Clemenza grummelte vor sich hin, während er den großen Essex die Park Avenue entlangsteuerte. Ihr Ziel war Lucas Lagerhaus in der Bronx. Vito, der neben ihm saß, hatte die Hände im Schoß. Er trug ein bequemes, nicht mehr ganz neues Wollsakko und ein weißes Hemd mit Stehkragen. Den Hut hatte er neben sich auf den Sitz gelegt, das dunkle Haar nach hinten gegelt. Obwohl er geradeaus durch die Windschutzscheibe starrte, bezweifelte Clemenza, dass er irgendetwas anderes sah als das, was ihm durch den Kopf ging. Vito war einundvierzig, aber in manchen Momenten – wie zum Beispiel jetzt – sah er für Clemenza noch genauso aus wie der Junge, den er vor fünfzehn Jahren kennengelernt hatte: Seinen dunklen Augen schien nichts zu entgehen. Was jemand tat und warum er etwas tat … Vito bedachte alles. Darauf konnte man sich verlassen. Deshalb arbeitete Clemenza auch seit Jahren für ihn, und er hatte es nie bereut.
»Vito«, sagte er, »wir sind gleich da. Ich werde dich ein letztes Mal bitten, das nicht zu tun.«
Vito schreckte aus seinen Gedanken auf. »Hat Tessio dich jetzt angesteckt? Seit wann machst du dir Sorgen wie ein altes Weib, mein Freund?«
»S’faccim!«, fluchte Clemenza. Er nahm einen Blaubeerplunder aus einer offenen Gebäckschachtel, die neben ihm stand, und biss die Hälfte davon ab. Ein Sahneklumpen fiel ihm auf den Bauch. Er pflückte ihn von seinem Hemd, betrachtete ihn, als wüsste er nicht, wohin damit, und steckte ihn sich dann in den Mund. »Lass mich wenigstens mitkommen«, sagte er, während er kaute. »Herrgott noch mal, Vito!«
»Ist es das?«, fragte Vito.
Clemenza war von der Park Avenue in eine Seitenstraße abgebogen und hielt vor einem Hydranten. Ein Stück weiter vorne befand sich, zwischen einem Holzhändler und einer Autowerkstatt, ein kleines Lagerhaus mit einer Rolltür aus Stahl. »Ja, das ist es.« Er wischte sich ein paar Krümel von Bauch und Lippen. »Vito, lass mich mitkommen. Wir sagen einfach, dass du es dir anders überlegt hast.«
»Fahr dort drüben an den Straßenrand.« Vito nahm seinen Hut vom Sitz neben sich. »Warte hier, bis ich wieder rauskomme.«
»Und wenn ich Schüsse höre«, fragte Clemenza ärgerlich, »was mache ich dann?«
»Wenn du Schüsse hörst, gehst du in Bonaseras Beerdigungsinstitut und veranlasst alles Nötige.«
»Schön.« Clemenza fuhr bis vor das Lagerhaus. »Das werde ich tun.«
Vito stieg aus, setzte den Hut auf und sah noch einmal zu Clemenza hinein. »Sei nicht knausrig. Von dir erwarte ich einen besonders großen Kranz.«
Clemenza hielt das Lenkrad umklammert, als wollte er jemanden erwürgen. »Sei vorsichtig, Vito. Was ich von diesem Kerl gehört habe, gefällt mir gar nicht.«
Vito schlenderte zu dem Lagerhaus hinüber. Eine Seitentür öffnete sich, und zwei Männer traten heraus. Beide waren jung, und einer trug einen schwarzen Porkpie mit einer Feder im Band. Er hatte ein Babyface, schielte ein wenig und presste die Lippen aufeinander. Seine Haltung verriet eine gewisse Schicksalsergebenheit, als wäre er bereit für das, was kommen mochte, ohne sich unbedingt darauf zu freuen, aber auch ohne Angst zu haben. Der Kerl neben ihm kratzte sich am Sack und wirkte wie ein ziemlicher Dummkopf.
»Mr. Corleone«, sagte der mit dem Porkpie, »es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen.« Er streckte die Hand aus, und Vito schüttelte sie. »Ich heiße Luigi Battaglia. Alle nennen mich Hooks.« Er wies auf seinen Kumpan. »Das ist Vinnie Vaccarelli.«
Die Hochachtung, mit der er begrüßt wurde, überraschte Vito. »Können wir hineingehen?«, fragte er.
Hooks öffnete ihm die Tür. Als Vinnie Vito in den Weg trat und Anstalten machte, ihn abzutasten, legte Hooks ihm eine Hand auf die Schulter.
