Vito schaltete den schweren Essex einen Gang herunter, und der Achtzylinder grummelte, bevor er wieder gleichmäßig vor sich hin brummte. Vito fuhr durch Queens und bog gerade vom Francis Lewis Boulevard ab, auf dem Weg zu dem Anwesen auf Long Island, um mit seiner Familie zu picknicken. Carmella, die Connie auf dem Schoß hatte, saß neben ihm, und die beiden klatschten in die Hände und sangen: »Backe, backe, Kuchen, der Bäcker hat gerufen!« Sonny saß neben Carmella am Fenster, die Hände auf den Knien; mit den Fingern trommelte er eine Melodie, die nur er hörte. Michael, Fredo und Tom saßen auf der Rückbank. Fredo hatte endlich aufgehört, Fragen zu stellen, wofür Vito äußerst dankbar war. Der Essex bildete den mittleren Wagen eines Korsos. Vor ihnen fuhr Tessio mit einigen seiner Männer in einem schwarzen Packard, und Genco folgte ihnen in seinem alten Nash mit den großen, runden Scheinwerfern. Al Hats saß mit Genco auf der Rückbank, und Eddie Veltri, der ebenfalls zu Tessios Männern gehörte, fuhr. Vito trug legere Khakihosen und eine gelbe Wolljacke über einem blauen Hemd mit breitem Kragen. Für ein Picknick war das genau das Richtige, aber er kam sich trotzdem seltsam vor, als würde er nur Freizeit spielen.
Es war früh am Morgen, noch nicht einmal zehn Uhr. Der Tag war ideal für einen Ausflug, der Himmel blau und wolkenlos, das Wetter mild. In Gedanken kehrte Vito jedoch immer wieder zu seinen Geschäften zurück. Luca Brasi hatte zwei von Cinquemanis Jungs umgelegt, und ein dritter, Nicky Crea, wurde seit Tagen vermisst. Vito wusste nicht, inwieweit das ihn und seine Familie berührte, aber er würde es wohl bald herausfinden. Mariposa hatte ihn gedrängt, mit Luca Brasi zu verhandeln, etwas, das er sonst nie getan hätte. Und jetzt dieser Schlamassel! Eigentlich gab es keinen Grund, warum Mariposa ihn dafür verantwortlich machen sollte, aber Giuseppe war dumm, und somit war alles möglich. Vito war sich darüber im Klaren, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sich Mariposa vornehmen musste. Es gab da verschiedene Möglichkeiten, an denen er arbeitete, und diese gingen ihm fortwährend durch den Kopf, während er Tessio hinterherfuhr. Er hatte inständig gehofft, sie könnten ihr neues Anwesen beziehen, bevor der Ärger losging, aber die Bauarbeiten nahmen mehr Zeit in Anspruch als vorgesehen. Für den Augenblick vertraute er darauf, dass Mariposa und seine Capos noch eine Weile mit Rosario LaConti beschäftigt sein würden.
»Ist es das?«, fragte Fredo.
Vito war gerade hinter Tessio in die lange Einfahrt des Grundstücks eingebogen. Rotgoldene Blätter flatterten von den Bäumen herunter, die den Weg säumten.
»Schaut euch die ganzen Bäume an!«, rief Fredo.
»Was hast du denn erwartet?«, sagte Michael. »Schließlich sind wir hier auf dem Land.«
»Ach, halt die Klappe, Mikey.«
Sonny wandte sich um und maulte: »Könnt ihr beiden vielleicht mal aufhören?«
»Ist das die Mauer?«, fragte Fredo und kurbelte das Fenster herunter. »Ist das die Schlossmauer, von der du erzählt hast, Mama?«
»Ja, das ist sie«, antwortete Carmella. Zu Connie sagte sie: »Schau! Wie ein Schloss!«
»Die hat aber ganz schön viele Lücken«, sagte Michael.
»Sie ist ja auch noch nicht fertig, du Besserwisser«, erwiderte Tom.
Vito parkte den Wagen hinter Tessio, und Eddie hielt mit dem Nash neben ihm. Clemenza wartete am Tor – oder jedenfalls dort, wo das Tor sein würde, wenn alles fertig war. Er stand, an den Kotflügel seines Wagens gelehnt, neben Richie Gatto, der sich eine Zeitung unter den Arm geklemmt hatte. Clemenza, der an einem Becher Kaffee nippte, sah in Freizeitkleidung massiger aus als sonst, vor allem im Vergleich zu dem sehnigen Gatto. Kaum hatte der Essex angehalten, sprangen Sonny und die Jungen hinaus. Vito dagegen ließ sich noch einen Moment Zeit und bewunderte die hohe Steinmauer, die das ganze Grundstück umgab und stellenweise drei Meter hoch war. Die Guilianos hatten sie errichtet, eine Familie, die seit Jahrhunderten mit Stein arbeitete. Die kunstvolle Mauer war mit einem Betonsims gekrönt, aus dem schmiedeeiserne Speerspitzen ragten, die dem Ganzen ein zweckmäßig ornamentales Gepräge verliehen. Carmella, die mit Connie neben Vito gewartet hatte, ergriff seine Hand und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Vito tätschelte ihr die Hand und sagte: »Nun geh schon. Schau dich um!«
»Ich hole noch rasch den Picknickkorb«, meinte Carmella und ging nach hinten zum Kofferraum.
Als Vito aus dem Wagen stieg, trat Tessio zu ihm und legte ihm den Arm um die Schulter. »Das wird wirklich toll«, sagte er und wies auf das Tor und das Grundstück.
»Mein Freund«, sagte Vito, »behalte meine Familie im Auge, per favore.« Er deutete auf die noch unfertige Mauer. »Das ist unser Geschäft.« Damit wollte er sagen, dass ein Mann sich nie wirklich sicher fühlen durfte.
»Aber natürlich«, erwiderte Tessio und machte sich auf die Suche nach Sonny und den Jungen.
Clemenza stieß sich schwerfällig von dem Wagen ab und kam zu Vito herüber. Richie folgte ihm.
Vito sah ihn fragend an. »Irgendetwas an deinem Gesichtsausdruck gefällt mir nicht.«
»Schau mal.« Clemenza bedeutete Richie, Vito die Zeitung zu zeigen.
»Warte«, sagte Vito, als Carmella zu ihnen trat, Connie an der einen Hand und einen kleinen Korb in der anderen. Sie trug ein langes Kleid mit Blumenmuster und einem Rüschenkragen. Das Haar fiel ihr, von ersten grauen Strähnen durchzogen, bis auf die Schultern.
»Damit willst du uns alle satt kriegen?«, fragte Vito.
Carmella grinste und zeigte ihm den Korb, in dem sie Dolce, die Hauskatze, ins Auto geschmuggelt hatte. Vito nahm die Katze aus dem Korb, drückte sie sich an die Brust und kraulte ihr den Kopf. Er schenkte seiner Frau ein Lächeln und deutete auf das größte der fünf Häuser. Auf halbem Weg standen Tessios und Clemenzas Männer in zwei Gruppen beieinander und unterhielten sich. Die Jungen waren nirgendwo zu sehen. »Ruf die Kinder zusammen und zeige ihnen ihre Zimmer«, sagte er und legte die Katze in den Korb zurück.
»Heute wird nicht übers Geschäft geredet«, sagte Carmella zu Vito. An Clemenza gewandt fügte sie hinzu: »Er soll sich mal einen Tag entspannen können, okay?«
»Geh schon«, sagte Vito. »Ich bin gleich bei euch. Versprochen.«
Carmella blickte Clemenza ernst in die Augen und machte sich dann auf die Suche nach ihren Söhnen.
Als sie außer Hörweite war, warf Vito einen Blick auf die Zeitung und fragte: »Was steht denn nun in der Daily News von heute?« Richie reichte ihm das Blatt. Als Vito das Bild auf der Titelseite sah, schüttelte er den Kopf. Rasch überflog er die Bildunterschrift. »Mannagg’ … ›Nicht identifiziertes Opfer …‹«
»Das ist Nicky Crea«, sagte Clemenza. »Einer von Tomasinos Jungs.«
Die erste Seite zeigte das Foto eines jungen Mannes, der in einen Koffer gestopft worden war. Sein Gesicht war unverletzt, aber sein Oberkörper war von Schusswunden übersät. Es sah aus, als hätte ihn jemand als Zielscheibe missbraucht.
Clemenza sagte: »Ich hab gehört, dass Tomasino stinksauer ist.«
Vito betrachtete das Bild eine ganze Weile. Die Leiche war in einen Schiffskoffer mit rissigen Lederriemen und einem kunstvoll verzierten Messingschloss gequetscht worden. Ein Mann in Jackett und Krawatte, der wie ein Passant aussah, aber wahrscheinlich ein Detective war, spähte neugierig in den Koffer und betrachtete die verdrehten Knie und die nach hinten gebogenen Arme. Der Koffer war im Central Park unter dem Springbrunnen zurückgelassen worden, und der Engel auf dem Springbrunnen schien auf den Koffer und die Leiche zu deuten.
