Sonny musste lachen, als er sich in dem Spiegel an der Wand der Bäckerei sah. Er stand nackt hinter der Glasvitrine, direkt neben der Kasse, und aß einen mit Zitronencreme gefüllten Donut. Eileens Tante hatte Caitlin für den Tag zu sich genommen, und Eileen hatte den Laden früher zugemacht und Sonny zu sich eingeladen. Jetzt lag sie im Bett und schlief, und Sonny war die Treppe hinuntergestiegen, die direkt aus ihrem Wohnzimmer in den Hinterraum der Bäckerei führte – er hatte Hunger gehabt. Die große grüne Jalousie vor dem Schaufenster war heruntergelassen, und der Lamellenvorhang an der Glastür war geschlossen. Es war später Nachmittag, und der Laden war in orangefarbenes Licht getaucht. Draußen auf der Straße hasteten Leute vorbei, und Sonny schnappte immer wieder Gesprächsfetzen auf. Ein paar Jungs palaverten über Baseball, redeten über die Washington Senators und Goose Goslin und darüber, ob er es mit Hubbell aufnehmen konnte. Sonny interessierte sich genauso wenig für Sport wie sein Vater. Er musste erneut lachen, als ihm bewusst wurde, dass er hier im Adamskostüm herumstand und einen Donut aß, während diese Vögel keine fünf Meter von ihm entfernt über Baseball quatschten.
Er schlenderte mit dem Donut in der Hand durch den Laden und schaute sich um. Seit dem Picknickausflug musste er immer wieder an das Anwesen denken und an die beiden Visagen, die versucht hatten, sie übers Ohr zu hauen. Irgendetwas an dem größeren Kerl, der sich den Schraubenschlüssel geschnappt hatte, ließ ihm keine Ruhe. Später, nachdem sie fort waren, hatte Sonny zu Clemenza gesagt: »Nicht zu fassen, was die beiden Clowns sich da ausgedacht haben«, und Clemenza hatte erwidert: »Tja, Sonny, das ist Amerika.« Sonny hatte ihn nicht gefragt, was er damit meinte, aber wahrscheinlich sollte das heißen, dass es in Amerika eben so lief: Jeder versuchte jeden über den Tisch zu ziehen. Leute wie Clemenza und sein Vater und all die anderen redeten noch immer über Amerika, als wäre es ein fremdes Land. Dieser große Kerl – es war gar nicht so sehr das, was er gesagt hatte, obwohl dieser Schwachsinn über den Papst Sonny schon unter die Haut gegangen war. Dabei war er überhaupt nicht religiös, und seine Mutter hatte schon vor Jahren aufgehört, ihn jeden Sonntag in die Messe zu schleppen. »Wie dein Vater«, hatte sie zornig gesagt – auch Vito ging sonntags nicht zur Kirche. Mit seinem Vater verglichen zu werden, machte Sonny jedoch nur stolz. Der Papst allerdings war für Sonny lediglich ein Mann mit einem komischen Hut. Also ärgerte sich Sonny gar nicht so sehr über das, was der Kerl mit dem Schraubenschlüssel gesagt hatte, sondern darüber, wie er sie angeschaut hatte – vor allem, wie er Vito angeschaut hatte. Das war ihm gegen den Strich gegangen, und er träumte noch immer davon, ihn zu vermöbeln, bis seine eigene Mutter ihn nicht mehr erkannte.
Im Hinterzimmer, hinter der eigentlichen Bäckerei, stieß Sonny auf eine geschlossene, ungewöhnlich schmale Tür, und als er sie öffnete, blickte er in ein kleines Zimmer mit einer Liege und zwei wackligen Bücherschränken. Die Borde waren randvoll mit Büchern, und oben lagen weitere Bände quer, den Rücken dem Betrachter zugewandt. Neben der Liege stapelten sich, unter einer alten Messinglampe, drei Bücher auf einem Nachttisch. Sonny griff nach ihnen und stellte sich vor, wie Eileen in diesem kleinen Zimmer mit dem Fenster aus Glasbausteinen, die auf die Gasse hinter dem Haus hinausgingen, eine Pause einlegte. Das unterste Buch war dick und schwer, jede Seite mit Goldrand verziert. Er schlug es auf und sah, dass es sich um die gesammelten Stücke von Shakespeare handelte. Das mittlere Buch war ein Roman mit dem Titel Fiesta. Das oberste Buch war dünn, und als Sonny es aufschlug, stellte er fest, dass es sich dabei um eine Sammlung von Gedichten handelte. Er klemmte es sich unter den Arm und nahm es mit nach oben, wo er Eileen antraf, die sich angezogen hatte und in der Küche vor dem Ofen stand. Es roch köstlich nach frischem Brot.
Als sie Sonny sah, lachte sie und sagte: »Um Himmels willen, zieh dir was an! Schämst du dich denn gar nicht?«
Sonny schaute mit einem Grinsen an sich herunter. »Ich dachte, ich gefall dir so.«
»Den Anblick vergesse ich jedenfalls nicht so bald. Sonny Corleone, der nackt in meiner Küche steht, und dann noch mit einem Buch unter dem Arm.«
»Das hab ich im Hinterzimmer gefunden.« Sonny legte den Gedichtband auf den Küchentisch.
Eileen warf einen flüchtigen Blick auf das Buch und setzte sich an den Tisch. »Das gehört deinem Kumpel, Bobby Corcoran. Manchmal verbringt er den Tag hier und tut so, als wollte er mir in der Bäckerei helfen. Aber dann liegt er doch nur im Hinterzimmer und liest in seinen Büchern.«
»Cork liest Gedichte?« Sonny zog sich einen Stuhl heran.
»Dein Freund ›Cork‹ liest alle möglichen Bücher.«
»Ja, ich weiß. Aber Gedichte?«
Eileen seufzte, als wäre sie plötzlich furchtbar müde. »Unsere Eltern haben uns dazu angehalten, zu lesen und wieder zu lesen. Aber eigentlich war unser Vater die Leseratte.« Eileen hielt inne, sah Sonny liebevoll an und strich ihm durchs Haar. »Bobby war noch ganz klein, als sie an der Grippe gestorben sind. Aber sie haben uns ihre Bücher hinterlassen.«
»Dann sind das die Bücher eurer Eltern?«
»Jetzt gehören sie Bobby. Ein paar haben Bobby und ich selbst gekauft. Wahrscheinlich hat er sie inzwischen alle zweimal gelesen.« Sie küsste Sonny auf die Stirn. »Du gehst jetzt besser. Es ist schon spät, und ich habe noch zu tun.«
»Italiener lesen keine Bücher«, sagte Sonny und stand auf, um ins Schlafzimmer zu gehen. Als Eileen lachte, fügte er hinzu: »Von den Italienern, die ich kenne, liest keiner Bücher.«
»Das ist etwas anderes, als zu sagen: Italiener lesen keine Bücher.«
Nachdem er sich angezogen hatte, kam Sonny in die Küche zurück. »Vielleicht lesen nur Sizilianer nicht«, sagte er zu Eileen.
Eileen nahm seinen Hut vom Garderobenständer im Flur. »Sonny, hier im Viertel liest niemand. Die müssen alle dafür sorgen, dass etwas zu essen auf den Tisch kommt.«
Sonny nahm seinen Hut entgegen und küsste sie. »Nächsten Mittwoch?«
»Nun ja …« Eileen legte sich die Hand auf die Stirn. »Ich glaube, wir sollten das besser sein lassen. Die ganze Sache dauert jetzt schon lange genug, findest du nicht auch?«
»Was redest du da? Was soll das heißen – ›schon lange genug‹?«
»Cork hat mir erzählt, dass du dabei bist, dir ein neues Flittchen anzulachen. Du triffst dich mit ihr, wenn du in der Werkstatt Mittagspause machst, stimmt’s? Hab ich recht?«
»Mannagg’!« Sonny blickte zur Decke.
»Und was ist mit dieser Sandra, mit der dich dein Vater verheiraten will?«
»Cork redet zu viel.«
»Ach, Sonny – Bobby vergöttert dich! Weißt du das nicht? Dich und deine Weiber.« Sie ging zum Ofen hinüber, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, schaute hinein und ließ ihn einen Spalt offen.
