Ein Meter hohe Schneeverwehungen türmten sich wie Dünen am Ufer auf, während der Schnee weiter durch den Mondschein auf den Sand und die aufgewühlte schwarze Haut der Little Neck Bay herabfiel. Lucas Gedanken gerieten immer mehr außer Kontrolle, was, so vermutete er, an der Mischung aus Koks und Pillen liegen mochte. Gerade noch hatte er an seine Mutter gedacht, und jetzt ging ihm Kelly nicht mehr aus dem Sinn. Seine Mutter drohte immer wieder damit, dass sie sich umbringen würde. Kelly war bald im siebten Monat schwanger. Normalerweise nahm er Koks und Pillen nicht durcheinander; jetzt allerdings hatte er das Gefühl, durch einen Traum zu wandeln. Wahrscheinlich lag das in erster Linie an den Pillen, aber das Koks war auch nicht ohne. Wenn er nur lange genug hier in der Kälte durch den Schnee lief, über den schmalen Strand oberhalb der Bucht, dann würde sich das vielleicht legen. Aber er fror und konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Ein paar Zeilen aus »Minnie the Moocher« gingen ihm durch den Kopf – »She messed around with a bloke named Smoky / She loved him, though he was cokey«. Er lachte, verstummte jedoch sofort wieder, als er sein eigenes, manisches Kichern hörte. Schlang sich die Arme um die Brust, wie um zu verhindern, dass er sich in seine Einzelteile auflöste, und ging näher am Ufer entlang. Das Wasser war dunkel und aufgewühlt, und etwas daran beunruhigte ihn – die schwarze Fläche schien der Küste entgegenzubranden.
Kelly war im Haus geblieben. Sie hatte erste Anzeichen einer Blutung und wollte, dass er sie ins Krankenhaus fuhr. Den ganzen Tag hatten sie Pillen und Koks genommen, und jetzt wollte sie, dass er sie mitten in einem Schneesturm ins Krankenhaus brachte, weil ihr Höschen ein paar Tropfen Blut aufwies! Luca blickte auf das Wasser hinaus. Er hatte sich in einen Pelzmantel eingewickelt und trug Galoschen über den Halbschuhen. Die Wolken brachen auf, und der Vollmond zeigte sich. Sein Fedora war durchnässt, und er blieb stehen, um den Schnee von der Krempe zu schütteln. Die Giants gewannen die World Series, die Stadt geriet außer Rand und Band, und ein unbarmherziger Winter hielt Einzug. Die Temperatur war unter null gesunken; die Luft, die er durch die Nase einatmete, war eisig. Mit der World Series hatte er einen Riesen-Reibach gemacht, weil er schon auf die Giants gesetzt hatte, als die Senators noch die großen Favoriten waren. Jetzt hatte er einen Haufen Geld. Mehr Geld, als die Jungs oder sonst irgendwer wusste, und er versuchte, das seiner Mutter zu erklären, aber sie hörte einfach nicht auf, davon zu reden, alles sei ihre Schuld. Und Kelly hörte einfach nicht auf herumzujammern. Sie jammerte, und er verabreichte ihr Pillen. Er hatte sie nicht ins Meer geworfen, und jetzt war sie bald im siebten Monat.