»Brasi«, sagte Vito und gab Gatto die Zeitung zurück. »Er schickt Giuseppe eine Botschaft.«
»Und was will er damit sagen?«, wollte Clemenza wissen. »Komm her und bring mich um? Er hat fünf Kumpane, und da will er sich mit Mariposas Organisation anlegen? Der ist doch verrückt, Vito, genauso verrückt wie Mad Dog Coll.«
»Warum ist er dann noch nicht tot?«, fragte Vito.
Clemenza blickte Genco entgegen, der zusammen mit Eddie Veltri zu ihnen herübergeschlendert kam. An Vito gewandt sagte er: »Die Rosato-Brüder haben mir gestern Abend einen Besuch abgestattet. Ziemlich spät.«
Genco trat zu ihnen und fragte: »Hat er es dir gesagt?«
Vito schaute Gatto an. »Richie, du und Eddie, könntet ihr euch mal ein wenig in den Häusern umschauen, bitte?« Als Gatto und Veltri weit genug weg waren, bedeutete Vito Clemenza, er möge fortfahren.
»Sie sind zu mir nach Hause gekommen, standen plötzlich vor der Tür.«
»Zu dir nach Hause?« Vito schoss das Blut ins Gesicht.
»Sie hatten eine Tüte Cannoli dabei, frisch von Nazorine.« Clemenza lachte. »V’fancul’! Ich frag sie: ›Soll ich euch vielleicht zum Kaffee reinbitten? Es ist nach elf!‹ Da schwafeln sie irgendwas von alten Zeiten, und man würde sich doch kennen. Und ich sag zu ihnen: ›Jungs, es ist spät. Wenn ihr mich nicht umnietet, was wollt ihr dann?‹«
»Und?«, fragte Vito.
»Luca Brasi«, erwiderte Genco.
Clemenza fuhr fort: »Kurz bevor sie gehen, sagt Tony Rosato: ›Luca Brasi ist ein Tier. Benimmt sich, als könnte er machen, was er will. Jemand muss sich um ihn kümmern, und zwar bald, sonst leidet das ganze Viertel darunter.‹ Und damit basta. Sie sagen, ich soll mir die Cannoli schmecken lassen und hauen ab.«
Vito wandte sich an Genco. »Heißt das, wir sollen Luca erledigen?«
»Lange macht es LaConti nicht mehr«, sagte Genco. »Aber noch hält er die Fäden in der Hand. Tomasino würde sich Luca am liebsten sofort vorknöpfen und ihm eigenhändig die Zähne rausreißen. Aber die Barzinis erwarten, dass sich alle auf La-Conti konzentrieren, und Cinquemani macht, was man ihm sagt. Außerdem, wenn du mich fragst, haben die alle Schiss vor Luca Brasi. Denen zittern die Knie.«
»Hat LaConti überhaupt eine Chance?«, fragte Vito Genco.
Genco zuckte mit den Achseln. »Ich habe eine Menge Respekt vor Rosario. Er hat schon früher in Schwierigkeiten gesteckt. Aber bisher hat er es immer wieder geschafft.«
»Nein«, sagte Clemenza, »dieses Mal nicht, Genco. Bitte.« Und an Vito gewandt: »Seine Capos sind alle zu Mariposa übergelaufen. Rosario steht ganz alleine da. Sein ältester Junge ist tot. Sein anderer Sohn und ein paar seiner Jungs halten noch zu ihm, aber das war’s dann.«
»Rosario verfügt noch über eine Menge Verbindungen«, gab Genco zu bedenken. »Bevor er nicht unter der Erde liegt, sollten wir nicht so tun, als wäre er aus dem Rennen.«
Clemenza schaute zum Himmel hinauf, als wüsste er nicht mehr, was er noch zu Genco sagen sollte.
»Hör mir zu«, sagte Genco zu ihm. »Vielleicht hast du recht, und LaConti ist erledigt, und vielleicht will ich das nur nicht wahrhaben – denn wenn das passiert, kontrolliert Mariposa alle Organisationen von LaConti, und wir werden geschluckt oder geraten unter die Räder. Was sie gerade mit den Iren machen, das machen sie dann mit uns.«
»Gut, gut«, sagte Vito und setzte dem Streit damit ein Ende. »Im Moment ist Luca Brasi unser Problem.« Und an Genco gewandt: »Arrangier ein Treffen zwischen mir und dem verrückten Hund.« Er hob den Finger, um seine Worte zu unterstreichen. »Nur ich! Sag ihm, dass ich allein kommen werde. Allein und unbewaffnet.«
»Che cazzo!«, rief Clemenza und sah sich um, ob jemand in Hörweite war. »Vito! Du kannst Brasi nicht nackt gegenübertreten. Madon’! Was denkst du dir dabei?«
Vito hob die Hand, um Clemenza zum Schweigen zu bringen. Zu Genco sagte er: »Ich möchte diesen demone kennenlernen, der Mariposa das Fürchten lehrt.«
»Clemenza hat recht«, erwiderte Genco. »Das ist keine gute Idee, Vito. Mit einem Mann wie Luca Brasi trifft man sich nicht allein und nackt.«
Vito lächelte und breitete die Arme aus, um seinen beiden Capos auf die Schulter zu klopfen. »Habt ihr auch Angst vor diesem diavolo?«
»Vito.« Clemenza richtete den Blick wieder himmelwärts.
»Wie heißt dieser Richter in Westchester?«, fragte Vito. »Ihr wisst schon – der früher mal Bulle war.«
»Dwyer«, antwortete Genco.
»Er soll mir einen Gefallen tun. Bitte ihn, so viel wie möglich über Luca Brasi herauszufinden. Ich möchte gut vorbereitet sein, bevor ich mich mit ihm treffe.«
»Wie du willst«, sagte Genco.
»Gut. Und jetzt lasst uns das Wetter genießen.« Vito legte seinen Capos die Arme um die Schultern und schlenderte mit ihnen durch das Tor. »Sind die nicht prächtig?« Er wies auf die beiden fast fertigen Häuser, die Genco und Clemenza gehören würden.
»Sì«, sagte Genco. »Bella.«
Clemenza lachte und klopfte Vito auf den Rücken. »Nicht wie früher, als wir noch Klamotten aus Lastern geklaut haben und damit von Tür zu Tür gezogen sind.«
Vito zuckte mit den Achseln. »Das hab ich nie getan.«
»Nein«, sagte Clemenza. »Verkauft hast du nie. Aber geklaut.«
»Er hat den Laster gefahren«, sagte Genco.
»Wir beide haben mal einen Teppich organisiert, weißt du noch?«, fügte Clemenza hinzu.
Darüber musste Vito lachen. Ja, er hatte zusammen mit Clemenza aus einer vornehmen Villa einen Teppich gestohlen. Clemenza hatte ihm erzählt, der Teppich sei ein Geschenk, als Dankeschön für einen Gefallen, den Vito der reichen Familie getan hatte. Allerdings vergaß er zu erwähnen, dass die Familie von der ganzen Sache nichts wusste. »Los, komm schon«, sagte Vito zu Clemenza. »Gehen wir uns erst mal dein Haus anschauen.«
Richie Gatto, der noch immer am Tor Wache hielt, rief Vito etwas zu. Als Vito sich umdrehte, sah er, dass Richie neben der Fahrertür eines weißen Lieferwagens stand. Auf dem Wagen prangte der rote Schriftzug Everyready Furnace Repair. Zwei stämmige Männer in grauen Overalls schauten zum Fenster heraus, sichtlich erstaunt über die vielen Männer, die sich auf dem Anwesen aufhielten. Gatto kam zu Vito herübergetrabt und sagte: »Die beiden behaupten, sie seien von der Stadt und müssten in deinem Haus den Heizkessel prüfen. Es würde nichts kosten.«
»In meinem Haus?«, sagte Vito.
»Ohne Termin?«, fragte Genco. »Die tauchen hier einfach so auf?«
»Die sind harmlos. Ich hab sie mir genau angeschaut. Die machen keinen Ärger.«
Genco sah zu Clemenza hinüber, und Clemenza klopfte Richies Jackett ab, um zu sehen, ob er eine Pistole dabei hatte.
Richie lachte und sagte: »Was denkst du denn? Dass ich vergesse, wofür du mich bezahlst?«
»Wollte nur auf Nummer sicher gehen«, erwiderte Clemenza und drehte sich zu Vito um. »Was soll’s. Lass sie den Heizkessel prüfen.«
»Sag Eddie, er soll bei ihnen bleiben«, sagte Vito zu Richie und hob den Finger. »Lasst sie nicht einen Moment im Haus allein, capisc’?«
»Klar«, sagte Gatto. »Ich lass sie nicht aus den Augen.«
»Gut.« Vito legte Clemenza die Hand auf den Rücken und führte ihn zu seinem Haus hinüber.