»Drinnen«, erwiderte Hooks scheinbar angewidert.
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fand sich Vito in einem großen feuchten Raum mit Betonboden wieder, der ihn an eine Autowerkstatt erinnerte. Fenster gab es keine, aber weiter hinten schien sich ein abgetrenntes Büro zu befinden. Er zog sein Sakko aus, nahm den Hut ab und spreizte Arme und Beine. Hooks musterte ihn eingehend, wies dann nach hinten und sagte: »Luca ist im Büro.«
Vinnie stieß ein zorniges Schnauben aus – offenbar passte es ihm nicht, dass Hooks Vito nicht filzte. Hooks begleitete Vito zu dem separaten Raum, hielt ihm die Tür auf und schloss sie dann hinter ihm. Vito sah sich einem Koloss von einem Mann gegenüber, der sich an einen Rosenholzschreibtisch lehnte.
»Mr. Brasi?«, sagte er und wartete mit gefalteten Händen.
»Mr. Corleone«, antwortete Luca und wies auf einen Stuhl. Während Vito Platz nahm, wuchtete er sich auf die Tischplatte und schlug die Beine übereinander. »Hat Ihnen denn niemand gesagt, dass ich ein Ungeheuer bin?« Er deutete auf Vito. »Sind Sie ganz alleine gekommen? Sie müssen noch verrückter sein als ich.« Er lächelte und lachte schließlich. »Das macht mir Angst.«
Vito schenkte Luca die Andeutung eines Lächelns. Brasi war groß und muskulös; seine vorgewölbte Stirn ließ ihn äußerst brutal erscheinen. Er trug einen blauen Nadelstreifenanzug mit Krawatte und Weste, aber sein massiger Körper wirkte darin nicht weniger eindrucksvoll. Obwohl er sich bemühte, freundlich zu sein, funkelten seine Augen finster, was ahnen ließ, wie unberechenbar und gefährlich er war. Vito glaubte sofort alles, was er je über Luca Brasi gehört hatte. »Ich wollte Sie kennenlernen«, sagte er. »Ich wollte den Mann kennenlernen, der Giuseppe Mariposa das Fürchten gelehrt hat.«
»Aber Sie fürchten sich offenbar nicht«, entgegnete Luca. Seine Stimme klang weder freundlich noch belustigt. Sie ließ nichts Gutes ahnen.
Vito zuckte mit den Schultern. »Ich weiß ein paar Dinge über Sie.«
»Was wissen Sie denn, Vito?«
Obwohl Brasi ihn beim Vornamen genannt hatte, ließ Vito sich nicht provozieren. »Als Sie ein kleiner Junge waren, zwölf Jahre alt, um genau zu sein, wurde Ihre Mutter angegriffen, und Sie haben ihr das Leben gerettet.«
»Darüber wissen Sie also Bescheid.« Luca klang gleichgültig, als würde ihn das nicht überraschen oder beunruhigen, aber in seinen Augen konnte Vito etwas anderes erkennen. »Ein solcher Mann«, fuhr Vito fort, »der schon als Junge den Mut hat, für seine Mutter einzustehen – ein solcher Mann muss sehr tapfer sein.«
»Und was wissen Sie über den Mann, der meine Mutter angegriffen hat?« Luca streckte die Beine, beugte sich vor und rieb sich die Stirn.
»Ich weiß, dass er Ihr Vater war.«
»Dann wissen Sie auch, dass ich ihn getötet habe.«
»Sie taten, was Sie tun mussten, um Ihrer Mutter das Leben zu retten.«
Luca sah Vito schweigend an. In der Stille war plötzlich der Verkehrslärm von der Park Avenue zu hören. Schließlich sagte er: »Ich hab ihm mit einem Kantholz den Schädel eingeschlagen.«
»Gut. Kein Kind sollte mit ansehen müssen, wie seine Mutter ermordet wird. Ich hoffe, Sie haben ihm den Kopf zu Brei geschlagen.«
Wieder musterte Luca Vito wortlos.