Vor seinem geistigen Auge sah Luca den weißen runden Bauch seiner Mutter. Zunächst war sein Vater ganz aufgeregt gewesen. Einmal war er sogar mit Blumen nach Hause gekommen, ganz am Anfang, bevor alles anders geworden war. Doch Luca konnte sich nicht einmal sicher sein, ob Kellys Kind überhaupt von ihm war. Und was ging ihn das auch an? Kelly war eine Hure, sie und ihresgleichen – alles Huren. Etwas an ihrem Gesicht, ihrem Körper weckte den Wunsch in ihm, sich zu ihr zu legen und sie festzuhalten. In einem Augenblick wollte er ihr die Fresse polieren, im nächsten wollte er sie in die Arme schließen. Wenn er mit Kelly zusammen war, zogen sie sich wie die Verrückten Koks und Pillen rein: Das war etwas, das sie einander antaten, das sie miteinander verband …
Luca blickte himmelwärts, und Schnee fiel ihm auf das Gesicht und in den Mund. Er massierte sich die Schläfen, während das Wasser über den Sand gischtete und die Schneeflocken draußen über der Bucht aus der Dunkelheit heraus in die Dunkelheit hinein fielen; sie waren nur vorübergehend zu sehen, wenn sie weiß und fett Gestalt annahmen, um sogleich wieder verschluckt zu werden. Das Mondlicht lag wie ein goldener Pfad auf der Wasseroberfläche. Luca atmete tief durch, stand reglos da, während das Rauschen von Wind und Wasser ganz allmählich seine Anspannung löste, ihn wieder auf die Erde zurückholte. Die Bucht vor ihm wirkte nicht länger beunruhigend, sondern geradezu einladend. Er war müde. Er hatte alles so satt. Er hatte Kelly nicht ins Meer geworfen, weil er nicht darauf verzichten wollte, sie nachts an sich zu drücken, wenn sie neben ihm schlief; er hätte nicht sagen können, warum, aber er brauchte sie … wenn sie nur die Klappe halten würde, wenn sie nur nicht im siebten Monat schwanger wäre, dann wäre alles besser, bis auf seine Mutter vielleicht und ihr fortwährendes Gejammer und seine Kopfschmerzen, die einfach nicht aufhören wollten, und die ganze andere Scheiße, die immer weiterging, immer weiter und weiter. Er nahm den Hut ab, wischte den Schnee von der Krempe und setzte ihn wieder auf. Und weil es sonst nichts gab, was er hätte tun können, machte er sich wieder auf den Weg zum Farmhaus.
Lucas Kopfschmerzen kehrten zurück, während er die Einfahrt zu seinem weißen, mit Schindeln verkleideten Haus hinaufstapfte. An den Dachrinnen hingen lange Eiszapfen, die an manchen Stellen zu erstarrten Wasserfällen angewachsen waren. Einige reichten sogar bis zum Boden hinunter. Durch das Kellerfenster fiel ein roter Schein auf den Schnee hinaus, und als Luca in die Hocke ging, um hineinzuschauen, sah er Vinnie im Unterhemd Kohlen in den Heizofen schaufeln. Obwohl der Wind unter der Dachrinne und zwischen den nackten Ästen eines uralten, riesigen Baumes hindurchpfiff, der über dem Haus aufragte, als würde er es bewachen, konnte er den Ofen ächzen und grollen hören. Luca trat in den Hausflur, schüttelte den Schnee ab, schälte sich aus mehreren Schichten Kleidern und warf sie auf den bereits überlasteten Garderobenständer. Die Jungs saßen am Küchentisch und begrüßten ihn, indem sie laut seinen Namen riefen. Hier drin roch es nach Kaffee und Schinken. Ein hochgewachsener Mann, den Luca nicht kannte, stand vor einer Pfanne mit Rührei am Herd, und auf dem hinteren Brenner dampfte eine Kanne Kaffee. Der Fremde war schon etwas älter, vielleicht Mitte fünfzig, und er trug einen schweren, olivgrünen dreiteiligen Anzug mit einer olivgrünen Krawatte und einer roten Nelke am Jackettaufschlag. Luca sah ihn verwundert an, und Hooks sagte: »Das ist Gorski. Ein Freund von Eddie.«
Eddie Jaworski, der zwischen JoJo und Paulie am Tisch saß, brummte etwas Unverständliches. In der Mitte des Tisches hatte sich ein hübscher Berg Geldscheine und Münzen angesammelt, und Eddie hielt fünf Karten aufgefächert in der linken Hand. In der rechten hatte er einen Zehn-Dollar-Schein. »Ich erhöhe«, sagte er schließlich, warf den Geldschein auf den Haufen und nahm einen Schluck aus einem silbernen Flachmann, neben sich einen ordentlichen Stapel Bargeld.
Vinnie, der sich gerade das Hemd zuknöpfte, kam aus dem Keller herauf. »Hallo, Boss«, sagte er und setzte sich neben Hooks. Gorski kam, einen Teller mit Schinkeneiern in der einen und eine Gabel in der anderen Hand, vom Herd herüber und stellte sich hinter Eddie.
Bis auf Hooks und Eddie waren alle aus dem Rennen. Hooks ging mit und erhöhte um zwanzig Dollar. Eddie murmelte etwas auf Polnisch und starrte nervös in seine Karten.