Außer Sichtweite übten Michael und Fredo im Garten hinter Vitos Haus Werfen. Tessio und Sonny standen in der Nähe und unterhielten sich, und Tessio rief den Jungen immer mal wieder etwas zu, meist um ihnen zu erklären, wie man einen Baseball warf oder fing. Connie spielte vor der Hintertür des Hauses mit Dolce – sie hielt einen kleinen Ast hoch, und die Katze schlug nach den Blättern. In der Küche, hinter Connie, war Tom mit Carmella allein geblieben, was nur selten vorkam. Mit irgendjemand allein zu sein, war im Haushalt der Corleones überhaupt die Ausnahme – immer kamen Verwandte und Freunde zu Besuch, und die Kinder rannten einem zwischen den Beinen herum. In der Küche standen noch keine Geräte, aber Carmella zeigte Tom, wo alles hinkommen würde. »Da drüben«, sagte sie und hob die Augenbrauen, »soll ein Kühlschrank hin.« Sie richtete den Blick auf Tom, um zu betonen, was sie sagte: »Ein elektrischer Kühlschrank.«
»Nicht übel, Ma.« Tom hockte rittlings auf einem der beiden wackligen Stühle, die er in die Küche getragen hatte – offenbar hatten die Arbeiter sie vergessen.
Carmella faltete die Hände und sah Tom eine Weile schweigend an. »Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte sie schließlich. »Du bist richtig erwachsen geworden.«
Tom setzte sich aufrecht hin und blickte an sich herunter. Er trug ein hellgrünes Hemd und hatte sich einen weißen, gerippten Pullover über die Schultern gelegt. Das hatte er den Jungs an der NYU abgeschaut. »Ich?«, erwiderte er. »Ich soll erwachsen sein?«
Carmella beugte sich zu ihm herab und kniff ihn in die Wange. »Immerhin gehst du aufs College!« Sie ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen und seufzte, während sie sich wieder in der Küche umsah. »Ein elektrischer Kühlschrank«, flüsterte sie, als wäre schon allein die Vorstellung erstaunlich.
Tom wandte sich um und schaute durch die Tür mit dem bogenförmigen Sturz in das große Esszimmer hinüber. Für einen Augenblick sah er wieder das beengte Zimmer in der ärmlichen Wohnung vor sich, wo er mit seinen Eltern gelebt hatte. Aus dem Nichts tauchte das Bild von seiner Schwester auf. Sie war kaum aus den Windeln heraus, ihre Haare waren verstrubbelt, ihre Waden voller Schmutz, und sie wühlte in einem Kleiderhaufen auf dem Boden, auf der Suche nach etwas Sauberem zum Anziehen.
»Was hast du?«, fragte Carmella. Fast klang sie ein wenig wütend, aber Tom wusste, dass sie sich nur Sorgen machte.
»Was?«
»Woran denkst du gerade?«, fragte Carmella. »Was machst du denn für ein Gesicht!« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich hab nur an meine Familie gedacht. Meine biologische Familie«, fügte er rasch hinzu, um zu betonen, dass er nicht die Corleones meinte, seine richtige Familie.
Carmella tätschelte Toms Hand, um ihm zu zeigen, dass sie ihn verstand. Er musste es nicht erklären.
»Ich bin dir und Pa so dankbar«, sagte er.
»Sta’zitt’!« Carmella wandte den Blick ab; seine Dankbarkeit machte sie verlegen.
»Meine jüngere Schwester möchte nichts mit mir zu tun haben«, fuhr Tom fort. Er war selbst überrascht, was er da redete, während er und Ma alleine in der Küche ihres neuen Zuhauses saßen. »Ich hab sie vor über einem Jahr ausfindig gemacht. Ich hab ihr geschrieben, alles über mich erzählt …« Er zupfte an seinem Pullover. »Sie hat mir zurückgeschrieben, dass sie nie wieder etwas von mir hören möchte.«
»Warum denn das?«
»Ihre ganze Kindheit«, sagte Tom, »die Jahre, bevor ihr mich zu euch genommen habt – das will sie alles vergessen, mich eingeschlossen.«
»Sie wird dich nicht vergessen«, sagte Carmella. »Du bist ihr Bruder.« Sie legte Tom die Hand auf den Arm, um ihn zu ermutigen, das Thema fallenzulassen.
»Vielleicht«, sagte Tom und lachte. »Aber sie gibt sich alle Mühe.« Er erzählte Carmella nicht, dass seine Schwester nichts mit den Corleones zu tun haben wollte. Es stimmte, sie wollte ihre Vergangenheit vergessen – aber sie wollte auch nichts mit irgendwelchen Ganoven zu tun haben, wie sie seine Familie in ihrem einzigen Brief genannt hatte. »Und mein Vater …«, sagte Tom, der einfach nicht schweigen konnte. »… der Vater meines Vaters, Dieter Hagen, war Deutscher, aber seine Mutter, Cara Gallagher, war Irin. Mein Vater hasste seinen Vater – ich habe meinen Großvater nie kennengelernt, aber er hat oft genug auf ihn geschimpft –, und seine Mutter, die ich ebenfalls nie kennengelernt habe, betete er an. Also ist es wohl kaum verwunderlich, dass mein Vater eine Irin geheiratet hat.« Tom verfiel in einen irischen Akzent. »Und nachdem er in eine irische Familie eingeheiratet hatte, tat er so, als sei er Ire durch und durch und könnte seinen Stammbaum bis zu den Druiden zurückverfolgen.«
»Zu den was?«
»Zu den Druiden. Das war ein irischer Stamm, in grauer Vorzeit.«
»Du verbringst zu viel Zeit über deinen Büchern«, sagte Carmella und versetzte ihm einen Klaps auf den Arm.
»So viel zu meinem Vater Henry Hagen. Wo auch immer er ist, ich würde darauf wetten, dass er seine Zeit noch immer mit Saufen und Glücksspiel verbringt. Und wenn er irgendwann herausfindet, dass ich etwas aus mir gemacht habe, taucht er hier auf und bettelt mich an.«
»Und was machst du dann, Tom?«, fragte Carmella. »Wenn er hier vor der Tür steht?«
»Henry Hagen? Wahrscheinlich nehm ich ihn in die Arme und geb ihm einen Zwanziger.« Tom lachte und strich über die Ärmel seines Pullovers, als würde das Kleidungsstück ihm Trost spenden. »Schließlich hat er mich gezeugt. Auch wenn er sich hinterher nicht mehr um mich gekümmert hat.«
Connie, die Tom offenbar hatte lachen hören, kam zur Hintertür herein. Sie schleppte Dolce mit sich – die arme Katze hing wie ein aufgeweichter Brotlaib in ihren Armen.
»Connie!«, rief Carmella, »was machst du denn da?«
Tom entging nicht, dass sie erleichtert wirkte. »Komm her«, sagte er zu Connie mit Gruselstimme. Sie ließ die Katze fallen und rannte kreischend zur Tür hinaus, und er küsste Carmella auf die Wange und rannte ihr nach.
Donnie ließ die lange, schwarze Haube seines Plymouth bis fast an die Straßenecke vorrollen und stellte den Motor ab. Ein Stück den Block hinunter auf der anderen Straßenseite standen zwei Männer vor einer weiß getünchten Tür. Beide trugen abgerissene Lederjacken und Wollmützen. Sie rauchten Zigaretten und unterhielten sich. Zwischen den Lagerhäusern, Werkstätten und anderen Gewerbegebäuden fielen sie nicht weiter auf. An der nächsten Kreuzung hinter ihnen war die Haube von Corr Gibsons DeSoto zu sehen. Sean und Willie saßen bei Donnie in dem Plymouth, Pete Murray und die Donnelly-Brüder in Corrs DeSoto. Donnie schaute auf seine Armbanduhr, als Little Stevie pünktlich an ihm vorbeischlenderte, ihm kurz zuzwinkerte und dann weitertaumelte. Aus seiner Jackentasche ragte eine braune Papiertüte mit einer Flasche Schaefer-Bier, und er summte »Happy Days Are Here Again« vor sich hin.
»Der Junge spinnt ein bisschen, findet ihr nicht auch?«, sagte Willie.
»Der hat einen Hass auf die Makkaronis«, erwiderte Sean. Er saß auf der Rückbank und überprüfte, ob seine Pistole geladen war.
»Schieß nur, wenn es unbedingt sein muss«, sagte Willie.
»Und ziel«, fügte Donnie hinzu. »Denk an das, was ich dir gesagt habe. Ziel, bevor du schießt, und halt die Waffe möglichst ruhig.«
»Ihr könnt mich mal«, sagte Sean und warf die Pistole beiseite.
Die beiden Typen auf der anderen Straßenseite hatten Stevie, der auf sie zugewankt kam, inzwischen bemerkt. Pete Murray stieg, gefolgt von Billy Donnelly, aus dem DeSoto. Als Stevie vor der weißen Tür stehen blieb, eine Zigarette hervorkramte und die Männer um Feuer bat, gaben sie ihm einen Schubs und forderten ihn auf weiterzugehen. Stevie taumelte nach hinten, krempelte die Ärmel seiner Jacke hoch und stieß die Fäuste wie ein Betrunkener in die Luft. Unterdessen waren Pete und Billy hinter die beiden Kerle getreten und zogen ihnen mit ihren Totschlägern eins über. Der eine sank Stevie in die Arme, der andere schlug schwer auf dem Gehsteig auf. Donnie fuhr mit dem Wagen um die Ecke und auf der anderen Straßenseite rechts ran, während Stevie und Pete die beiden Lederjacken durch die Tür verschwinden ließen. Kurz darauf standen sie dichtgedrängt am Fuß einer langen, ausgetretenen Holztreppe. Sie überprüften ihre Waffen, zu denen zwei MPs und eine Schrotflinte gehörten. Corr Gibson hielt das Gewehr umklammert, die Donnelly-Brüder hatten die MPs.