»Eileen …« Sonny setzte den Hut auf und nahm ihn wieder ab. »Diese Sache in der Mittagspause … Das ist nichts. Das ist nur …«
»Ich bin nicht sauer«, sagte Eileen. »Es geht mich auch gar nichts an, mit wem du dich herumtreibst.«
»Wenn du nicht sauer bist, was ist es dann?«
Eileen seufzte, setzte sich wieder an den Küchentisch und bedeutete Sonny, es ihr gleichzutun. »Erzähl mir von Sandra.«
»Was willst du denn wissen?« Sonny zog sich einen Stuhl heran.
»Wie ist sie so? Ich bin einfach neugierig.«
»Sie ist wunderschön, so wie du.« Sonny setzte Eileen den Hut auf den Hinterkopf, und er rutschte ihr bis über die Ohren. »Sie hat nur etwas dunklere Haut, wie alle Italiener. Du weißt schon – Barbaren.«
Eileen nahm den Hut ab und hielt ihn sich vor die Brust. »Dunkle Haare, dunkle Augen, tolle Titten?«
»Yeah. Das trifft es.«
»Hast du schon mit ihr rumgemacht?«
»Nee«, erwiderte Sonny, als wäre das unvorstellbar. »Das ist ein braves italienisches Mädchen. Der darf ich erst an die Wäsche, wenn ich mit einem Verlobungsring ankomme.«
Eileen lachte und warf Sonny den Hut auf den Schoß. »Dann ist ja nur gut, dass du deine irische Hure hast.«
»Ach, komm schon, Eileen. So ist es doch gar nicht.«
»Klar ist es so, Sonny.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Hör mir gut zu«, sagte sie, die Hand auf dem Türknauf. »Du solltest deine Sandra heiraten und sie gleich schwängern, damit sie ein Dutzend Kinder bekommt, solange sie jung ist. Ihr Italiener mögt doch große Familien.«
»Das sagt die Richtige! Bei euch Iren sind die Familien manchmal so groß, dass ich den Eindruck hab, ihr seid alle miteinander verwandt.«
Eileen lächelte – dem konnte sie nicht widersprechen. »Trotzdem, wir sollten uns besser nicht mehr sehen.« Sie nahm Sonny in den Arm und küsste ihn. »Früher oder später kommt uns jemand auf die Schliche, und dann ist die Hölle los. Lass uns lieber jetzt Schluss machen.«
»Ich glaub dir kein Wort.« Sonny langte über ihre Schulter und drückte die Tür wieder ins Schloss.
»Das solltest du aber«, erwiderte Eileen unnachgiebig. »Ich habe immer gesagt, dass das nur ein Techtelmechtel ist.« Sie öffnete die Tür und trat einen Schritt beiseite.
Sonny beugte sich vor, als wollte er sie schlagen, stürzte dann aber zur Tür hinaus und warf sie hinter sich zu. Auf dem Weg nach unten rammte er die Faust gegen die Wand, und unter der Tapete löste sich der Putz. Er konnte noch immer hören, wie kleine Stückchen davon in den Keller rieselten, als sich die Haustür hinter ihm schloss.
Carmella eilte zwischen Herd und Spüle hin und her und klapperte mit Töpfen und Pfannen – sie bereitete eine Aubergine für das Abendessen zu. Hinter ihr am Küchentisch hüpfte Connie auf den Knien von Clemenza auf und ab, während Tessio und Genco nebeneinander saßen und Michael zuhörten, der stockend von einem Referat erzählte, dass er über den Kongress verfasste. Fredo hatte gerade den Tränen nahe erklärt, er würde das Haus verlassen und zu einem Freund hinübergehen. Tom war mit Vito oben im Arbeitszimmer, und im Laufe der letzten halbe Stunde hatten sich alle bemüht, nicht hinzuhören, wenn es hinter der geschlossenen Tür laut wurde. Vito verlor nur selten die Beherrschung. Er gab sich größte Mühe, seine Kinder nicht anzuschreien, und ganz bestimmt fluchte er nicht – und so lagen bei allen die Nerven blank, als sie hörten, wie oben geschrien und geflucht wurde.
»Es gibt achtundvierzig Bundesstaaten«, sagte Michael, »und sechsundneunzig Männer und Frauen, die ihre Wähler als Senatoren vertreten.«
»Damit meint er, dass sie jeden vertreten, der ihnen genug bezahlt«, sagte Clemenza zu Connie.
Michael schaute zur Küchentür hinaus und an die Decke, als könnte er nach oben in das Arbeitszimmer blicken, wo es in den letzten paar Minuten merklich ruhiger geworden war. Er zupfte an seinem Hemdkragen und strich sich über den Nacken, als wäre ihm der Kragen zu eng. »Was meinst du damit?«, fragte er an Clemenza gewandt. »Was meinst du mit ›genug bezahlt‹?«
»Hör nicht auf ihn, Michael«, sagte Genco.
Carmella, die mit einem Küchenmesser an der Theke stand, sagte, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, in unheilverheißendem Tonfall: »Clemenza!«
»Ich hab gar nichts gemeint«, sagte Clemenza und kitzelte Connie, die wild auf seinem Schoß herumzappelte.
Dann warf sich das Mädchen mit dem Oberkörper auf den Tisch und rief: »Michael, ich kann alle Bundesstaaten aufsagen«, und ohne Luft zu holen: »Alabama, Arizona, Arkansas …«
»Sta’zitt’!«, fauchte Carmella. »Connie, nicht jetzt!« Sie ließ das Messer herabsausen und begann die Aubergine zu zerteilen, als wäre sie ein Stück rohes Fleisch und das Messer ein Beil.
Oben ging die Tür des Arbeitszimmers auf. Alle wandten sich erst der Treppe zu und dann, als sie sich dessen bewusst wurden, konzentrierten sie sich sofort wieder auf das, was sie gerade gemacht hatten: Carmella säbelte an der Aubergine herum, Clemenza kitzelte Connie, und Michael erklärte Genco und Tessio, wie das Repräsentantenhaus funktionierte.
Als Tom die Küche betrat, war sein Gesicht blass, und seine Augen waren geschwollen. Er wies auf Genco und sagte: »Pa will dich sehen.«
»Genco oder uns alle?«, fragte Clemenza und setzte Connie ab.
»Euch alle.«
Connie, die normalerweise auf Tom zustürzte, kaum dass sie ihn sah, ging stattdessen um den Tisch herum und stellte sich neben Michael. Sie trug auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe, weiße Söckchen und ein rosafarbenes Kleid. Michael hob sie hoch und setzte sie sich auf den Schoß, während sie beide schweigend Tom anstarrten.
»Ma, ich muss los«, sagte Tom.
Carmella deutete mit dem Messer auf den Tisch. »Bleib noch zum Abendessen. Es gibt Aubergine, wie du sie am liebsten magst.«
»Ich kann nicht, Ma.«
»Du kannst nicht bleiben?«, sagte Carmella mit erhobener Stimme. »Du hast keine Zeit, mit deiner Familie zu Abend zu essen?«
»Ich kann nicht«, erwiderte Tom lauter, als er beabsichtigt hatte. Erst sah es so aus, als wollte er sich entschuldigen oder ihr erklären, warum, aber dann lief er einfach hinaus.
Carmella deutete auf Michael. »Geh mit Connie hoch in ihr Zimmer und lies ihr etwas vor.« Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
Tom stand bereits an der Tür und zog seine Jacke an, als Carmella ihn einholte. »Es tut mir leid, Ma«, sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Tom, Vito hat mir erzählt, was passiert ist.«
»Das hat er?«
»Wieso nicht? Glaubst du, ein Mann redet nicht mit seiner Frau? Glaubst du, Vito erzählt mir nicht alles?«
»Er erzählt dir, was er dir erzählen will«, sagte Tom – und kaum hatte er es ausgesprochen, sah er Carmellas Augen wütend aufblitzen und entschuldigte sich. »Es tut mir leid, Ma. Ich bin durcheinander.«
»Du bist durcheinander«, wiederholte Carmella.
»Und ich schäme mich.«
»Das solltest du auch.«
»Ich habe mich schlecht benommen. Das kommt nicht wieder vor.«
»Irgendein irisches Mädchen«, sagte Carmella und schüttelte den Kopf.