Luca trank einen großen Schluck aus einer Flasche Scotch, die vor Hooks auf dem Tisch stand. »Draußen ist es eiskalt«, sagte er zu niemand Bestimmtem, wandte sich um und ging ins Schlafzimmer hinauf. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Es war kurz nach zehn Uhr abends. Auf der Treppe blieb er stehen und schaute durchs Fenster; Eiszapfen versperrten ihm teilweise die Sicht auf die Einfahrt, die Bäume und die Schneewehen auf der Straße. Er hatte den Eindruck, durch eine Zahnreihe in eine erstarrte Welt hinauszublicken, und kam sich vor wie in einem Film. Ein eigenartiges Gefühl, und er hatte es in letzter Zeit immer öfter, was ihn zunehmend irritierte. Fast glaubte er, dass alles um ihn herum auf einer Filmleinwand geschah, und er befand sich irgendwo draußen im Dunkeln, wo die Zuschauer saßen, und sah sich alles an. Eine ganze Weile stand er mit pochendem Schädel vor dem Fenster, und als weder die Schmerzen noch das seltsame Gefühl nachließen, ging er weiter die Treppe hinauf. Kelly lag blass und zerzaust auf dem Bett, und die Bettdecke war nass und voller Blut ans Fußende gestrampelt.
»Luca«, keuchte sie. »Die Blase ist geplatzt. Das Kind kommt.« Luca konnte sie kaum verstehen. Sie stieß ein paar Worte aus, hielt inne, atmete tief durch, sagte noch etwas. Luca deckte ihren weißen runden Bauch zu. »Bist du sicher?«, fragte er. »Es ist doch noch zu früh.«
Kelly nickte. »Ich muss ins Krankenhaus.«
Das Pillenfläschchen, das er auf dem Nachttisch zurückgelassen hatte, war leer. »Wie viele von denen hast du genommen?«, fragte Luca und hob es hoch.
»Ich weiß es nicht.« Kelly wich seinem Blick aus.
Luca holte ein weiteres Pillenfläschchen aus der Tasche und schüttelte zwei in seine hohle Hand. »Hier«, sagte er und hielt sie ihr hin. »Nimm die auch noch.«
Kelly stieß seine Hand beiseite. »Luca«, keuchte sie. »Das Kind kommt. Du musst mich ins Krankenhaus bringen.«
Luca setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Luca«, sagte Kelly.
Leise, als würde er mit sich selbst reden, erwiderte er: »Kelly, halt den Mund. Du bist eine Hure, aber ich sorge für dich.«
Kellys Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie schloss die Augen und schien einzuschlafen.
Luca erhob sich, aber er stand noch nicht ganz aufrecht, als Kelly sich an seinem Arm festklammerte und ihn wieder nach unten zog. »Du musst mich ins Krankenhaus bringen!«, schrie sie. »Das Kind kommt!«
Luca riss sich erschrocken von ihr los und stieß sie aufs Bett zurück. »Verrückte Fotze! Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich um dich kümmere.« Er griff nach dem Hörer des Telefons, das auf dem Nachttisch stand, als wollte er ihn ihr an den Kopf werfen – legte ihn dann aber wieder zurück und ging hinaus, während sie ihm leise seinen Namen nachrief, wieder und immer wieder.
In der Küche erklang eine rauchige Stimme aus dem Radio und sang »Goodnight, Irene«. Die Jungs am Tisch – seine Jungs und die beiden Polacken – schwiegen alle, glotzten in ihre Karten oder starrten auf den Tisch. Luca nahm seinen Pelzmantel vom Garderobenständer. »Vinnie«, sagte er. »Du fährst mich.«
Vinnie blickte von seinen Karten auf. Wie immer sahen seine Kleider aus, als wären sie ihm eine Nummer zu groß. »Boss, die Straßen sind eine Katastrophe.«
Luca setzte den Hut auf, trat vor die Tür und wartete. Wolken hatten den Mond verschlungen, und überall um Luca herum war es dunkel und kalt; Schneeflocken wirbelten durch das Licht vor dem Küchenfenster. Er nahm den Hut ab und rieb sich die Schläfen. Der Wind fuhr ihm über die Stirn und durch das Haar. Vor seinem geistigen Auge sah er Kellys weißen Bauch und die blutverschmierten Laken. Eine Hitzewelle durchflutete ihn, und einen Augenblick lang glaubte er, er würde hinknien und sich übergeben müssen, aber er hielt sich aufrecht, und das Gefühl ebbte ab. Hinter ihm ging die Tür auf. Vinnie kam heraus, rieb sich die Hände und drehte sich zur Seite, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. »Wo fahren wir hin, Boss?«, wollte er wissen.