»Du bleibst hier«, sagte Donnie zu Sean. Zu Billy sagte er: »Gib dem Jungen den Totschläger.« Dann deutete Donnie auf die beiden Männer, die am Boden lagen, und sagte: »Wenn sie zu sich kommen, dann schlag fest zu. Und dasselbe tust du, wenn jemand zur Tür hereinkommt. Öffne die Tür und zieh ihnen eins über.«
»Aber nicht zu fest«, fügte Willie hinzu. »Sonst bringst du die armen Schweine noch um.«
Sean steckte den Totschläger ein, obwohl er so aussah, als hätte er am liebsten Willie eins übergezogen.
»Alles klar?«, fragte Donnie in die Runde.
»Dann mal los«, sagte Stevie, und die Männer holten Halstücher aus der Tasche und banden sie sich vors Gesicht. Am oberen Ende der Treppe klopfte Donnie zweimal an einer Stahltür, hielt kurz inne, klopfte noch zweimal, wartete, und klopfte schließlich dreimal. Als die Tür aufging, rammte er die Schulter dagegen und stürzte hindurch, die anderen dicht hinter sich. »Keine Bewegung!«, schrie er. Er hatte eine Pistole in jeder Hand, die eine willkürlich nach links gerichtet, die andere auf Hooks Battaglias Kopf. Hooks stand vor einer Tafel, ein Stück Kreide zwischen Daumen und Zeigefinger. Außer ihm befanden sich noch vier Männer in dem großen Raum; drei von ihnen saßen an Schreibtischen und ein anderer hinter einer Theke, einen Stapel Dollarscheine in der Hand. Der Typ hinter der Theke hatte den Arm, der bis zu den Fingern bandagiert war, in einer Schlinge. Hooks hatte gerade die Nummer des Siegers im dritten Rennen auf der Jamaica-Pferdebahn auf die Tafel geschrieben.
»Schaut euch das an«, sagte er mit einem Grinsen und deutete mit der Kreide auf Donnie. »Ein Haufen maskierter irischer Banditen.«
Corr Gibson drückte ab, und die Tafel zersprang in tausend Stücke. Das Grinsen verschwand von Hooks’ Gesicht, und er verstummte.
»Was ist los?«, fragte Donnie. »Findest du’s plötzlich nicht mehr so lustig, du scheiß Makkaroni?« Er nickte den anderen zu, und sie stürmten los, schnappten sich das Geld von hinter der Theke, schlugen Fenster ein und warfen Rechenmaschinen und Schreibtischschubladen auf die Straße und den Innenhof. Als sie nach wenigen Minuten damit fertig waren, sah der Raum aus wie ein Schlachtfeld. Sie gingen rückwärts zur Tür hinaus und verschwanden die Treppe hinunter, alle außer Willie und Donnie, die im Eingang stehen blieben.
»Was soll das?«, fragte Hooks sichtlich beunruhigt.
Donnie und Willie zogen die Halstücher herunter. »Nur nicht nervös werden, Hooks«, sagte Willie. »Wir wollen niemand wehtun. Noch nicht.«
Als wären sie einander gerade auf der Straße begegnet, sagte Hooks: »Hallo, Willie.« Und mit einem Kopfnicken zu Donnie: »Was um Himmels willen macht ihr da?«
»Richte Luca aus, mir tut es leid, dass ich ihn gestern Abend verfehlt habe«, sagte Willie.
»Das warst du?« Hooks wich einen Schritt zurück – offenbar hatte es ihm jetzt völlig die Sprache verschlagen.
»Sieht fast so aus, als hätte ich doch etwas getroffen.« Willie deutete mit der Pistole zur Theke hinüber.
Paulie hob den Arm. »Ist nichts Ernstes. Wird schon wieder.«
»Ich dachte, ich hätte zwei von euch erwischt.«
»Mein Kumpel Tony hat eine Kugel ins Bein bekommen. Er liegt noch im Krankenhaus.«
»Sie müssen operieren«, fügte Hooks hinzu.
»Gut«, sagte Willie. »Hoffentlich verliert er das Bein. Richt ihm das aus!«
»Mach ich«, erwiderte Hooks.
Donnie berührte Willie an der Schulter und zog ihn zur Tür hinaus. »Sagt Luca, dass es gesünder für ihn ist, wenn er sich von den irischen Vierteln fernhält. Richtet ihm Grüße von den O’Rourke-Brüdern aus. In seinen Vierteln kann er machen, was er will, aber die Iren soll er den Iren überlassen, oder die O’Rourkes machen ihm die Hölle heiß.«
»Die Iren den Iren«, wiederholte Hooks. »Geht klar.«
»Gut«, sagte Donnie.
»Und was ist mit deiner Schwester?«, fragte Hooks. »Was soll ich ihr ausrichten?«
»Ich habe keine Schwester«, antwortete Donnie, »aber du kannst dem Mädchen, von dem du sprichst, sagen, dass wir ernten, was wir säen.« Er verschwand hinter Willie zur Tür hinaus und rannte die Treppe hinunter. Sean wartete am Ausgang auf sie.
»Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, sagte Willie und schob Sean auf die Straße. Sie trabten um die Ecke, wo ihr Wagen mit laufendem Motor auf sie wartete.
Von dem Stuhl, auf dem er festgebunden war, hatte Rosario La-Conti einen Panoramablick auf den Hudson River. In der Ferne sah er die Freiheitsstatue blaugrün im hellen Sonnenlicht funkeln. Er befand sich in einem weitgehend leeren Loft mit Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten. Sie hatten ihn in einem Frachtaufzug hier hoch transportiert, zu dem Stuhl vor der Fensterfront geführt und dann gefesselt. Das Tranchiermesser hatten sie in seiner Schulter stecken lassen, denn so stark blutete er gar nicht, und Frankie Pentangeli hatte gesagt: »Wenn’s nicht kaputt ist, soll man’s nicht reparieren.« Und so ragte der Griff des Messers direkt unterhalb des Schlüsselbeins aus einer Wunde, die zu Rosarios Erstaunen nicht besonders wehtat. Er hatte Schmerzen, das ja, vor allem wenn er sich bewegte, aber er hatte es sich schlimmer vorgestellt.
Überhaupt war Rosario einigermaßen zufrieden, wie er mit allem fertig wurde, seit er in diese Situation geraten war – und dass er in diese oder eine ähnliche Situation geraten würde, damit hatte er schon länger gerechnet. Und jetzt war es passiert, und er stellte fest, dass er keine Angst und keine starken Schmerzen hatte und dass er nicht einmal besonders traurig war über das, was bald zwangsläufig folgen würde. Er war ein alter Mann. In ein paar Monaten, wenn er denn noch ein paar Monate gehabt hätte, wäre er siebzig geworden. Seine Frau war mit Mitte fünfzig an Krebs gestorben. Sein ältester Sohn war von dem Mann ermordet worden, der auch ihn ermorden würde, und sein jüngerer Sohn hatte ihn gerade verraten, hatte ihn seinen Feinden ausgeliefert, um sich selbst zu retten – und Rosario war froh darüber. Recht hatte er! Der Deal, so hatte ihm Emilio Barzini erklärt, war, dass der Junge am Leben blieb, wenn er den Bundesstaat verließ und seinen alten Herrn ans Messer lieferte. Zum Glück hatte er sich darauf eingelassen, dachte Rosario bei sich. Vielleicht würde es dem Jungen gelingen, ein glücklicheres Leben zu führen – aber er bezweifelte es. Er war noch nie besonders helle gewesen. Trotzdem, vielleicht nahm es mit ihm nicht dasselbe Ende, und das war doch schon etwas. Er selbst, Rosario LaConti, war müde und froh, es endlich hinter sich zu haben. Eine Sache jedoch – von den Schmerzen in der Schulter einmal abgesehen, aber die waren auszuhalten – störte ihn: dass er nackt war. Das war nicht richtig. In einer solchen Situation zieht man einen Mann nicht nackt aus, schon gar nicht einen Mann wie Rosario, der schließlich einmal ein hohes Tier gewesen war. Das war nicht richtig.
Hinter Rosario, auf der anderen Seite eines Stapels Transportkisten, unterhielt sich Giuseppe Mariposa leise mit den Barzini-Brüdern und Tomasino Cinquemani. Rosario sah ihr Spiegelbild in der Fensterfront. Frankie Pentangeli stand alleine neben dem Frachtaufzug. Die Rosato-Brüder stritten sich über irgendetwas. Carmine Rosato warf die Hände in die Luft und wandte sich von Tony Rosato ab. Er kam zu Rosario herüber und fragte: »Mr. La-Conti, wie geht es Ihnen?«
Rosario reckte den Hals und musterte ihn eingehend. Carmine war noch ein junger Kerl, ein kleines Kind, nicht mal dreißig, und er hatte sich in einem Nadelstreifenanzug herausgeputzt, als wollte er vornehm essen gehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Carmine.