»Ma, ich habe auch irische Vorfahren.«
»Das spielt keine Rolle. Du solltest es besser wissen.«
»Sì«, sagte Tom. »Mi dispiace.« Er zog den Reißverschluss an seiner Jacke zu. »Die Kleinen wissen von nichts?«, fügte er hinzu. Dabei wusste er genau, dass sie nichts wussten.
Carmella verzog das Gesicht, als wäre die Frage albern – natürlich wussten die Kleinen von nichts. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Wangen. »Tom«, sagte sie, »du bist ein Mann. Du musst dich zusammenreißen. Gehst du in die Kirche? Sprichst du deine Gebete?«
»Natürlich, Ma.«
»In welche Kirche?«, hakte Carmella nach, und als Tom nicht gleich antwortete, seufzte sie theatralisch. »Männer! Ihr seid alle gleich.«
»Ma, hör zu. Pa hat gesagt, dass er nichts mehr von mir wissen will, wenn so etwas noch mal passiert.«
»Dann sorg dafür, dass es nicht noch mal passiert«, erwiderte Carmella barsch. Etwas sanfter fügte sie hinzu: »Bete, Tom. Bete zu Jesus. Glaub mir, du bist jetzt ein Mann. Du brauchst jede Hilfe, die du kriegen kannst.«
Tom küsste Carmella auf die Wange. »Ich komm am Sonntag zum Abendessen.«
»Natürlich kommst du«, sagte Carmella, als wäre das die selbstverständlichste Sache auf der Welt. »Sei ein braver Junge.« Sie öffnete ihm die Tür, und als er hinausging, tätschelte sie ihm liebevoll den Arm.
Vito blickte aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Als er sah, wie Tom das Haus verließ und die Arthur Avenue entlang zur Straßenbahnhaltestelle lief, schenkte er sich noch etwas Strega nach. Genco stand vor Vitos Schreibtisch und dachte laut darüber nach, wie Giuseppe Mariposa Rosario LaContis Organisation in den Griff zu bekommen versuchte. Nicht alle von LaContis Leuten fügten sich anstandslos. Ihnen gefiel nicht, wie Giuseppe Rosario beseitigt, ihn gedemütigt und nackt auf der Straße hatte liegen lassen. Giuseppe Mariposa sei ein Tier, murrten sie. Manche von ihnen nahmen Kontakt zu den Straccis und Cuneos auf, um bei ihnen unterzuschlüpfen – solange sie nur nicht für Mariposa arbeiten mussten.
Tessio, der mit verschränkten Armen an der Tür des Arbeitszimmers stand, sagte mit gewohnt mürrischer Miene: »Anthony Stracci und Ottilio Cuneo sind nicht zu dem geworden, was sie sind, weil es ihnen an Klugheit mangelt. Einen Krieg mit Mariposa werden sie nicht riskieren.«
»Sì«, sagte Genco. Er trat vom Schreibtisch zurück, ließ sich in einen Polstersessel fallen und sah Vito vielsagend an. »Mariposa hat LaContis Organisation unter seiner Knute und Tattaglia in der Tasche – er ist einfach zu mächtig. Stracci und Cuneo werden jedem den Rücken zukehren, der zu ihnen kommt.«
Clemenza, der mit einem Glas Anisette in der Hand neben Genco saß, fügte hinzu: »Ich muss Mariposa irgendwas erzählen, wie wir die Sache mit Luca Brasi angehen. Er erwartet von uns, dass wir uns darum kümmern.«
Vito ließ sich auf der Fensterbank nieder und balancierte das Glas mit Strega auf dem Knie. »Richte Giuseppe aus, dass wir uns um Brasi kümmern, wenn die Zeit dafür reif ist.«
»Vito«, sagte Clemenza, »das wird Mariposa nicht gefallen. Tomasino will, dass Brasi jetzt aus dem Weg geräumt wird, und Mariposa möchte Tomasino bei Laune halten.« Als Vito nur mit den Achseln zuckte, warf Clemenza Genco einen hilfesuchenden Blick zu. Genco wandte sich ab. Clemenza lachte, und es war ihm anzuhören, wie verblüfft er war. »Erst will Mariposa, dass wir herausfinden, wer ihm den Schnaps klaut – und wir bleiben ihm die Antwort schuldig. Dann will er, dass wir uns um Brasi kümmern – und wir erzählen ihm, er soll sich noch ein bisschen gedulden. Che minchia! Vito! Willst du dich unbedingt mit ihm anlegen?«
Vito nippte an seinem Drink. »Warum«, fragte er Clemenza leise, »sollte ich jemand ermorden, der Mariposa das Fürchten lehrt?«
»Und nicht nur Mariposa«, sagte Tessio.
Clemenza breitete die Arme aus. »Was bleibt uns anderes übrig?«
»Richte Giuseppe aus, dass wir uns um Brasi kümmern«, erwiderte Vito. »Sag ihm, wir arbeiten daran. Tu einfach, um was ich dich bitte. Ich möchte nicht, dass er oder Cinquemani auf die Idee kommen, Brasi kaltzumachen. Ich möchte, dass sie glauben, wir erledigen das für sie.«
Clemenza ließ sich gegen die Lehne seines Sessels sinken und warf Tessio einen verzweifelten Blick zu.
»Vito«, sagte Tessio und schritt von der Tür zum Schreibtisch, »verzeih mir, aber in dieser Sache muss ich Clemenza recht geben. Falls Mariposa beschließt, uns fertigzumachen, haben wir ihm nichts entgegenzusetzen. Er kann uns einfach auslöschen.«
Vito seufzte und faltete die Hände. Dann sah er Genco an und nickte.
»Hört zu.« Genco zögerte und suchte nach den passenden Worten. »Vito und ich haben das bisher für uns behalten. Wir wollten nicht riskieren, dass jemand einen Fehler begeht und Frankie Pentangeli kaltgemacht wird.«
Clemenza klatschte in die Hände; ihm war sofort alles klar. »Frankie ist auf unserer Seite! Den Hurensohn hab ich schon immer geliebt! Für Abschaum wie Mariposa ist er viel zu gut.«
»Clemenza«, sagte Vito, »bei Gott, ich vertraue dir tagtäglich das Leben meiner Kinder an, aber …« Er hielt inne und hob den Finger. »Du redest zu viel. Und wenn wir bei dieser Sache nur den kleinsten Fehler begehen, muss unser Freund das büßen.«
»Vito«, erwiderte Clemenza, »ich schwöre dir, du hast nichts zu befürchten.«
»Gut.« Vito nickte Genco erneut zu.
»Mariposa will uns fertigmachen«, sagte Genco. »Das wissen wir von Frankie. Es ist nur eine Frage der Zeit …«
»Verdammter Hurensohn«, fiel ihm Clemenza ins Wort. »Die Entscheidung ist bereits gefallen?«
»Sì«, sagte Genco. »Während Mariposa und seine Jungs noch mit LaConti beschäftigt sind, haben wir etwas Zeit – aber er hat uns im Visier. Er hat es auf das Geschäft mit dem Olivenöl abgesehen und auf unsere Verbindungen. Schlicht auf alles. Er weiß, dass er sich umorientieren muss, wenn die Prohibition aufgehoben wird.«
»Bastardo!«, sagte Tessio. »Emilio und die anderen? Die machen da mit?«
Genco nickte. »Sie glauben, dass du eine eigenständige Organisation führst, aber sie haben es auch auf dich abgesehen. Wahrscheinlich denken sie, erst Corleone und dann du.«
»Warum sagen wir Frankie nicht einfach, er soll Mariposa das Gehirn wegpusten?«, fragte Clemenza.
»Und was würde das bringen?«, entgegnete Vito. »Dann steht Emilio Barzini noch besser da und wird uns mit den andren Familien im Rücken fertigmachen.«
»Ich würde ihm trotzdem gerne das Gehirn wegpusten«, murmelte Clemenza.
