von uns …«, fragte Cork, doch in dem Augenblick ging Eileens Wohnungstür auf.
Eileen beugte sich über das Geländer, die Hände auf den Hüften. »Bobby Corcoran, möchtest du deinen Freund nicht hereinbitten, oder wollt ihr im Hausflur bleiben und eure finsteren Pläne schmieden?«
»Komm mit rauf«, sagte Cork zu Sonny. »Eileen macht dir eine Tasse Kaffee.«
Sonny zupfte an seinem Jackett und brachte seine Kleider in Ordnung. »Ist das auch wirklich okay?«, fragte er Eileen.
»Hat sie nicht gerade gesagt, ich soll dich hereinbitten?«, entgegnete Cork.
»Keine Ahnung. Hat sie das?«
Eileens Tochter kam hinter ihr aus der Wohnung und schlang die Arme um eines ihrer Beine. »Onkel Booby!«, rief sie.
»Die Kleine kann eine ganz schöne Nervensäge sein«, sagte Cork zu Sonny. Dann stürmte er die Treppe hinauf und stürzte auf sie los, worauf sie kreischend in der Wohnung verschwand.
»Komm hoch«, sagte Eileen. »Du musst nicht im Hausflur herumlungern.« Damit ging sie in die Wohnung zurück und ließ die Tür offenstehen.
Als Sonny in die Küche kam, wirkte sie einigermaßen entspannt. Sie saß am Tisch, eine Tasse Kaffee und einen Teller mit Brownies vor sich. »Setz dich«, sagte sie und schob eine leere Kaffeetasse über den Tisch. Ihre Haare waren vom Friseur offenbar aufgehellt worden. Die Locken warfen bei jeder Bewegung den Schein der Küchenlampe zurück.
Cork betrat das Zimmer, Caitlin auf den Schultern. »Sag Hallo zu Sonny«, forderte er sie auf. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, hob Caitlin von den Schultern und setzte sie sich auf den Schoß.
»Hallo, Mr. Sonny«, sagte Caitlin.
»Hallo, Caitlin.« Sonny blickte zwischen Caitlin und Eileen hin und her. »Wow, du bist fast so hübsch wie deine Mama.«
Eileen sah Sonny schief an, aber Cork lachte nur und sagte: »Bring sie nicht auf dumme Gedanken.« Er stellte Caitlin auf die Beine, versetzte ihr einen Klaps auf den Po und sagte: »Spiel mal ein paar Minuten für dich.«
»Onkel Booby«, sagte sie in flehentlichem Tonfall.
»Ach, hör auf mit dem ›Onkel Booby‹, oder ich versohl dir den Hintern.«
»Versprochen?«
»Was? Dass ich dir den Hintern versohle?«
»Dass du in ein paar Minuten mit mir spielst!«
»Versprochen«, erwiderte Cork und schickte sie mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer.
Caitlin zögerte einen Moment, schaute kurz zu Sonny hinüber und hüpfte dann davon. Sie hatte das feine blonde Haar ihres Onkels und die haselnussbraunen Augen ihrer Mutter.
»Onkel Booby!«, sagte Sonny und lachte.
»Passt doch, oder?« Eileen schüttelte den Kopf. »Kindermund gibt Wahrheit kund.«
»Jetzt stifte sie nicht noch dazu an«, brummte Bobby. »Das sagt sie nur, um mich zu ärgern.«
Eileen spielte mit ihrer Kaffeetasse, als würde sie über etwas nachdenken, und sagte dann zu Sonny: »Hast du das gehört – ein gewisser Mr. Luigi ›Hooks‹ Battaglia macht immer noch Jagd auf Jimmys Killer?«
Sonny sah Cork fragend an.
»Na ja, als ich Hooks das letzte Mal zufällig begegnet bin, hat er mir gesagt, ich soll Eileen ausrichten, dass er Jimmy nicht vergessen hat.«
»Das ist jetzt über zwei Jahre her«, sagte Eileen zu Sonny. »Zwei Jahre, und er hat immer noch nicht aufgegeben. An Mr. Hooks Battaglia ist ein Detektiv verlorengegangen, meint ihr nicht auch?«
»Hooks behauptet, dass einer von Mariposas Schlägern ihn umgebracht hat.«
»Als wüsste ich das nicht«, sagte Eileen. »Das weiß doch jeder! Die Frage ist, welcher von Mariposas Schlägern, und ob irgendjemand vielleicht mal was unternimmt nach all der Zeit.«
»Was spielt es für eine Rolle, wie viel Zeit vergangen ist?«, sagte Cork. »Wenn Hooks ihn findet, bringt er ihn um.«
»Was spielt es für eine Rolle, wie viel Zeit vergangen ist …?«, wiederholte Eileen.