»Auf der Tenth Avenue wohnt eine Hebamme. Weißt du, von wem ich rede?«
»Ja, klar. Filomena. Die bringt hier in der Stadt doch die Hälfte aller italienischen Kinder auf die Welt.«
»Da wollen wir hin«, erwiderte Luca und machte sich auf den Weg durch die Dunkelheit. Zu den Autos.
Ein schmaler Streifen Licht zeichnete sich am oberen Rand von Michaels Bettdecke ab. Er hatte sie sich über den Kopf gezogen und las beim Schein einer Taschenlampe. Auf der anderen Seite des Zimmers, in einem identischen Bett, lag Fredo auf der Seite, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, und schaute zu, wie vor dem Fenster der Schnee im Schein der Straßenlaterne langsam herabschwebte. Unter ihnen ging gerade ein Werbespot für Pudding zu Ende, und Jack Benny begann, Rochester anzubrüllen. Fredo spitzte die Ohren, aber er konnte nur hier und dort ein paar Worte von dem verstehen, was im Radio lief. »Hey, Michael«, sagte er leise, denn eigentlich sollten sie längst schlafen, »was machst du da?«
»Lesen«, erwiderte Michael nach einer Weile.
»Cetrio’«, sagte Fredo. »Warum liest du denn dauernd? Aus dir wird noch mal ein Eierkopf.«
»Du sollst schlafen, Fredo.«
»Schlaf doch selber«, sagte Fredo. »Bei dem ganzen Schnee müssen wir morgen vielleicht gar nicht in die Schule.«
Michael knipste die Taschenlampe aus und schaute unter der Decke hervor. Er legte sich auf die Seite und sah zu Fredo hinüber. »Warum ist dir die Schule so egal? Willst du nichts aus dir machen?«
»Ach, halt die Klappe. Du bist ein Eierkopf!«
Michael legte sein Geschichtsbuch auf den Boden und stellte die Taschenlampe darauf. »Papa nimmt mich mit ins Rathaus. Dort treffen wir uns mit Stadtrat Fischer.« Er drehte sich auf den Rücken und blickte zur Decke hinauf. »Stadtrat Fischer wird mit mir eine Führung durch das Rathaus machen.«
»Das weiß ich doch. Papa hat mich gefragt, ob ich mit will.«
»Yeah?« Michael wandte seine Aufmerksamkeit wieder Fredo zu. »Und du wolltest nicht?«
»Warum soll ich mir das Rathaus anschauen? Ich bin doch kein Eierkopf!«
»Man muss kein Eierkopf sein, um sich dafür zu interessieren, wie unsere Stadt regiert wird.«
»Und ob. Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich für Papa arbeiten. Wahrscheinlich erst als Verkäufer oder so was. Und irgendwann steige ich bei Papa ein und verdiene einen Haufen Geld.«
Aus dem Radio im Erdgeschoss drang lautes Gelächter zu ihnen herauf. Fredo und Michael wandten sich beide der Tür zu, als könnten sie dort sehen, was so lustig war. »Wie kommt es, dass du für Papa arbeiten willst?«, fragte Michael. »Möchtest du nicht auf eigenen Beinen stehen?«
»Ich werde auf eigenen Beinen stehen«, erwiderte Fredo. »Aber ich werde auch für Papa arbeiten. Warum? Was willst du denn werden, Großmaul?«
Michael faltete die Hände hinter dem Kopf, während eine heftige Windbö das Haus erschütterte und die Fensterscheiben klirrten. »Ich weiß nicht. Ich interessiere mich für Politik. Vielleicht werde ich mal Kongressabgeordneter. Oder sogar Senator.«
»V’fancul’«, flüsterte Fredo. »Warum nicht gleich Präsident?«
»Ja«, erwiderte Michael. »Warum nicht?«
»Weil du Italiener bist. Kapierst du denn gar nichts?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Hör zu, Kleiner«, sagte Fredo. »Kein Italiener ist jemals Präsident geworden, und das wird sich auch nicht ändern. Niemals.«
»Warum nicht? Warum soll kein Italiener Präsident werden können, Fredo?«
»Madon’! Hey, Michael! Vielleicht hast du das noch nicht mitbekommen, aber wir sind Makkaronis, capisc’? Kein Makkaroni wird jemals Präsident.«
»Warum nicht?«, wiederholte Michael. »Unser Bürgermeister ist ein Makkaroni. Die Leute lieben ihn.«
»Erstens«, sagte Fredo und beugte sich aus dem Bett zu Michael hinüber, »ist LaGuardia Neapolitaner, nicht Sizilianer wie wir. Und außerdem wird er niemals Präsident.«
Michael blieb ihm die Antwort schuldig. Nach einer Weile verstummte unten das Radio, und seine Eltern schalteten die Hausbeleuchtung aus und kamen die Treppe herauf. Mama steckte wie immer den Kopf herein und murmelte etwas – wahrscheinlich ein Gebet, dachte Michael. Dann schloss sie die Tür wieder. Der Wind pfiff derweil weiter um das Haus und rüttelte an den Fenstern. Obwohl Fredo inzwischen wahrscheinlich eingeschlafen war, sagte Michael: »Vielleicht hast du recht, Fredo. Vielleicht wird kein Italiener jemals Präsident.«
Als er keine Antwort erhielt, schloss Michael die Augen und versuchte einzuschlafen.