»Im Moment wartet Giuseppe noch ab«, sagte Genco. »Aber Frankie ist sich sicher, dass er und die Barzinis etwas vorhaben. Sie haben ihn nicht eingeweiht, also weiß er nicht, was genau, aber etwas ist im Busch, und sobald er mehr herausfindet, werden wir es erfahren. Vorerst haben sie noch genug mit LaContis Organisation zu tun.«
»Und was sollen wir machen?«, fragte Clemenza. »Herumsitzen und abwarten, bis sie sich auf uns einschießen?«
»Wir haben einen Vorteil.« Vito stand auf und ging mit seinem Glas zum Schreibtischstuhl hinüber. »Frankie spioniert für uns, also wissen wir, was Giuseppe vorhat.« Er nahm eine Zigarre aus einer Schublade und wickelte sie aus. »Mariposa denkt an die Zukunft, aber das tu ich auch. Sobald sich die Gesetzeslage ändert, werde ich nach neuen Geschäftsfeldern suchen. Aber erst müssen Leute wie Dutch Schultz und Legs Diamond aus dem Weg geräumt werden.« Vito verzog angewidert das Gesicht. »Jeden Tag wird in den Zeitungen über sie berichtet, und das geht einfach nicht. Ich weiß das, und Giuseppe weiß das. Wir alle wissen das. Es gibt viel zu viele Hanswürste, die glauben, sie könnten machen, was sie wollen. In jedem Viertel spielt ein anderer den starken Mann. Das muss aufhören. Giuseppe glaubt, er kann alles an sich reißen.« Vito schnitt die Spitze seiner Zigarre ab. »Giuseppe ist wie dieser idiota Adolf Hitler in Deutschland. Er hört erst auf, wenn ihm alles gehört.« Vito zündete sich die Zigarre an und atmete genussvoll ein. »Wir haben noch einiges vor. Ich weiß noch nicht, wie, aber es ist gut möglich, dass sich Luca Brasi als nützlich erweist. Wir können jeden gebrauchen, vor dem Mariposa Angst hat, also werden wir unser Bestes tun, damit er am Leben bleibt. Und die Visagen, die Mariposa den Schnaps klauen? Es ist in unserem eigenen Interesse herauszufinden, wer die sind, und sie Giuseppe auszuliefern. Wenn uns das gelingt, und wenn Frankie am Leben bleibt und weiterhin für uns arbeitet …« Vito hielt erneut inne und sah seine Freunde an. »Mit Gottes Hilfe werden wir bereit sein, wenn es so weit ist. Jetzt«, sagte er und deutete zur Tür, »müsst ihr mich entschuldigen, aber ich hatte einen harten Tag.«
Clemenza trat einen Schritt auf Vito zu, als wollte er noch etwas sagen, aber Vito hob die Hand und ging zum Fenster hinüber. Er wandte Clemenza und den anderen den Rücken zu und starrte auf die Straße hinaus, während sie das Zimmer verließen. Als die Tür ins Schloss fiel, saß er bereits wieder auf der Fensterbank und schaute über die Hughes Avenue hinweg zu den Zweifamilienhäusern aus Backstein hinüber, die den Schiefergehsteig säumten. Sein Blick jedoch war nach innen gerichtet. Letzte Nacht, vor seinem Treffen mit Luca Brasi, hatte er geträumt, er stünde im Central Park vor dem Springbrunnen und starrte einen Schiffskoffer an, in den eine entstellte Leiche gestopft war. Die Identität der Leiche konnte er nicht ausmachen, aber sein Herz raste, weil er Angst hatte, genauer hinzuschauen. Er beugte sich über den Koffer, immer näher heran, aber er konnte das Gesicht nicht erkennen. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Er schaute zum Springbrunnen auf und sah, dass der riesige Engel aus Stein auf ihn deutete. Und als er den Blick senkte, streckte die Leiche in dem Koffer die Hände nach ihm aus – und Vito wachte auf. Vito, der immer tief und fest schlief, lag fast die ganze Nacht wach, während seine Gedanken hierhin und dorthin huschten – und als er am Morgen Kaffee trank und die Zeitung las, stieß er wieder auf die Fotografie der Leiche von Nicky Crea, die in einen Schiffskoffer gestopft und in den Central Park geworfen worden war, und zwar direkt unterhalb des Springbrunnens. Das Foto war ziemlich weit hinten abgedruckt und gehörte zu einem Artikel, der einmal mehr über den Mord berichtete. Verdächtige gab es keine. Zeugen genauso wenig. Und Spuren auch nicht. Nur die Leiche des Jungen in einem Schiffskoffer, und ein Mann in Zivil, der sich über ihn beugte. Als er das Bild erneut sah, stand ihm der Traum plötzlich wieder lebhaft vor Augen, und er schob die Zeitung beiseite – aber Zeitung und Traum ließen ihn nichts Gutes ahnen. Später, als Luca Brasi ihm von Tom erzählte, musste er wieder an den Traum denken, als gäbe es da eine Verbindung – und selbst jetzt, nachdem der Tag fast vorbei war, konnte er den Traum nicht abschütteln und auch nicht die schlimme Vorahnung, die ihn heimgesucht hatte.
Vito saß mit seiner Zigarre und seinem Glas auf der Fensterbank seines Arbeitszimmers, bis Carmella an der Tür klopfte und eintrat. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich zu ihm. Sie sah ihn an, nahm seine Hand und massierte seine Finger auf die Art, wie er es mochte, knetete eines nach dem anderen seine Gelenke, während das letzte Tageslicht verblasste.
Donnie O’Rourke bog um die Ecke auf die Ninth Avenue und blieb stehen, um sich die Schnürsenkel zu binden. Er setzte den Fuß auf den Sockel eines Laternenpfahls und ließ sich Zeit. In der Nachbarschaft war es ruhig: Ein paar piekfein herausgeputzte Kerle, die den Gehsteig entlangschlenderten, ein gutaussehendes Weibsbild zwischen sich; eine ältere Frau mit einer braunen Papiertüte auf dem Arm und einem Kind an der Hand. Auf der Straße rollten immer wieder Autos vorbei, und ein Hausierer schob seinen leeren Karren und pfiff ein Lied vor sich hin, das wahrscheinlich nur ihm bekannt vorkam. Es war später Nachmittag und für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm, die letzten Stunden eines herrlichen Herbsttages, an dem sich alle im Freien aufhielten, um den blauen Himmel und den Sonnenschein zu genießen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte, ging Donnie die Straße entlang bis zu einem Apartmenthaus, in dem er zusammen mit Sean und Willie eine Wohnung gemietet hatte. Ein paar Stufen führten vom Hauseingang ins Hochparterre hinauf, wo sich ihre Zimmer befanden.
Kaum hatte Donnie das kleine Foyer mit seinem schwarz-weiß gefliesten Boden betreten, flog die Kellertür rechts von der Treppe auf. Einer von Lucas Jungs richtete eine Pistole auf seinen Kopf. Donnie überlegte kurz, ob er nach seiner Waffe greifen sollte, aber dann kam noch einer von Lucas Gang – der mit der bandagierten Hand – aus dem Keller. Er hielt eine abgesägte Schrotflinte auf Hüfthöhe, direkt auf Donnies Eier gerichtet. »Mach keine Dummheiten«, sagte er. »Luca will nur mit dir reden.« Er wies mit der Schrotflinte in den Keller hinunter, während der andere Kerl ihn filzte und ihm erst die Pistole abnahm, die in seinem Schulterhalfter steckte, dann die kurzläufige, die er um den Fußknöchel geschnallt hatte.
Im Keller hatte sich Luca auf einem heruntergekommenen Sessel mit Klauenfüßen ausgestreckt, der neben dem Heizkessel stand. Das weiße Polster hing aus Sitz und Lehne, und die Klaue am rechten hinteren Bein war abgebrochen, so dass der Sessel schief stand. Luca hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine übereinandergeschlagen. Er trug Anzughosen und ein Unterhemd; Hemd, Jackett und Krawatte hingen rechts von ihm über einem Sessel, der zu dem anderen gehörte und in demselben jämmerlichen Zustand war. Hooks Battaglia stand hinter Luca. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und wirkte gelangweilt. Und hinter Hooks stand ein Typ mit der Hand in der Hose und kratzte sich. Donnie nickte Hooks zu.
»Ihr Iren«, sagte Luca, als Paulie und JoJo Donnie vor seinen Stuhl stießen. »Ihr fangt einen Krieg mit mir an, und dann lauft ihr ohne Leibwächter herum, als könne euch niemand etwas zuleide tun. Was ist los mit euch? Habt ihr gedacht, ich würde nicht rausfinden, wo ihr euch verkriecht?«
»Du kannst mich mal, Luca«, erwiderte Donnie.