»Falls Sie sich fragen, woher ich das alles weiß, Luca – ich habe Freunde bei der Polizei. Rhode Island befindet sich nicht in einem anderen Universum. Das steht alles in den Akten.«
»Sie wissen also, was die Polizei weiß«, sagte Luca sichtlich erleichtert. »Und warum sind Sie hier, Vito?« Offensichtlich wollte er das Thema wechseln. »Spielen Sie jetzt den Laufburschen für Jumpin’ Joe Mariposa? Wollen Sie mir drohen?«
»Ganz bestimmt nicht. Ich kann Giuseppe Mariposa nicht ausstehen. Das zumindest haben wir gemeinsam.«
»Na und?« Luca ging um seinen Schreibtisch herum und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. »Worum geht’s dann? Um Tomasinos Jungs?«
»Die interessieren mich nicht. Ich bin hier, weil ich herausfinden möchte, wer Giuseppe bestiehlt. Er ist sauer und macht mir eine Menge Ärger. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ich dafür verantwortlich bin.«
»Sie?«, fragte Luca. »Wie kommt er denn darauf?«
»Wer weiß schon, was in Giuseppes Schädel vor sich geht? Aber so oder so, es würde mir wirklich weiterhelfen, wenn ich herausfinden könnte, wer hinter dieser ganzen Sache steckt. Wenn ich ihm das sagen könnte, würde er mich in Ruhe lassen. Und ob uns das gefällt oder nicht – im Moment ist Giuseppe Mariposa ein äußerst mächtiger Mann.«
»Ich verstehe. Und warum sollte ich Ihnen helfen?«
»Aus Freundschaft. Es ist immer besser, Freunde zu haben, nicht wahr, Luca?«
Luca blickte zur Decke hinauf, als würde er es sich überlegen. Er zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Nein. Kommt leider nicht infrage. Ich mag den Jungen, der Giuseppe den Schnaps klaut. Und Sie haben recht, Vito, eine Sache haben wir gemeinsam: Ich kann Mariposa nicht ausstehen. Ich hasse diesen stronz’!«
Jetzt war es an Vito zu schweigen und Luca lange anzusehen. Brasi hatte nie beabsichtigt, die Diebe zu verraten, und das nötigte Vito einen gewissen Respekt ab. »Luca«, sagte er, »machen Sie sich denn keine Sorgen? Haben Sie überhaupt keine Angst vor Giuseppe Mariposa? Sie wissen schon, wie mächtig er jetzt ist, oder? Vor allem, seit LaConti von der Bildfläche verschwunden ist? Immerhin hat er sämtliche Bullen und Richter in der Tasche.«
»Das ist mir alles völlig egal«, erwiderte Luca, dem das offenbar Spaß machte. »Ich mache jeden kalt. Dieses fette neapolitanische Schwein, das für das Bürgermeisteramt kandidiert, bring ich auch einfach um, wenn er mir noch länger auf den Sack geht. Glauben Sie, LaGuardi ist vor mir sicher?«
»Bestimmt nicht«, sagte Vito. Sein Hut ruhte auf seinem Knie, und er machte sich an der Krempe zu schaffen. »Sie können mir also nicht helfen?«
»Tut mir leid, Vito.« Luca breitete die Arme aus, als könnte er an dieser Situation nichts ändern. »Aber hören Sie, wir haben da noch ein anderes Problem, von dem Sie nichts wissen.«
»Und das wäre?«
Luca beugte sich auf dem Tisch vor. »Dieser deutsch-irische Köter, den Sie bei sich aufgenommen haben, Tom Hagen. Ich fürchte, den muss ich umbringen. Eine Frage der Ehre.«
»Da muss ein Irrtum vorliegen«, sagte Vito mit eisiger Stimme. »Tom hat mit unseren Geschäften rein gar nichts zu tun. Weder mit uns noch mit sonst irgendjemand.«
»Das ist nichts Geschäftliches.«
Brasi tat so, als wäre ihm das alles furchtbar unangenehm, aber Vito entging nicht, dass seine Augen leuchteten. »Dann meinen Sie den falschen Tom Hagen. Mein Sohn geht aufs College, er will Jurist werden. Mit Ihnen hat er bestimmt nichts zu tun.«
»Das ist er«, sagte Luca. »Er geht auf die NYU. Und wohnt in dem Wohnheim am Washington Square.«
Vito spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich; er wusste, dass Luca das sehen konnte, und das machte ihn wütend. Er senkte den Blick und bemühte sich, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. »Was hat Tom denn getan, dass Sie ihn umbringen müssen?«
»Er hat meine Freundin gevögelt.« Wieder warf Luca die Hände in die Luft. »Was bleibt mir anderes übrig? Sie ist eine Hure, und ich hab keine Ahnung, warum ich sie noch nicht in den Fluss geworfen habe – aber trotzdem: Was bleibt mir anderes übrig? Das ist eine Frage der Ehre. Ich muss ihn umbringen, Vito. Tut mir leid.«