»Meine Schulter schmerzt ein wenig«, antwortete Rosario.
»Yeah.« Carmine betrachtete den Messergriff und die blutbeschmierte Klinge, die ein Stück weit aus Rosarios Schulter ragte, als wäre sie ein Problem, für das es keine Lösung gab.
Nachdem Giuseppe sein Gespräch mit den Barzinis und Tomasino beendet hatte, kam er wieder zu dem Stuhl herüber. Rosario sagte: »Joe, um Himmels willen, lass mich etwas anziehen. Du musst mich nicht so demütigen.«
Giuseppe blieb vor dem Stuhl stehen, faltete die Hände und ließ die Knöchel knacken, als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen. Auch er war gekleidet, als wäre er zu einem Empfang unterwegs – er trug ein frisch gebügeltes blaues Hemd und eine grellgelbe Krawatte, über der er eine schwarze Weste zugeknöpft hatte. »Rosario, weißt du, wie viel Schwierigkeiten du mir bereitet hast?«
»Da ging’s ums Geschäft, Joe«, sagte Rosario mit erhobener Stimme. »Wie jetzt auch.« Er blickte an sich hinunter. »Es geht immer ums Geschäft.«
»Nein, nicht immer«, erwiderte Giuseppe. »Manchmal geht es auch um Persönliches.«
»Joe, das ist nicht richtig.« Rosario wies mit einer Kopfbewegung auf seinen nackten Körper, der schwabbelig war und mit Leberflecken übersät. Die Haut auf seiner Brust war teigig und blass, und sein Geschlecht hing müde auf den Stuhl herunter. »Du weißt, dass das nicht richtig ist, Joe. Lass mich etwas anziehen.«
»Schau dir das an.« Giuseppe deutete auf einen Blutfleck auf seiner Manschette. »Dieses Hemd hat mich zehn Mäuse gekostet.« Er starrte Rosario an, als wäre er wütend auf ihn, weil sein Blut ihm das Hemd ruiniert hatte. »Ich hab dich noch nie gemocht, Rosario. Du warst schon immer ein arroganter Sack, du und deine maßgeschneiderten Anzüge. Immer hast du mich von oben herab behandelt.«
Rosario zuckte mit den Achseln und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Und jetzt putzt du mich herunter. Das nehme ich dir auch gar nicht übel, Joe. Du tust, was du tun musst. So läuft das nun mal in unserem Geschäft. Ich hab schon öfter als ich zählen kann in deinen Schuhen gesteckt – aber ich hab noch nie jemand nackt über die Klinge springen lassen, Himmelherrgott!« Er sah die Barzini-Brüder und Tomasino Cinquemani an, als hoffte er auf ihre Zustimmung. »Sei doch wenigstens ein bisschen anständig, Joe. Außerdem ist das schlecht fürs Geschäft. Die halten uns noch alle für Tiere.«
Giuseppe schwieg, als würde er über Rosarios Argumente nachdenken. »Was meinst du, Tommy?«, fragte er Cinquemani.
Carmine Rosato sagte: »Hör mal, Joe …«
»Dich hab ich nicht gefragt!«, bellte Giuseppe, den Blick weiter auf Cinquemani gerichtet.
Tomasino legte eine Hand auf die Stuhllehne, und mit der anderen betastete er vorsichtig den Bluterguss unter seinem Auge. »Ich denke, wenn er so auf den Titelseiten der Zeitungen abgebildet wird, kapiert jeder, wer jetzt das Sagen hat. Die Botschaft wäre klar und deutlich. Sogar unser Freund Mr. Capone in Chicago würde das zur Kenntnis nehmen.«
Giuseppe trat dichter an Carmine Rosato heran und sagte: »Ich denke, Tommy hat recht.« Und an Rosario gewandt: »Ich will ehrlich zu dir sei, LaConti. Mir macht das großen Spaß.« Sein Blick, den er weiter auf Rosario gerichtet hielt, wurde ernst. »Wer behandelt jetzt wen von oben herab?«, fragte er und nickte Tomasino zu.
»Nein, nicht so!«, schrie Rosario, als Tomasino den Stuhl hochhob und ihn durch das Fenster schleuderte.
Giuseppe eilte mit den anderen gerade noch rechtzeitig an die Fensterfront, um zu sehen, wie Glas und Holzsplitter hinter Rosario auf das Pflaster herabregneten, als der Stuhl aufschlug und zerbarst. »Madonna mia!«, sagte Mariposa. »Habt ihr das gesehen?« Er räusperte sich und starrte auf die Straße hinunter, wo sich um Rosarios Kopf herum eine Blutlache bildete. Dann wandte er sich unvermittelt ab und ging hinaus, als wäre die Sache für ihn erledigt, als hätte er Wichtigeres zu tun. Carmine blieb noch einen Moment am Fenster stehen, bis sein Bruder ihm den Arm um die Schulter legte und ihn wegführte.
Vito hatte Tessio und Clemenza kurz zugenickt, und jetzt schlenderte er mit Sonny zu seinem Haus hinüber, um im Keller nachzuschauen, wie weit die Handwerker mit dem Heizkessel waren. Vito hatte Sonny bereits mehrere Fragen gestellt, wie es in der Werkstatt lief und wie er mit Leo zurechtkam, und Sonny hatte jedes Mal ausgesprochen einsilbig geantwortet. Es war später Nachmittag, und die Mauer, die das Anwesen einschloss, warf einen langen Schatten auf das Gras. Am Eingang parkte der große Essex Stoßstange an Stoßstange mit Tessios Packard, und einige Männer standen um die Wagen herum, rauchten und unterhielten sich. Sonny deutete auf ein Grundstück direkt gegenüber vom Haupthaus, auf dem sich bisher nur ein Fundament befand. »Für was ist das?«, wollte er wissen.
»Das?«, erwiderte Vito. »Das ist für einen meiner Söhne, wenn er heiratet. Dann gehört das Haus ihm. Ich habe den Bauarbeitern gesagt, sie sollen das Fundament legen, und ich würde mich melden, wenn das Haus fertiggestellt werden soll.«
»Pa«, sagte Sonny, »ich habe nicht vor, Sandra zu heiraten.«
Vito wandte sich zu ihm um und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Darüber wollte ich mit dir reden.«
»Hör mal, Pa, Sandra ist erst sechzehn.«
»Wie alt, glaubst du, war deine Mutter, als ich sie geheiratet habe?«
»Ja, ich weiß, aber ich bin erst siebzehn. Du warst älter.«
»Das stimmt, und ich will ja auch nicht, dass du sofort heiratest.«
»Was willst du dann?«
Vito runzelte die Stirn, um seinen Sohn wissen zu lassen, dass ihm dieser Tonfall nicht gefiel. »Mrs. Columbo hat mit deiner Mutter geredet. Sandra ist in dich verliebt. Wusstest du das?«
Sonny zuckte mit den Achseln.
»Antworte mir.« Vito packte Sonny an den Schultern. »Sandra ist keins von den Mädchen, mit denen man sich amüsiert. Du musst ihre Gefühle ernst nehmen.«
»Das weiß ich, Pa. So ist es ja auch nicht.«
»Wie ist es dann, Santino?«
Sonny wandte den Blick ab und schaute zu Ken Cuisimano und Fat Jimmy hinüber, zwei von Tessios Männern, die an der langen Motorhaube des Essex lehnten und Zigarren rauchten. Die beiden beobachteten Sonny, bis er Fat Jimmys Blick erwiderte. Dann drehten sie sich um und setzten ihr Gespräch fort. Sonny sagte zu seinem Vater: »Sandra ist wirklich etwas Besonderes. Aber ich möchte einfach niemand heiraten. Noch nicht jedenfalls.«
»Aber sie bedeutet dir etwas. Nicht wie die anderen, denen du hinterherläufst.«
»Pa …«
»Komm mir nicht mit ›Pa …‹, sagte Vito. »Meinst du, ich weiß das nicht?
»Ich bin noch jung, Pa.«
»Das stimmt. Du bist jung – und eines Tages wirst du erwachsen sein.« Vito hielt inne und hob den Finger. »Sandra ist kein Mädchen, mit dem man herumspielt. Wenn du meinst, dass du sie vielleicht heiraten möchtest, kannst du dich weiter mit ihr treffen.« Er trat dicht an Sonny heran, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Und wenn du dir sicher bist, dass du sie nicht heiraten willst, dann lässt du sie in Ruhe. Capisc’? Ich möchte nicht, dass du diesem jungen Mädchen das Herz brichst. Denn dann …« Vito hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Denn dann würdest du in in meinem Ansehen sinken, Santino. Und das möchtest du nicht.«
»Nein, Pa«, sagte Sonny und sah seinem Vater in die Augen. »Nein, das möchte ich nicht.«
»Gut.« Vito klopfte seinem Sohn auf den Rücken. »Dann lass uns mal schauen, was die am Heizkessel treiben.«
Vito und Sonny stiegen über eine Holztreppe in den Keller hinunter. Die Handwerker hatten den Heizkessel auseinandergenommen, und die Teile lagen überall auf dem Betonboden verstreut. Durch eine Reihe schmaler, ebenerdiger Fenster fiel Licht in den feucht riechenden Raum. Mehrere runde Metallpfosten ragten in der Mitte aus dem Beton und stützten einen schweren Holzbalken an der Decke. Eddie Veltri saß unter einem der Fenster auf einem Hocker und blätterte in einer Zeitung. Als er Sonny und Vito bemerkte, schaute er hoch und sagte: »Hey, Vito, hast du das gesehen – Ruth behauptet, die Senators würden die Giants in der World Series schlagen.«
Vito interessierte sich nicht im Geringsten für Baseball oder irgendeine andere Sportart, sofern es nicht seine Wettgeschäfte betraf. »Und?«, sagte er zu den beiden Handwerkern, die offenbar dabei waren, ihr Werkzeug einzupacken. »Alles in Ordnung?«
»Bestens«, sagte der Größere. Beide Männer waren ziemliche Brocken, und sie sahen eher aus wie Leibwächter und nicht, als würden sie Heizkessel reparieren.