»Siehst du«, sagte Luca und schaute zu Hooks hoch. »Begreifst du jetzt, warum ich diesen Kerl mag? Er hat keine Angst vor mir. Und er hat keine Angst zu sterben.«
»Bevor ich euch die Stiefel küsse, müsst ihr mich schon umbringen«, sagte Donnie zu Hooks.
Hooks schüttelte ganz leicht den Kopf, als wollte er Donnie warnen, nicht so aggressiv aufzutreten.
»Wem willst du dann die Stiefel küssen, Donnie?«, fragte Luca. »Irgendwem muss jeder die Stiefel küssen. Außer ich natürlich«, fügte er lachend hinzu.
»Was willst du, Luca? Bringst du mich jetzt um?«
»Eigentlich hab ich das nicht vor.« Luca betrachtete den Heizkessel und sah dann zu den Rohren hinauf, die an der Decke entlangliefen, bevor er sich wieder Donnie zuwandte. »Du gefällst mir. Ihr habt hier immer ordentlich Kohle gescheffelt, du und die restlichen Iren, bevor ich und meine Makkaronis – so nennt ihr uns doch, oder? –, bevor ich und meine Makkaronis hier aufgetaucht sind und euch alles versaut haben. Früher hattet ihr Iren hier das Sagen. Ich kann schon verstehen, das ihr sauer wart, als wir euch in eure betrunkenen Ärsche getreten haben und ihr wieder in der Gosse gelandet seid. Wirklich – dafür hab ich Verständnis.«
»Echt großzügig von dir«, sagte Donnie. »Du bist ein richtiges Herzchen, Luca.«
»Das ist die Wahrheit.« Luca setzte sich auf. »Ich möchte dich nicht umbringen – auch wenn du es verdient hättest. Kelly spielt da auch eine Rolle. Schließlich bin ich mit deiner Schwester zusammen.«
»Die kannst du behalten.«
»Sie ist eine Hure«, sagte Luca und lächelte, als Donnies Miene sich verfinsterte. Ganz offensichtlich wäre er Luca am liebsten an die Gurgel gegangen. »Aber sie ist meine Hure.«
»Fahr zur Hölle, Luca Brasi«, sagte Donnie. »Du und dein ganzes Gesocks.«
»Wird sich kaum vermeiden lassen.« Luca tat den Fluch mit einer Handbewegung ab. »Weißt du, was mich der Banküberfall gekostet hat?« Zum ersten Mal klang seine Stimme wütend. »Und trotzdem möchte ich dich nicht töten, Donnie, denn wie gesagt, ich hab Verständnis für die Situation, in der ihr euch befindet.« Luca legte eine dramatische Pause ein und warf dann die Hände in die Luft. »Aber Willie muss dran glauben«, sagte er. »Er hat versucht, mich umzubringen, er hat zwei von meinen Jungs angeschossen, er hat herumkrakeelt, er würde mich kaltmachen … Willie muss sterben.«
»Und?«, fragte Donnie. »Was hab ich dann hier verloren?«
Luca wandte sich zu Hooks um. »Siehst du? Der Kerl ist klug. Er hat kapiert: Wir wissen, wo sie sich verstecken, also hätten wir Willie einfach kassieren können, und die Sache wäre erledigt. Dabei«, sagte er und drehte sich wieder zu Donnie um, »wissen wir ganz genau, wo Willie im Moment ist. Er ist oben in eurer Wohnung im Hochparterre, Apartment 1B. Wir haben ihn vor einer Stunde reingehen sehen.«
Donnie trat einen Schritt auf Luca zu. »Komm zur Sache. Mir ist langweilig.«
»Sicher.« Luca gähnte und reckte sich, als würde er sich irgendwo in der Sonne entspannen und nicht in diesem feuchten, dunklen Keller hocken. »Ich verlange nur von dir – und ich gebe dir mein Wort, dass ich dir kein Haar krümmen werde –, dass du raus auf den Flur gehst und zu Willie hochrufst, er soll runter in den Keller kommen. Das ist alles, Donnie. Mehr will ich gar nicht.«
Donnie lachte. »Du willst, dass ich meinen Bruder verrate, damit du mich am Leben lässt.«
»Ganz genau.« Luca setzte sich wieder aufrecht hin. »Das ist der Deal.«
»Klar«, sagte Donnie. »Weißt du was: Warum gehst du nicht nach Hause und fickst deine Mutter?«
Luca gab Vinnie und JoJo, die nebeneinander am Heizkessel lehnten, ein Zeichen. JoJo bückte sich und hob ein Seil auf. Paulie half ihnen, Donnie mit den Handgelenken an einem Rohr festzubinden, so dass er auf den Zehenspitzen stehen musste, wenn er nicht in der Luft baumeln wollte. Donnie schaute zu Hooks hinüber, der so reglos wie eine Statue neben Luca stand.
»Ich hatte gehofft, wir könnten das vermeiden«, sagte Luca und erhob sich ächzend aus seinem Sessel.
»Aber klar doch. Eine wahre Schande, was für furchtbare Dinge du tun musst, was, Luca?«
Luca nickte, als würde ihn Donnies Scharfblick beeindrucken. Er tanzte ein wenig auf der Stelle wie ein Boxer beim Aufwärmen, schlug ansatzlos mit links und rechts ins Leere, bevor er vor Donnie trat und sagte: »Bist du dir sicher?«
Donnie grinste höhnisch. »Na los, mach schon. Mir ist langweilig.«
Lucas erster Schlag traf Donnie hart im Magen, und er baumelte nach Luft schnappend an dem Rohr. Luca wartete schweigend ab, bis er wieder atmen konnte, damit er sich seine Entscheidung noch einmal überlegen konnte. Als Donnie nichts sagte, schlug er erneut zu, dieses Mal ins Gesicht; Blut lief Donnie aus Mund und Nase. Wieder wartete Luca, und als Donnie weiterhin schwieg, tanzte er um ihn herum und ließ ein Trommelfeuer von Schlägen auf Donnies Rippen, Bauch, Arme und Rücken los, wie ein Boxer, der am Sandsack trainiert. Als er schließlich aufhörte, würgte Donnie und spuckte Blut. Luca schüttelte die Hände aus und lachte. »Cazzo!«, sagte er und sah zu Hooks hinüber. »Er wird’s nicht tun.«
Hooks schüttelte bekräftigend den Kopf.
Zu Donnie sagte Luca: »Du wirst deinen Bruder nicht rufen, hab ich recht?«
Donnie versuchte zu sprechen, bekam jedoch kein zusammenhängendes Wort heraus. Von seinen Lippen und seinem Kinn tropfte Blut.
»Was?« Luca trat dicht an ihn heran, und Donnie flüsterte: »Fick dich, Luca Brasi.«
»Dachte ich mir. Okay. Weißt du, was wir jetzt machen?« Er ging zu dem Sessel, über dem seine Kleider hingen, wischte sich mit einem Lappen das Blut von den Händen und zog sein Hemd über. »Ich lass dich hier hängen, bis dich jemand findet.« Er legte seine Krawatte um, zog sein Jackett an und trat wieder vor Donnie. »Bist du dir wirklich sicher, Donnie? Denn weißt du – vielleicht gabeln wir jetzt Willie auf, nur so zum Spaß, und fragen ihn, ob er nicht dich verraten möchte. Kann sein, dass er nicht ganz so loyal ist wie du.«
Donnie brachte ein blutiges Lächeln zustande.
»Wenn du es so willst …« Luca richtete seine Krawatte. »Dann lassen wir dich eben hier hängen, und in ein paar Tagen oder Wochen werden wir dir oder Willie einen Besuch abstatten, und dann reden wir noch mal darüber.« Er tätschelte Donnie ein paar Mal die Rippen, nur ganz leicht, aber Donnie warf vor Schmerz den Kopf in den Nacken. »Und weißt du auch, warum?«, fragte Luca. »Weil mir das einen Riesenspaß macht.« Zu Hooks sagte er: »Los, gehen wir.« Da bemerkte er, dass Vinnie wieder die Hand in der Hose hatte und sich kratzte. »Vinnie, hast du das noch immer nicht behandeln lassen? Der Kerl hat den Tripper«, erklärte er Donnie.