»Eileen, Hooks ist Sizilianer«, erklärte Sonny. »Ihm bedeuten zwei Jahre rein gar nichts. Falls Hooks in zweiundzwanzig Jahren herausfindet, wer seinen Freund umgebracht hat, dann ist der Kerl tot, glaub mir. Sizilianer vergessen und vergeben nie.«
»Sizilianer und Iren aus Donegal«, sagte Eileen, und an Cork gewandt: »Ich möchte, dass Jimmys Mörder vor Gericht gestellt wird. Du hast Jimmy gekannt. Du weißt, dass er das auch gewollt hätte.«
»Gott weiß, dass ich ihn wie einen Bruder geliebt habe«, sagte Cork, der plötzlich äußerst wütend wirkte. »Aber wir waren nur selten einer Meinung. Das weißt du, Eileen.« Er schob seinen Stuhl ein Stück nach hinten, um einen Blick ins Wohnzimmer zu Caitlin zu werfen. »Jimmy war Idealist. Im Gegensatz zu mir. Wenn es um solche Sachen geht, bin ich Realist.«
»Du würdest es gutheißen, wenn jemand den Mörder ermordet, habe ich recht?« Eileen beugte sich über den Tisch und sah ihren Bruder an. »Was willst du damit beweisen? Glaubst du, das würde irgendetwas ändern?«
»Ach, jetzt klingst du wie Jimmy«, sagte er und stand auf. »Mir bricht das Herz. Hey!«, rief er ins Wohnzimmer. »Was treibst du da drüben?« Zu Eileen sagte er: »Wenn ich wüsste, wer Jimmy getötet hat, würde ich ihn eigenhändig umbringen, und damit gut.« Er drehte sich um, hob die Hände über den Kopf, brüllte wie ein Stier und stürzte ins Wohnzimmer. Caitlin fing an loszukreischen.
Eileen sah Sonny über den Tisch hinweg an. »Himmel«, sagte sie, »ihr beide …«
»Klingt nach einem Familienkrach«, erwiderte Sonny und schaute sich nach seinem Hut um, den er an die Tür gehängt hatte. »Ich geh dann wohl besser.«
»Bobby und Jimmy«, fuhr sie fort, als hätte Sonny kein Wort gesagt. »An diesem Tisch haben sie sich immer gestritten. Immer die gleichen Argumente, nur die Einzelheiten unterschieden sich: Bobby behauptete, die Welt sei korrupt, und daran könne man nichts ändern, und Jimmy beharrte darauf, dass man an etwas Besseres glauben müsse. Und so ging es hin und her.« Sie starrte in ihren Kaffee und hob dann den Blick. Allerdings wirkte sie keineswegs unglücklich. »So war Jimmy eben. Dabei war er sogar derselben Meinung wie Bobby – die Welt ist voller Schmutz und Gewalt, und ändern würde sich das auch nie. Aber er redete auf Bobby ein, versuchte, ihm etwas beizubringen. ›Du musst daran glauben, dass sich etwas ändern kann, um deiner eigenen Seele willen.‹« Dann schwieg sie und sah Sonny lange an.
»Es tut mir leid, dass ich ihn nicht kennengelernt habe«, sagte Sonny, und Eileen nickte, als ob allein die Vorstellung sie schon belustigen würde.
Cork rief Sonny ins Wohnzimmer, und Eileen bedeutete ihm, er solle hinübergehen. »Schließlich wolltest du dich mit Bobby treffen, oder?«
Cork hatte die Arme um Caitlin geschlungen. Sie kicherte wild und versuchte sich loszureißen. »Hilf mir bitte, Sonny«, sagte Cork und drehte sich im Kreis. »Allein werd ich nicht mit ihr fertig!« Mit diesem Worten ließ er sie los, und sie segelte durch die Luft.
»Hey!«, rief Sonny und fing sie auf. »Was machen wir bloß mit ihr?« Dann drehte er sich ebenfalls im Kreis und warf das kreischende Mädchen zu Cork zurück.
»Reicht’s dir?«, fragte Cork sie.
Caitlin hörte auf zu zappeln und schaute zwischen Bobby und Sonny hin und her. »Noch mal!«, schrie sie, und Bobby machte sich bereit, sie zu Sonny zurückzuwerfen, der sich bereit machte, sie aufzufangen.
Eileen lehnte zwischen ihnen im Durchgang zur Küche und schüttelte den Kopf. Als Caitlin kreischend durch die Luft segelte und in Sonnys Armen landete, wurde aus ihrem Lächeln ein Lachen.