»Und wir schulden euch nichts?«
»Keinen Cent«, sagte der andere. Er hatte Schmierfett im Gesicht, und unter der Mütze, die er sich gerade aufgesetzt hatte, schauten dichte blonde Haarbüschel hervor.
Vito wollte ihnen gerade ein Trinkgeld geben, als der Größere der beiden ebenfalls seine Mütze aufsetzte und nach seiner Werkzeugkiste griff.
»Macht ihr Pause?«, wollte Vito wissen.
Die beiden sahen ihn überrascht an. »Nee«, sagte der Größere, »wir sind fertig. Hier ist alles klar.«
»Was zum Teufel meint ihr mit ›alles klar‹?«, fragte Sonny. Als er einen Schritt auf die Handwerker zuging, legte ihm Vito eine Hand auf die Brust.
Eddie Veltri ließ die Zeitung sinken.
»Und wer baut den Heizkessel wieder zusammen?«, fragte Vito.
»Das ist nicht unsere Aufgabe«, sagte der Blonde.
Der Größere sah sich die verschiedenen Teile an, die überall auf dem Boden lagen. »Hier in der Gegend würden sie euch zweihundert Dollar dafür abknöpfen. Aber da ihr offenbar nicht gewusst habt, was für Kosten bei einer solchen Inspektion anfallen, machen wir es für …« Er betrachtete die Teile des Heizkessels, als würde er im Kopf kalkulieren. »Für, sagen wir, hundertfünfzig kriegen wir das hin.«
»V’fancul’!«, zischte Sonny und sah seinen Vater an.
Vito schaute zu Eddie hinüber, der ein breites Grinsen auf dem Gesicht hatte. Dann lachte er und fragte: »Hundertfünfzig Dollar, habt ihr gesagt?«
»Was gibt’s da zu lachen?«, erwiderte der Handwerker und musterte Eddie und Sonny, als überlegte er, ob er es mit ihnen aufnehmen konnte. »Wir haben euch ein gutes Angebot gemacht. Dabei gehört das gar nicht zu unserem Job. Wir haben es nett gemeint.«
»Diese Visagen brauchen dringend eine Tracht Prügel, Pa«, sagte Sonny.
Das Gesicht des Größeren wurde puterrot. »Du willst mich verprügeln, du verdammter Makkaroni?« Er öffnete den Werkzeugkasten und holte einen großen, schweren Schraubenschlüssel heraus.
Vito bewegte ganz leicht die Finger, eine Geste, die nur Eddie Veltri bemerkte. Eddie zog seine Hand wieder aus dem Jackett.
»Nur weil ihr ein Haufen dämlicher Makkaronis seid, heißt das nicht, dass wir euch den Heizkessel umsonst zusammenbauen. Kapiert?«, sagte der Blonde.
Sonny wollte sich auf ihn stürzen, doch Vito packte ihn am Kragen und riss ihn zurück. »Pa!«, brüllte Sonny, sichtlich bestürzt darüber, wie stark sein Vater war.
»Halt den Mund, Santino«, sagte Vito ruhig, »und warte an der Treppe.«
»Hurensöhne«, sagte Sonny, doch als sein Vater den Finger hob, ging er zur Treppe hinüber.
Der Blonde lachte und sagte: »Santino«, als fände er den Namen komisch. »Gut, dass du ihm einen Maulkorb verpasst hast«, sagte er zu Vito. »Wir wollen euch einen Gefallen tun, und was ist der Dank dafür?« Er schien sich alle Mühe geben zu müssen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ihr verdammten Makkaronis! Die sollten euch alle nach Italien zurückschicken zu eurem scheiß Papst.«
Eddie hob eine Hand vor die Augen, als fände er das alles komisch, hätte aber auch Angst vor dem, was als Nächstes passieren würde.
Vito hob die Hände. »Kein Grund zur Aufregung. Ich verstehe das ja alles. Ihr wollt uns einen Gefallen tun, und mein Sohn beschimpft euch. Ihr müsst ihm verzeihen.« Er deutete auf Sonny. »Manchmal hat er sein Temperament nicht unter Kontrolle. Und dann kann er nicht mehr klar denken.«
Sonny verschwand die Treppe hinauf, wobei er etwas Unverständliches vor sich hin murmelte.
Vito sah ihm nach und wandte sich dann wieder den Handwerkern zu. »Bitte baut den Heizkessel wieder zusammen. Ich werde jemand mit dem Geld zu euch runterschicken.«
»Von Leuten wir euch«, sagte der Größere, »wollen wir die Kohle vorab.«
»Kein Problem. Entspannt euch, raucht eine Zigarette, und in ein paar Minuten kommt jemand und bringt das Geld.«
»Okay«, sagte der Handwerker und schaute zu Eddie hinüber. »Jetzt benehmt ihr euch wie zivilisierte Leute.« Er schlurfte zu seinem Werkzeugkasten und warf den Schraubenschlüssel hinein. Dann kramte er ein Päckchen Wings heraus und bot seinem Kumpel eine an.
Sonny wartete im Erdgeschoss, direkt vor der Kellertür. Vito versetzte ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Mein Sohn, du musst wirklich lernen, dich zu beherrschen.« Er nahm ihn am Arm und führte ihn in den Garten hinaus, wo die Schatten der Mauern inzwischen das Haus erreicht hatten. Es war auch kälter geworden, und Vito zog den Reißverschluss seiner Wolljacke hoch.
»Pa, das ist glatter Betrug. Du willst diese giamopes doch nicht etwa bezahlen?«, sagte Sonny.
Vito legte den Arm um ihn, und gemeinsam gingen sie in den Garten hinter dem Haupthaus, wo Clemenza sich mit Richie Gatto und Al Hats unterhielt. »Ich werde Clemenza bitten, in den Keller zu gehen und mit den beiden Herren ein freundliches Wort zu reden. Ich glaube, danach werden sie den Heizkessel wieder zusammenbauen, ohne etwas dafür zu verlangen.«
Sonny kratzte sich im Nacken und lächelte. »Was meinst du – vielleicht sollten sie sich auch dafür entschuldigen, dass sie uns beleidigt haben.«
»Warum das?« Vito wirkte überrascht. »Macht es dir etwas aus, was solche Leute über uns sagen?«
Sonny dachte darüber nach. »Nein, eigentlich nicht.«
»Gut.« Vito packte Sonny an den Haaren und schüttelte ihn. »Du musst noch einiges lernen«, sagte er und klopfte ihm auf den Rücken. »Lass es mich so ausdrücken: Unsere beiden Freunde da unten im Keller werden es zutiefst bereuen, dass sie so wütend geworden sind.«
Sonny betrachtete das Haus, als könnte er durch die Wände in den Keller blicken.
»Vielleicht ist das etwas, das du auch lernen solltest«, sagte Vito.
»Was?«, brummte Sonny.
Vito bedeutete Clemenza, dass er ihn sprechen wollte. Während der große Mann herbeigeeilt kam, versetzte Vito seinem Sohn einen weiteren liebevollen Klaps auf die Wange. »Sonny, Sonny«, sagte er.
Hooks fuhr mit seinem Wagen unter die Bäume, wo hinter zwei großen Eichen mehr oder minder gut versteckt bereits JoJo parkte und die Shore Road im Auge behielt. Er hatte eine Zeitung auf dem Schoß, und neben ihm auf dem Beifahrersitz lag eine MP. Ein kalter Wind blies unablässig durch den Wald, und in einem fort regneten rote, goldene und orange Blätter herab. Als Hooks sein Fenster herunterkurbelte, zog Luca, der neben ihm saß, das Jackett fester um sich. Wellen gischteten über die Little Neck Bay, und das Brausen der Brandung übertönte immer wieder das Rauschen des Windes. Irgendwo verbrannte jemand Blätter, und obwohl kein Rauch zu sehen war, war der Geruch doch unverkennbar. Es war später Nachmittag, und die Sonne schien rötlich durch die Bäume.
JoJo rollte sein Fenster herunter und nickte Hooks und Luca zu.
»Nicht mehr lange, dann schick ich dir Paulie raus«, sagte Hooks.