»Gehen wir«, sagte Hooks und bedeutete den Jungs, sich in Bewegung zu setzen.
»Wartet«, sagte Luca, den Blick noch immer auf Vinnie gerichtet. Zu Paulie sagte er: »Gib Vinnie dein Taschentuch.«
»Das ist gebraucht«, erwiderte Paulie.
Als Luca ihn anschaute, als wäre er schwachsinnig, zog Paulie sein Taschentusch aus der Hosentasche und reichte es Vinnie.
»Steck es dir in die Hose«, sagte Luca zu Vinnie, »und wisch dir das klebrige Zeug damit ab, das dir aus dem Schwanz läuft.«
»Was?«, sagte Vinnie.
Luca rollte die Augen, als hätte er es satt, sich ständig mit Idioten herumzuärgern. Zu Donnie sagte er: »Wir schenken dir noch ein kleines Souvenir, damit du uns nicht vergisst, wenn du hier herumhängst.« Und an Vinnie gewandt: »Wenn du damit fertig bist, verbindest du ihm mit dem Taschentuch die Augen.«
»Herrgott noch mal, Luca«, sagte Hooks.
Luca lachte. »Was ist? Ich find’s witzig.« Und damit verschwand er durch die Kellertür.
Nachdem Sonny seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, lachte Sandra laut und bedeckte dann das Gesicht mit den Händen, als wäre es ihr peinlich. Ihr Lachen klang laut und herzlich, nicht wie das Lachen eines jungen Mädchens. Sonny gefiel dieses Lachen sehr und er lachte mit ihr, bis er nach oben schaute und Mrs. Columbo entdeckte, die eine finstere Miene zur Schau stellte, als würden sie sich beide äußerst schamlos benehmen. Er stupste Sandra an, und das Mädchen schaute hoch zum Fenster und winkte ihrer Großmutter. Ihre Geste wirkte ein klein wenig trotzig, und Sonny musste grinsen. Mrs. Columbo war wie immer ganz in Schwarz gekleidet; ihr rundes Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen, und die schwarzen Haare auf ihrer Oberlippe waren nicht zu übersehen. Was für ein Unterschied zwischen Sandra und ihrer Großmutter! Sandra trug ein leuchtend gelbes Kleid, wie zur Feier des ungewöhnlich warmen Tages. Wenn sie lachte, sprühten ihre dunklen Augen geradezu Funken, und Sonny nahm sich vor, sie noch oft zum Lachen zu bringen.
Jetzt sah er auf seine Armbanduhr und sagte: »Cork wird mich gleich abholen.« Nachdem er mit einem Blick zum Fenster hinauf festgestellt hatte, dass Mrs. Columbo nicht in Sicht war, strich er Sandra übers Haar, was er schon die ganze Zeit hatte tun wollen, seit er hierhergekommen war und sich mit ihr auf die Treppe vor ihrem Hauseingang gesetzt hatte. Sandra schenkte ihm ein Lächeln und schaute nervös nach oben, bevor sie kurz seine Hand drückte und dann rasch wieder losließ.
»Bitte rede mit deiner Großmutter«, sagte Sonny. »Vielleicht erlaubt sie mir, dass ich dich zum Abendessen ausführe.«
»Sonny, sie lässt mich ja nicht mal zu dir in den Wagen steigen. Genau genommen lässt sie mich zu keinem Jungen in den Wagen steigen«, fügte sie hinzu. »Aber du« – sie deutete schelmisch auf ihn –, »du hast einen zweifelhaften Ruf.«
»Wieso das? Ich bin ein Engel, das schwöre ich. Frag meine Mutter!«
»Deine Mutter war es, die uns vor dir gewarnt hat.«
»Nein. Wirklich?«
»Wirklich.«
»Madon’! Die eigene Mutter!«
Als Sandra erneut lachte, tauchte Mrs. Columbo wieder im Fenster auf. »Sandra!«, rief sie auf die Straße hinunter. »Basta!«
»Was ist?«, rief Sandra zurück.
Sonny war überrascht, in Sandras Stimme einen Anflug von Unmut zu hören. Er stand auf und sagte: »Ich muss sowieso los.« Er schaute zu Mrs. Columbo hinauf und sagte: »Ich gehe jetzt, Mrs. Columbo. Vielen Dank, dass ich Sandra besuchen durfte. Grazie.« Als Mrs. Columbo ihm zunickte, sagte er zu Sandra: »Du musst sie bearbeiten. Sag ihr, dass wir zusammen mit einem anderen Paar ausgehen und ich dich um zehn Uhr zurückbringe.«
»Sonny, sie bekommt schon fast einen Anfall, weil ich hier unten mit dir rede. Sie wird bestimmt nicht erlauben, dass ich zu dir in den Wagen steige und mit dir essen gehe.«
»Frag einfach immer wieder«, entgegnete Sonny.
Sandra deutete hinüber zu dem Eckladen, dessen Fenster auf die Straße hinausging. Dort gab es Süßwaren und Limonade, und am Fenster befand sich eine Nische, wo man sich hinsetzen konnte. »Vielleicht bringe ich sie dazu, dass sie mich mit dir dorthin gehen lässt. Da kann sie uns vom Fenster aus beobachten.«
»Dorthin?« Sonny schaute zu dem Eckladen hinüber.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte Sandra und rief auf Italienisch und in höflichem Tonfall zu ihrer Großmutter hinauf: »Ich komme gleich hoch.« Zum Abschied schenkte sie Sonny ein Lächeln und verschwand im Hausflur.
Sonny winkte Mrs. Columbo zu und schlenderte dann ein Stück die Straße hinunter. Schließlich setzte er sich auf die Treppe vor einem Hauseingang und wartete auf Cork. Über ihm stützte sich ein kleines Mädchen auf eine Fensterbank und sang »Body and Soul«, als wäre sie zwanzig Jahre älter und stünde auf der Bühne des El Morocco. Auf der anderen Straßenseite hängte eine attraktive Frau, die weit älter war als Sonny, Wäsche auf eine Leine, die am oberen Ende der Feuertreppe festgemacht war. Sonny versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen – er war sich sicher, dass sie ihn bemerkt hatte –, aber sie schaute nicht einmal auf die Straße hinunter und verschwand dann wieder durch ihr Fenster. Sonny glättete sein Jackett und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Er musste daran zurückdenken, wie sein Vater ihn gestern Abend über Tom ausgefragt hatte. Vito hatte wissen wollen, ob Sonny sich bewusst war, dass Tom Frauen nachstellte, Clubs in Harlem besuchte und sogar irgendwelche Flittchen aufgabelte. Sonny hatte gelogen und behauptet, er wisse von nichts, und Vito hatte ihn teils sorgenvoll, teils zornig angeschaut, ein Blick, der ihm jetzt wieder vor Augen stand, während er darauf wartete, dass Cork ihn abholte. Sonny hatte früher schon erlebt, dass sein Vater wütend wurde und sich Sorgen machte, aber dieses Mal hatte seine Miene noch etwas anderes ausgedrückt, und zwar so etwas wie Angst – und das beunruhigte Sonny am meisten. Was würde passieren, wenn sein Vater ihm auf die Schliche kam? Davor hatte wiederum Sonny Angst – und dann schob er das Gefühl wütend beiseite. Sein Vater war ein Gangster! Jeder wusste das. Und er sollte sich zusammen mit den restlichen giamopes für ein paar läppische Dollar den Arsch aufreißen? Und wie lange? Jahre? »Che cazzo!«, fluchte er laut und blickte dann hoch – Cork hatte am Straßenrand gehalten und grinste ihn an.
»Selber cazzo«, sagte er, beugte sich über den Sitz und stieß die Beifahrertür auf.
Sonny stieg lachend ein – wenn Cork versuchte, italienisch zu sprechen, klang das meistens ziemlich komisch.
»Was hörst du, was sagst du?« Cork klappte das Handschuhfach auf, und zum Vorschein kamen zwei auf Hochglanz polierte kurzläufige .38er. Er nahm eine davon heraus, ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden und fuhr los.