Vito setzte seinen Hut auf, lehnte sich zurück und blickte Luca in die Augen. Luca erwiderte seinen Blick mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen. Von jenseits der Bürotür drang das dümmliche Lachen von Vinnie zu ihnen herüber. Nachdem es verklungen war, sagte Vito: »Wenn Sie sich dazu durchringen könnten, mir als Vater zu gestatten, mich um Tom zu kümmern, wäre ich Ihnen dafür sehr dankbar. Im Gegenzug würde ich mich bemühen, bei Mariposa zu vermitteln – und bei Cinquemani.«
Luca tat den Vorschlag mit einer Handbewegung ab. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Sie sind sich darüber im Klaren, dass sie versuchen werden, Sie zu töten – Sie und Ihre Männer?«
»Sollen sie doch. Mich schreckt das nicht.«
»Dann benötigen Sie vielleicht«, sagte Vito, stand auf und klopfte sich die Hose ab, »noch etwas Unterstützung – um mit Tomasino und Mariposa fertigzuwerden. Ich habe gehört, dass Sie Geld verloren haben, als die O’Rourkes Ihre Bank überfallen haben. Vielleicht könnten Sie jetzt fünftausend Dollar gut gebrauchen?«
Luca kam um den Tisch herum und trat dicht vor Vito. »Vielleicht«, sagte er und schürzte nachdenklich die Lippen. »Fünfzehntausend aber ganz bestimmt.«
»Gut«, erwiderte Vito augenblicklich. »Ich werde in einer Stunde jemand mit dem Geld zu Ihnen schicken.«
Erst wirkte Luca überrascht, dann belustigt. »Sie ist eine Schlampe«, sagte er und kam wieder auf seine Freundin zu sprechen, »aber sie ist auch eine Schönheit.« Er faltete die Hände vor der Brust und schien einen Moment über das Angebot nachzudenken. Schließlich sagte er: »Wissen Sie was, Vito – ich tu Ihnen den Gefallen und vergesse, was für eine Dummheit Hagen begangen hat.« Er ging zur Bürotür und legte die Hand auf den Knauf. »Er wusste nicht, wer sie war. Kelly hat ihn in einem Lokal in Harlem aufgelesen. Sie ist schön, aber wie ich bereits gesagt habe, sie ist auch eine Hure, und ich wollte sowieso mit ihr Schluss machen.«
»Wir sind uns also einig?«
Luca nickte. »Aber aus reiner Neugier«, sagte er und machte sich vor der Tür breit, »für Sie und Clemenza arbeiten ein ganzer Haufen Leute. Und ich hab nur meine paar Jungs. Außerdem steht Mariposa hinter Ihnen. Warum erledigen Sie mich nicht einfach?«
»Ich weiß, wann ich einen Mann nicht auf die leichte Schulter nehmen kann, Mr. Brasi. Sagen Sie, wo hat Tom Ihre Freundin kennengelernt?«
»In einem Laden namens Juke’s Joint. In Harlem.«
Vito streckte Luca die Hand hin. Luca betrachtete sie nachdenklich, schüttelte sie dann und hielt ihm die Tür auf.
Draußen im Wagen beugte sich Clemenza über den Sitz und öffnete Vito die Tür. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er. Die Gebäckschachtel auf seinem Schoß war leer, und auf seinem Hemd war ein weiterer großer gelblicher Fleck. Clemenza bemerkte, wie Vitos Blick auf die leere Schachtel fiel. »Wenn ich nervös bin, esse ich zu viel«, sagte er. Dann steuerte er den Wagen auf die Park Avenue und fragte noch einmal: »Wie ist es gelaufen?«
»Fahr mich nach Hause«, erwiderte Vito, »und dann schick jemand los, der Tom holt.«
»Tom?« Clemenza warf Vito einen fragenden Blick zu. »Tom Hagen?«
»Tom Hagen«, bellte Vito.
Clemenza wurde bleich und sank auf seinem Sitz in sich zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen.
»Und sag Hats Bescheid. Er soll Luca fünfzehntausend Dollar bringen. Sofort. Ich habe Brasi gesagt, dass er es innerhalb von einer Stunde bekommt.«
»Fünfzehntausend Dollar? Mannagg’! Warum legst du ihn nicht einfach um?«
»Nichts würde ihn glücklicher machen. Er gibt sich wirklich alle Mühe, in das nächstbeste offene Messer zu laufen.«
Clemenza musterte Vito besorgt, als wäre in Luca Brasis Lagerhaus etwas vorgefallen, das ihn ein wenig verrückt gemacht hätte.
»Bitte hol Tom«, sagte Vito etwas leiser. »Später erkläre ich dir alles. Ich muss jetzt nachdenken.«
»Okay. Natürlich, Vito.« Clemenza griff nach der Gebäckschachtel, stellte fest, dass sie leer war, und warf sie auf die Rückbank.