»Gut«, erwiderte JoJo. »Hier ist es so langweilig, dass ich mir bald eine Kugel in den Kopf jage und dem Rest der Welt die Mühe erspare.«
Hooks lachte und schaute kurz zu Luca hinüber, doch sein Boss verzog keine Miene. »Ich sag Paulie Bescheid«, meinte er und kurbelte das Fenster wieder hoch.
In der Einfahrt des Farmhauses schaltete Hooks den Motor aus und wandte sich zu Luca, bevor dieser aussteigen konnte. »Hör mal, Luca. Bevor wir gehen …«
»Yeah?« Luca verzog das Gesicht und rieb sich die Stirn. »Ich hab wieder Kopfschmerzen.«
»Ich glaube, ich hab ein paar Aspirin im …«
»Asprin helfen einen Scheißdreck. Was ist?«
»Es geht um die Jungs«, sagte Hooks. »Sie sind nervös.«
»Warum das? Wegen den O’Rourkes?« Luca nahm den Hut von dem Sitz neben sich und setzte ihn bedächtig auf.
»Wegen den O’Rourkes auch, ja. Aber vor allem wegen Mariposa und Cinquemani.«
»Was ist mit denen?«
»Was mit denen ist? Alle Welt redet darüber, dass LaConti nackt aus einem Fenster gesprungen ist.«
»Ich weiß. Na und? LaConti steht schon seit Monaten mit einem Fuß im Grab. Hat nur eine Weile gedauert, bis er das selbst mitgekriegt hat.«
»Yeah. Aber nachdem er jetzt erledigt ist, machen sich die Jungs eben Sorgen. Cinquemani vergisst uns das nicht so schnell. Mariposa wird immer noch wissen wollen, wer ihm seinen Schnaps geklaut hat. Und jetzt sitzen uns zu allem Überfluss auch noch die O’Rourkes im Nacken!«
Luca lächelte, zum ersten Mal, seit er in der Bronx in den Wagen gestiegen war, schien ihn etwas zu amüsieren. »Hör zu«, sagte er. »Giuseppe und seine Jungs werden alle Hände voll zu tun haben, LaContis Organisation auf Vordermann zu bringen. Überleg doch mal, Hooks.« Er nahm den Hut ab und stülpte ihn über seine Faust. »Wir haben eine kleine Bank und eine Handvoll Läufer. Das ist doch kaum den Ärger wert!«
»Herrgott noch mal«, brummte Hooks, als wollte er darüber nicht nachdenken.
»LaContis Organisation ist riesig«, fuhr Luca fort. »Und soweit ich höre, haben LaContis Leute absolut keine Lust, für Giuseppe zu arbeiten. Und jetzt wirft er Rosario auch noch nackt aus dem Fenster? Meinst du nicht, dass Rosarios Jungs ihm eine Menge Ärger machen werden? Hör zu«, sagte er noch einmal, »Giuseppe und seine Capos werden eine ganze Weile damit beschäftigt sein, da für Ordnung zu sorgen. Wenn du meine Meinung wissen willst, dann schaffen die das nie. Wart nur ab. Giuseppe hat das Maul zu voll genommen.« Luca setzte sich den Hut wieder auf. »Aber was soll’s? Wenn Tomasino oder Giuseppe oder sonst wer hier aufkreuzen, bring ich sie eben um. Und Willie O’Rourke genauso. Okay?«
»Boss«, sagte Hooks und schaute zum Fenster hinaus, als würde er sich für die Blätter interessieren, die auf die Motorhaube klatschten, »du kannst nicht jeden umbringen.«
»Klar kann ich das.« Luca rückte ein Stück von Hooks weg und musterte ihn eingehend. »Hast du damit ein Problem, Luigi?«
»Luigi hat mich schon lange niemand mehr genannt.«
»Hast du damit ein Problem, Luigi?«
»Hey«, sagte Hooks und blickte Luca in die Augen. »Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.«
Luca sah ihn noch eine Weile schweigend an und stieß schließlich einen Seufzer aus, als wäre er furchtbar müde. Wieder rieb er sich die Stirn. »Wir halten uns jetzt erst mal eine Weile bedeckt, bis wir wissen, wie Mariposa und Cinquemani die Sache angehen wollen. In der Zwischenzeit leg ich Willie O’Rourke um und wasch den anderen Iren mal ordentlich den Kopf, bis sie wieder Vernunft annehmen. So weit, so gut.« Er schaute zum Fenster hinaus und zu den Bäumen hinüber, als würde er nachdenken. »Von den anderen hast du keinen erkannt? Die mit der Kohle abgehauen sind?«
»Sie waren maskiert«, sagte Hooks.
»Auch egal«, erwiderte Luca, als würde er mit sich selbst reden.
»Was ist mit Kelly?«, fragte Hooks. »Sie wird nicht gerade begeistert sein, wenn du ihren Bruder umbringst.«
Luca zuckte mit den Schultern – offenbar hatte er sich diese Frage noch nicht gestellt. »Sie und ihre Brüder haben nicht gerade viel füreinander übrig.«
»Trotzdem.«
Luca dachte einen Moment nach. »Vorerst muss sie ja nichts von der Sache erfahren.« Bevor er aus dem Wagen stieg, schüttelte er den Kopf, als wäre es ihm lästig, auf Kelly Rücksicht zu nehmen.
Drinnen saßen Vinnie und Paulie am Küchentisch und spielten Black Jack, während Kelly am Herd stand und wartete, bis das Kaffeewasser kochte. Die Jungs hatten sich den Hemdkragen aufgeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt. Kelly trug noch immer ihren Schlafanzug. Im Keller ächzte und bullerte der Heizofen, und die Heizkörper im ganzen Haus glühten.
»Herrgott«, sagte Hooks, kaum waren sie zur Tür hereingekommen. »Hier drin ist es ja wie in einer Sauna.«
»Entweder das, oder du erfrierst«, sagte Kelly und drehte sich um. »Luca!«, rief sie, als sie ihn hinter Hooks durch die Tür treten sah. »Bitte bring mich woanders hin. Ich verlier noch den Verstand.«
Luca schenkte ihr keine Beachtung, sondern setzte sich neben Paulie an den Tisch. Er warf seinen Hut auf den Garderobenständer neben der Wohnzimmertür, an dem auch die anderen Hüte hingen. »Was spielt ihr?«, wollte er wissen. »Black Jack?«
Hooks blieb hinter Paulie stehen. »Du gehst besser JoJo ablösen. Er hat damit gedroht, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.«
Paulie schob die Karten zusammen und legte sie auf den Stapel in der Mitte des Tisches. Luca zog den Stapel zu sich heran, und Vinnie warf seine Karten zu ihm hinüber.
»Ich lös dich in ein paar Stunden ab«, sagte Hooks zu Paulie.
Kelly schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben Luca, der die Karten mischte. Sie holte eine rote Pille aus ihrer Hosentasche und schluckte sie mit etwas Kaffee. Hooks setzte sich auf Paulies Platz.
»Seven Card Stud?«, fragte Luca in die Runde. »Tischeinsatz, ohne Limit?«
»Okay«, sagte Hooks. Er zog seine Brieftasche hervor und zählte die Scheine. »Reichen zweihundert?« Er legte das Geld auf den Tisch.
»Geht klar«, sagte Vinnie, zählte einen Stapel Zwanziger ab und platzierte ihn vor sich auf dem Tisch.
»Gut«, sagte Luca.
»Luca …« Kelly fuhr auf ihrem Stuhl herum und sah ihn wütend an. Ihre Haare waren in Unordnung, ihre Augen blutunterlaufen. Ihr Gesicht war weitgehend geheilt – die Schwellungen waren abgeklungen –, aber die Haut unter ihren Augen war noch immer verfärbt. »Ich meine es ernst, Luca. Ich bin seit Wochen nicht mehr aus diesem gottverlassenen Loch rausgekommen. Ich muss mal wieder unter Leute. Bitte, lass uns tanzen gehen oder ins Kino – irgendwas!«
Luca wartete, bis Paulie hinausgegangen war, und legte dann den Kartenstapel in die Mitte des Tischs. »Wollt ihr Kaffee?«, fragte er in die Runde. Und an Kelly gewandt: »Du hast doch genug für alle gemacht, oder?«
»Klar, eine ganze Kanne.«
»Dann schenkt euch ein«, forderte Luca seine Jungs auf. Schließlich erhob er sich, nahm Kelly am Arm, führte sie hinauf ins Schlafzimmer und schloss die Tür.
Kelly ließ sich aufs Bett fallen. »Luca«, sagte sie, »ich halt das nicht mehr aus!« Als eine Windbö die Scheiben in den Fensterrahmen erzittern ließ, sah sie erschrocken auf. »Du sperrst mich jetzt schon seit Wochen Tag und Nacht hier ein. Ich werd noch verrückt! Du musst wenigstens hin und wieder mit mir ausgehen. Du kannst mich hier doch nicht gefangen halten!«
Luca setzte sich auf das untere Ende des Bettes und holte ein Pillenfläschchen hervor. Er schnippte den Deckel auf und warf zwei davon ein.