Sonny nahm die andere und betrachtete sie eingehend. »Die hat Nico von Vinnie?«
»Wie abgesprochen. Traust du Nico nicht?«
»Doch, doch. Wollte nur nachfragen.«
»Heilige Maria und Josef!«, brüllte Cork und warf sich gegen die Rücklehne seines Sitzes, als hätte ihn gerade der Blitz getroffen. »Bin ich froh, endlich aus der Bäckerei rauszukommen! Eileen geht mir ja so was von auf den Senkel.«
»Yeah? Was hat sie denn?«
»Woher soll ich das wissen? Irgendwas findet sie immer. Ich nehm mir ein Törtchen, ohne zu fragen – das mach ich schon mein Leben lang –, und sie zetert los, als würde sie deswegen im Armenhaus landen. Mutter Gottes, Sonny! Eine dieser teuren Weinflaschen steck ich selber ein. Ich hab’s verdient.«
»Einen Teufel wirst du tun! Nicht bei hundert Dollar die Flasche.«
Cork grinste. »So lässt’s sich leben, was? Und der Wagen fährt ohne Begleitung durch den Tunnel, meinst du? Bist du dir da sicher?«
»So hab ich’s gehört. Ein zweitüriger Essex-Terraplane, neu und schwarz, mit Weißwandreifen.«
»So lässt’s sich leben, was?«, sagte Cork noch einmal, zog eine Wollmütze aus der Jackentasche und warf sie neben sich auf den Sitz.
»Ich möcht dich mal was fragen, Cork. Glaubst du, ich sollte zu meinem Vater gehen und ihm sagen, was wir da treiben?«
Cork hatte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hemdtasche gezogen, und jetzt ließ er sie in gespieltem Schrecken fast fallen. »Hast du den Verstand verloren, Sonny? Der reißt dir den Arsch auf!«
»Ich mein es ernst. Entweder ich lass das alles bleiben oder ich rede mit ihm. Schließlich wollen wir irgendwann größere Dinger durchziehen als nur hin und wieder einen Überfall. Und die dicke Kohle machen.«
»Aha«, sagte Cork. »Du meinst es wirklich ernst … Ich sag dir, was ich denke.« Sein Tonfall wurde plötzlich ein völlig anderer. »Ich glaube, dass dein Pa dich so weit wie möglich aus seinen Geschäften heraushalten will, und ich glaube, dass du unser aller Leben aufs Spiel setzt, wenn du ihm davon erzählst.«
Sonny sah Cork an, als hätte der den Verstand verloren. »Glaubst du das wirklich? Für wen hältst du denn meinen Pa?«
»Für jemand, mit dem nicht gut Kirschen essen ist.«
Sonny kratzte sich am Kopf und schaute zum Fenster hinaus auf den Hudson. Ein Schlepper tuckerte langsam vorbei. Schließlich wandte er sich wieder zu Cork um. »Glaubst du wirklich, dass mein Vater meine Freunde umbringen würde? Im Ernst? Das glaubst du?«
»Du hast mich gefragt, Sonny.«
»Na schön. Aber du hast echt keine Ahnung.« Sonny beugte sich zu Cork hinüber, als wollte er ihm eine reinhauen, ließ sich dann jedoch auf seinen Sitz zurückfallen. »Ich bin müde«, sagte er und schaute auf seine Armbanduhr. »Wir sind ziemlich früh dran – aber ich will auf Nummer sicher gehen. Müssen wir eben etwas warten.« Er schaute hinaus und überlegte, dass sie bis zum Tunnel noch ein ganzes Stück fahren mussten. »Such dir einen Parkplatz, von dem aus wir die Ausfahrt im Auge behalten können. Die anderen stoßen in einer halben Stunde zu uns.«
»In Ordnung. Hör zu, Sonny …«
»Vergiss es. Aber ich sag dir, du hast keine Ahnung, wie mein alter Herr tickt.«
Sonny streckte die Beine aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen – und zehn Minuten später, als der Wagen abbremste und stehen blieb, setzte er sich wieder auf und schaute sich um. Das Erste, was er sah, war ein schwarzer Essex mit Weißwandreifen, der gerade aus dem Tunnel kam. »Verdammte Scheiße«, rief er, »da ist er!«
»Die Jungs sind noch nicht da.« Cork drehte sich auf dem Sitz herum und suchte die Gegend nach den anderen ab.
»So bald kommen die auch nicht.« Sonny kratzte sich am Kopf und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Ach, scheiß drauf, dann ziehen wir das eben alleine durch.«
»Wir? Aber dich soll doch niemand sehen!«
Sonny holte eine Wollmütze aus der Tasche und zog sie sich bis über die Stirn.
»O ja, wirklich klasse«, sagte Cork in sarkastischem Tonfall. »So erkennt dich natürlich kein Mensch.«
Sonny zerrte an der Mütze herum und versuchte, seine Haare darunterzustopfen. »Das Risiko gehen wir ein. Bist du dabei?«
Cork lenkte den Wagen auf die Straße und fuhr dem Essex nach.
»Folg ihnen!«, sagte Sonny.
»Gute Idee!« Cork lachte – was hätte er sonst tun sollen?
Sonny versetzte ihm einen Schubs. »Spiel hier nicht den Klugscheißer.«
Nachdem der Wagen den Tunnel hinter sich gelassen hatte, fuhr er auf der Canal Street durch die Innenstadt. Cork blieb mit ein oder zwei Wagen Abstand an ihm dran. Am Steuer des Essex saß ein untersetzter Mann mit grauen Haaren, der aussah wie ein Bankangestellter. Die Frau neben ihm sah aus wie seine Gattin. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug einen weißen Schal über einem schäbigen grauen Kleid.
»Bist du sicher, dass das der richtige Wagen ist?«, fragte Cork.
»Ein neuer schwarzer Essex-Terraplane, zweitürig mit Weißwandreifen …« Sonny fasste sich unter die Mütze und kratzte sich am Kopf. »Ist ja nicht so, als würde man an jeder Ecke einen neuen Essex sehen.«
»Himmel! Hast du einen Plan, du Schlauberger?«
Sonny holte die Pistole aus der Tasche und überprüfte die Trommel. Gedankenverloren strich er mit dem Finger über das eingravierte Smith & Wesson auf dem kurzen Lauf. »Warte, bis sie in eine Seitenstraße einbiegen, und schneid ihnen den Weg ab.«
»Und wenn da Leute rumlaufen?«
»Dann bemühen wir uns eben, nicht aufzufallen.«
»Klar doch«, sagte Cork und lachte mit ein paar Sekunden Verzögerung.
Als der Essex in die Wooster einbog, sagte Sonny: »Wohin will der den? Nach Greenwich Village?«
»Himmel, schau dir die beiden doch an! Die sehen aus, als würden sie zu einem Rotariertreffen fahren.«
»Klar.« Auf Sonnys Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Wer würde die beiden schon anhalten?«
»Da ist was dran. Außer du irrst dich.«
Cork fuhr langsam den gepflasterten Abschnitt der Wooster entlang, wobei er sich dicht hinter dem Essex hielt. Abgesehen von einer Handvoll Leuten auf dem Gehsteig und einigen Autos, die ihnen entgegenkamen, war es auf der Straße ruhig. Sonny schaute nach hinten, und als er niemanden sah, sagte er: »Weißt du was? Los jetzt. Schneid ihnen den Weg ab!«
Cork verzog das Gesicht, als wollte er sagen, dass der Plan ihn nicht völlig überzeugte, trat dann aber aufs Gas, überholte den Essex und bremste direkt vor ihm.
Bevor der Wagen richtig stand, sprang Sonny hinaus, rannte zur Fahrerseite des Essex’ und riss die Tür auf.
»Was soll das?«, fragte der Fahrer. »Was geht hier vor?«
Mit der einen Hand hielt Sonny die Pistole in seiner Tasche umklammert, mit der anderen packte er das Lenkrad. Cork war vor den Wagen getreten und klappte die Motorhaube hoch.
»Was macht der da?«, fragte die Frau.
»Wenn ich das mal wüsste«, antwortete Sonny.
»Junger Mann«, sagte der Fahrer, »was geht hier vor?«
»Albert«, sagte die Frau, »ich glaube, die stehlen unser Auto.«
Sonny sah Cork an, der in dem Augenblick zu ihm trat. »Ich glaube, wir haben den falschen Wagen.«
Cork zog ein Messer aus der Tasche, ließ es aufschnappen und schlitzte den Fahrersitz an der Seite auf. Dann griff er hinein und zog eine Flasche Wein heraus. »Château Lafite Rothschild«, las er vom Etikett ab.
Sonny versetzte dem alten Mann einen Klaps auf den Kopf. »Fast hätten Sie mich reingelegt. Raus aus dem Wagen!«
»Dachte ich mir doch, dass Sie wissen, was Sie tun, aber …«, sagte der Fahrer.
»Nur um das klarzustellen«, fügte die Frau hinzu, wobei sie plötzlich kein bisschen mehr hochnäsig klang, sondern wie ein ganz gewöhnliches Weibsbild, »Sie wissen, dass Sie etwas stehlen, das Giuseppe Mariposa gehört?«
Sonny packte den Mann am Arm, filzte ihn rasch und zog ihn dann aus dem Wagen. »Wie der nette Herr gesagt hat …« Er zwinkerte der Frau zu, setzte sich hinters Steuer und bedeutete ihr auszusteigen. »Wir wissen, was wir tun.«
»Es ist Ihre Beerdigung«, erwiderte sie und glitt aus dem Wagen. Sonny wartete, bis der Mann sich zu ihr auf den Gehsteig gesellt hatte. Sobald Cork die Motorhaube wieder hatte einrasten lassen, winkte er ihnen zu, hupte zweimal und fuhr davon.
Sean O’Rourke hielt seine Mutter in den Armen und tätschelte ihr den Rücken, während sie schluchzend das Gesicht an seiner Brust vergrub. Sie saßen vor Donnies Schlafzimmertür, um sie herum lauter Freunde und Verwandte, die sich leise unterhielten. Die ganze Wohnung roch nach dem frisch gebackenen Brot, das Rickie und Billy Donnelly mitgebracht hatten, der Küchentisch war mit Geschenken überhäuft – mit Essen und Blumen. In Hell’s Kitchen hatte sich rasch herumgesprochen, dass Donnie ermordet worden war, und das, obwohl er noch lebte. Er war übel zugerichtet worden, und außer den gebrochenen Rippen hatte er innere Blutungen erlitten, aber tot war er nicht. Im Moment lag er im Bett, wo sich Doc Flaherty um ihn kümmerte. Der Arzt hatte bereits berichtet, dass Donnie nicht lebensgefährlich verletzt war. Sein Augenlicht war jedoch nicht mehr zu retten. Er war blind und würde blind bleiben. »Daran ist die bakterielle Infektion schuld«, hatte Flaherty den Brüdern erklärt. »Wenn ihr ihn früher gefunden hättet, hätte ich vielleicht noch etwas tun können, aber wie die Dinge liegen …« Willie hatte angefangen, sich Sorgen zu machen, als Donnie an jenem Abend nicht nach Hause gekommen war. Er hatte an jedem Ort gesucht, der ihm eingefallen war, nur nicht im Keller, wo Donnie die Nacht und den darauffolgenden Morgen verbracht hatte, halb bewusstlos und mit einer verseuchten Augenbinde. Willie fand ihn erst, nachdem der Hausmeister bei ihm angeklopft hatte.
Willie saß unterdessen auf dem Dach des Hauses und schaute zu, wie seine Tauben über die Mischung aus Samen und Getreide herfielen, die er ihnen gerade hingeworfen hatte. Neben ihm saßen Pete Murray und Corr Gibson. Unten auf der Straße klapperte der letzte Waggon eines Güterzuges dem Betriebshof entgegen. Die Sonne schien hell, und die Männer hatten ihre Jacken ausgezogen, auf dem Schoß zusammengefaltet und redeten miteinander. Willie hatte gerade geschworen, dass er Luca Brasi und seine Gang umbringen würde, alle miteinander. Corr und Pete hatten vielsagende Blicke gewechselt.
Corr klopfte mit seinem Knüttel auf das Teerpappedach – er wirkte gleichzeitig traurig und wütend. »Was ist mit Kelly?«, fragte er. »Warum ist sie nicht hier?«
»Kelly hat sich seit Wochen nicht mehr blicken lassen«, erwiderte Willie und spuckte aus, um deutlich zu machen, was er davon hielt. »Mich interessiert jetzt nur noch, wie wir Luca Brasi kaltmachen können.«
»Ach, Willie«, sagte Pete Murray nach kurzem Zögern. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Dachsims ab, als müsste er sich festhalten. Seine Hemdsärmel spannten sich über Muskeln, die er seiner jahrelangen Arbeit im Hafen und auf den Güterbahnhöfen zu verdanken hatte. Sein wettergegerbtes Gesicht war rot und fleckig, Kinn und Wangen waren von einzelnen grauen und schwarzen Härchen übersät. »Will O’Rourke«, fuhr er fort und hielt dann noch einmal inne, um nach den passenden Worten zu suchen. »Wir kriegen die, das verspreche ich dir. Aber dieses Mal machen wir es richtig.«
»Was ist richtig oder falsch daran, wenn ich jemand umbringen will?« Willie sah von Corr zu Pete. »Wir spüren sie auf und nieten sie um.«
»Denk doch mal nach, Willie«, sagte Corr. »Genau das hast du schon mal versucht.«
»Das nächste Mal schieß ich nicht daneben«, erwiderte Willie und sprang auf.
»Setz dich!« Pete packte Willie am Handgelenk und zog ihn auf den Sims. »Hör mir gut zu, Will O’Rourke«, sagte er, ohne ihn loszulassen. »Das letzte Mal haben wir uns mit Brasi angelegt, ohne uns richtig vorzubereiten – wie wir Iren das immer tun. Und du siehst, wohin uns das geführt hat?«
Corr stützte sich auf seinen Knüttel und sagte so leise, als würde er mit sich selbst sprechen: »Wir müssen von den Italienern lernen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Willie.
»Es heißt, dass wir geduldig sein und Pläne schmieden müssen, und wenn wir loslegen, müssen wir alles richtig machen«, erwiderte Pete.
»Verdammte Scheiße!« Willie schüttelte Petes Hand ab. »Wir müssen das jetzt durchziehen, solange noch alle hier sind. Sonst verschwindet wieder jeder in seinem Loch, und keiner denkt mehr dran. Wie immer.«
»Wir werden nicht vergessen, was Luca Donnie angetan hat«, sagte Pete. Er umfasste wieder Willies Handgelenk, dieses Mal jedoch sanfter. »Was er getan hat, ist abscheulich, und er wird dafür bezahlen. Dafür, und für fünfzig andere Dinge. Aber wir müssen Geduld haben. Den richtigen Zeitpunkt abwarten.«
»Und wann ist der?«, fragte Willie. »Wann, meinst du, ist der richtige Zeitpunkt, Luca Brasi und die anderen Makkaronis fertigzumachen?«
»Die Italiener gehn nicht wieder weg«, sagte Corr. »Damit werden wir leben müssen. Es sind einfach zu viele.«
»Und?« Willie sah Pete wütend an. »Wann ist der richtige Zeitpunkt?«
»Willie«, erwiderte Pete, »ich knüpfe gerade selbst Kontakte zu diesen Mafiosi. Mariposa und Cinquemani sind auch nicht besonders gut auf Luca Brasi zu sprechen. Und zwischen Mariposa und den Corleones und dem Rest von LaContis Leuten gibt es böses Blut …«
»Und was hat das mit uns zu tun, und damit, dass wir diesen Bastard Luca Brasi kaltmachen?«
»Siehst du, genau da müssen wir geduldig sein. Wir warten ab. Wir warten ab, bis wir wissen, wer bei dieser Sache die Oberhand behält, und dann erst legen wir los. Wir müssen abwarten.« Pete schüttelte Willie am Arm. »Wir müssen abwarten und die Augen aufsperren, und wenn die Zeit gekommen ist, schlagen wir zu.«
»Ach«, sagte Willie und schaute zu den Tauben hinüber und dann zum Himmel hinauf. Die Sonne schien hell und warm auf die Stadt herab. »Ach«, sagte er noch einmal. »Pete, ich weiß nicht.«
»Aber klar doch, Willie«, sagte Corr. »Schließlich sind Pete und ich hier, um ein feierliches Versprechen abzulegen. Und wir sprechen auch für die anderen. Für die Donnellys und sogar für den kleinen Mistkerl Stevie Dwyer.«
»Luca ist ein toter Mann«, sagte Pete. »Aber jetzt warten wir erst mal ab.«