Kelly kniete sich aufs Bett. »Was sind das für welche?«
Luca betrachtete die Flasche. »Grüne«, sagte er, schloss die Augen und legte sich die Fingerspitzen an die Schläfen. »Mein Kopf bringt mich noch um.«
»Luca, mein Schatz, du musst unbedingt zum Arzt. Deine Kopfschmerzen hören ja gar nicht mehr auf.«
»Die hab ich schon, seit ich klein bin«, erwiderte Luca wegwerfend.
»Trotzdem.« Kelly küsste ihn auf die Wange. »Kann ich auch ein paar davon haben?«
»Von den grünen?«
»Ja. Wenn ich die nehme, fühle ich mich prima.«
»Ich dachte, du wolltest ausgehen?«
»Aber ja!« Kelly packte Luca an der Schulter. »Lass uns in ein schickes Lokal gehen. In den Cotton Club vielleicht …«
»Den Cotton Club.« Luca reichte ihr zwei grüne Pillen und nahm selbst noch eine.
»Ach bitte, Luca!« Kelly warf die Pillen ein, schluckte sie hinunter und schlang dann die Arme um ihn. »Lass uns in den Cotton Club gehen!«
»Klar«, sagte er und gab ihr eine dritte Pille.
Kelly betrachtete sie misstrauisch. »Bist du sicher, dass ich drei nehmen soll? Zu den roten von vorhin?«
»Seh ich aus wie ein Arzt? Nimm sie oder lass es bleiben.« Er stand auf und ging zur Tür.
»Wir gehen gar nicht in den Cotton Club«, sagte Kelly, die noch immer auf dem Bett kniete, die Pille auf der Handfläche. »Du wirst die ganze Nacht Poker spielen, stimmt’s?«
»Wir gehen in den Cotton Club«, sagte Luca. »Ich komm dich später holen.«
»Sicher.« Kelly warf sich die dritte Pille in den Mund und kaute. »Luca«, sagte sie, »ich sitze hier Tag und Nacht in diesem Rattenloch fest.«
»Gefällt es dir hier nicht, Kelly?«
»Nein, überhaupt nicht.« Kelly bedeckte ihre Augen mit den Händen. In die Finsternis hinein fragte sie: »Wann wirst du Tom Hagen umbringen, Luca?« Ihre Arme wurde plötzlich zu schwer, und sie ließ sie sinken. »Du wirst doch nicht zulassen, dass er ungestraft davonkommt, nach dem, was er getan hat«, flüsterte sie, war sich jedoch nicht sicher, dass sie diese Worte wirklich zustande brachte. Wahrscheinlich hatte sie nur eine unzusammenhängende Folge von Silben gelallt.
»Der steht auf meiner Liste«, sagte Luca, die Hand auf der Klinke. »Eins nach dem anderen.«
Kelly fiel auf die Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Mit dir kann’s niemand aufnehmen, Luca«, versuchte sie zu sagen, doch dieses Mal kam rein gar nichts heraus. Sie schloss die Augen und ließ sich treiben.
In der Küche tranken die Jungs Kaffee und aßen Schokoladenbiscotti aus einer weißen Papiertüte. Luca nahm sich ein Gebäckstück und sagte: »Wo waren wir?«
»Tischeinsatz, Pot Limit, zweihundert«, sagte Hooks und griff nach den Karten.
Vinnie, der neben JoJo saß, hatte eine Hand in der Hose und kratzte sich.
»Warum zum Teufel kratzt du dich dauernd am Sack, Vinnie?«, fragte Luca.
Hooks lachte. »Der hat den Tripper.«
»Und er hat Schiss, sich was spritzen zu lassen«, fügte JoJo hinzu.
Luca deutete auf die Spüle. »Wasch dir die Hände. Und dann behalt sie auf dem Tisch, solange du mit uns Karten spielst.«
»Okay, okay.« Vinnie sprang auf und ging zur Spüle.
»Herrgott noch mal«, sagte Luca zu niemand Bestimmtem.
»Ein Dollar Mindesteinsatz?«, fragte Hooks.
Luca nickte, und Hooks gab. Im Keller schaltete sich der Heizofen aus, und plötzlich herrschte Stille. Der Wind pfiff über das Dach, und außer dem Klappern der Scheiben war nichts zu hören. Luca sagte zu Vinnie, er solle das Radio einschalten, was er auch tat, bevor er sich wieder setzte. Luca stellte fest, dass seine Handkarten Mist waren; als JoJo einen Dollar ansagte, passte er. Im Radio lief Bing Crosby. Das Lied kannte Luca nicht, aber die Stimme war ihm vertraut. Die Pillen wirkten allmählich, seine Kopfschmerzen ließen nach. In ein paar Minuten würde es ihm wieder gutgehen. Das Rauschen des Windes störte ihn nicht. Es hatte etwas Beruhigendes. Die Jungs unterhielten sich, aber er musste ihnen nicht zuhören. Er konnte einfach eine Zeitlang dem leisen Gesang im Radio lauschen und dem Wind, der um das Haus pfiff, bis Hooks das nächste Blatt ausgab.
Vito trat auf der Suche nach Carmella durch die Hintertür in die Küche. Draußen packten alle zusammen und machten sich bereit, in die Bronx zurückzufahren. Das Tageslicht verblasste allmählich, in einer halben Stunde würde es dunkel sein. Schließlich entdeckte er seine Frau auf der anderen Seite des Hauses – sie stand vor dem Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. »Vito«, sagte sie, als sie ihn hinter sich hörte, »der Lieferwagen dort fährt mit einem platten Reifen weg.«
Vito blickte über ihre Schulter hinweg auf den Vorgarten hinaus, wo der Wagen von Everyready Furnace Repair auf einer Felge davonholperte; der platte Gummireifen drehte sich ausgesprochen schwerfällig im Kreis. Beide Rückleuchten waren kaputt, und es sah so aus, als wäre die Scheibe auf der Fahrerseite eingeschlagen worden.
»Was ist passiert?«, fragte Carmella.
»Mach dir darüber keine Sorgen. Die kommen schon klar. Immerhin haben sie noch drei ganze Reifen.«
»Sì«, sagte Carmella. »Aber was ist passiert?«
Vito zuckte mit den Achseln und küsste sie auf die Wange.
»Madon’ …«, flüsterte sie und schaute wieder dem Lieferwagen nach.
Vito strich ihr übers Haar und legte ihr dann die Hand auf die Schulter. »Was ist los?«, fragte er. »Warum stehst du so alleine hier?«
»Früher war ich manchmal gerne allein.« Carmella hielt den Blick weiter dem Fenster zugewandt. »Aber seit wir Kinder haben …«
»Nein«, sagte Vito, »das ist es nicht.« Er nahm sie behutsam am Arm und drehte sie herum. »Was ist los?«
Carmella ließ ihren Kopf auf Vitos Schulter sinken. »Ich mache mir Sorgen. All das hier …« Sie trat einen Schritt zurück und breitete die Arme aus – eine Geste, die das ganze Anwesen einschloss. »All das hier«, wiederholte sie und sah zu Vito auf. »Ich mache mir Sorgen um dich, Vito. Wenn ich mir das alles hier anschaue … mache ich mir Sorgen.«
»Das hast du doch schon immer«, erwiderte er. »Und trotzdem haben wir so viel erreicht.« Er hob die Hand und wischte ihre Tränen ab. »Schau mal, Tom geht aufs College. Bald wird er ein erstklassiger Anwalt sein. Alle sind gesund, und es geht ihnen gut.«
»Sì«, flüsterte Carmella. »Wir haben Glück gehabt.« Sie strich ihr Kleid glatt. »Hast du mit Sonny über Sandrinella gesprochen?«
»Ja.«
»Gut. Der Junge … ich mache mir Sorgen um sein Seelenheil.«
»Sonny ist ein guter Junge.« Vito nahm Carmellas Hand, um sie aus dem Haus zu führen, aber sie blieb stehen.
»Vito, glaubst du wirklich, dass er sich anständig benimmt?«
»Aber ja. Carmella …« Vito legte ihr die Hände auf die Wangen. »Mit Sonny wird schon alles gut. Das verspreche ich dir. Er wird sich in der Automobilbranche langsam nach oben arbeiten. Ich werde ihm helfen. Mit der Zeit wird er, mit Gottes Hilfe, mehr Geld verdienen, als ich mir je hätte erträumen können. Er und Tom und Michael und Fredo – unsere Kinder werden wie die Carnegies und die Vanderbilts und die Rockefellers sein. Mit meiner Hilfe werden sie unermesslich reich werden, und dann werden sie für uns sorgen, wenn wir alt sind.«
Carmella nahm Vitos Hände, zog sie von ihrem Gesicht weg und legte sie sich auf die Taille. »Glaubst du das wirklich?«, fragte sie und schmiegte ihre Wange an seinen Hals.
»Wenn ich das nicht für möglich halten würde …« Vito trat einen Schritt zurück und umfasste ihre Hand. »Wenn ich das nicht für möglich halten würde, wäre ich heute noch immer bei Genco angestellt.« Mit entschlossenen Schritten führte er sie durch die Küche und zur Hintertür. »Die anderen warten schon.«
»Ah«, sagte Carmella, legte ihm den Arm um die Taille und schritt dicht neben ihm durch die Zimmer, in denen es immer dunkler wurde.