Kurz darauf ertönte Fredos schläfrige Stimme in der Dunkelheit. »Hey, Michael. Du bist der Klügere von uns beiden. Wenn du davon träumen willst, Präsident zu werden, warum nicht?« Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: »Und wenn das nicht klappt, kannst du immer noch für Papa arbeiten.«
»Danke«, sagte Michael. Er drehte sich auf den Bauch, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf.
Hooks wusch seine Hände in einer Schüssel mit warmem Wasser, während Filomena, die am Fußende von Kellys Bett saß, Lucas neugeborenen Sohn in lange Streifen aus dünnem weißen Tuch wickelte. Die Jungs saßen noch immer unten in der Küche und spielten Poker. Hin und wieder drang ein Lachen oder ein erregter oder wütender Ausruf zu ihnen herauf, und Kellys Stöhnen war kaum zu hören. Dampf fuhr zischend durch die Heizkörper – der uralte Heizofen mühte sich noch immer grollend ab, das Haus warmzuhalten. Obwohl es vor einer Weile aufgehört hatte zu schneien, tobte draußen noch immer der Wind, und das schon die ganze Nacht. Vinnie und Luca hatten Stunden gebraucht, um zu Filomena in die Stadt zu gelangen und mit ihr nach Long Island zurückzufahren, dann waren wieder Stunden vergangen, während Filomena sich um Kelly kümmerte und bis das Kind geboren wurde, und jetzt war die Nacht fast vorbei. Filomena hatte sich wütend auf die Lippen gebissen, als sie Kelly halbtot in Lucas großem Bett hatte liegen sehen, völlig abgemagert und mit getrübtem Blick. Luca hatte dem keine Beachtung geschenkt. Er hatte Hooks angewiesen, Filomena zu helfen, und war dann nach unten gegangen, um Poker zu spielen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, hatte Filomena auf Italienisch einen Fluch ausgestoßen. Dann hatte sie Hooks in knappen Worten erklärt, was er tun sollte. Sie war eine stämmige Frau, und obwohl sie wahrscheinlich erst Mitte dreißig war, wirkte sie weit älter – als wäre sie schon seit Anbeginn der Zeit auf dieser Erde.
Nachdem Filomena das Kind gewickelt hatte, drückte sie es sich an die Brust und zog Kelly die Decke bis ans Kinn. An Hooks gewandt sagte sie: »Sie müssen beide ins Krankenhaus, sonst sterben sie.« Sie sagte es leise, dann trat sie ganz dicht vor den großen Mann und wiederholte jedes Wort.
Hooks berührte sie am Arm, bat sie zu warten und ging hinunter in die Küche. Luca hatte seinen Stuhl vom Tisch fortgerückt, hielt eine Whiskyflasche im Schoß umklammert und schaute den anderen dabei zu, wie sie ihre Karten ausspielten. Alle waren betrunken. Vor Luca stapelten sich ein Haufen feuchter Geldscheine neben einem zerbrochenen Glas. Vinnie und Paulie lachten über irgendetwas, während die beiden Polen und JoJo ihre Karten anstarrten. »Luca«, sagte Hooks, und sein Tonfall signalisierte, dass er mit ihm unter vier Augen reden wollte.
»Was ist?«, fragte Luca, ohne den Blick von dem zerbrochenen Glas und den feuchten Geldscheinen abzuwenden. Als Hooks nichts erwiderte, wandte er sich zu ihm um.
»Das Kind ist geboren«, sagte Hooks. »Filomena will dich sprechen.«
»Sag ihr, sie soll es runterbringen.«
»Luca, hör zu …«
»Filomena!«, brüllte Luca die Treppe hinauf. »Bring das verdammte Balg hier runter!« Er packte die Whiskyflasche am Hals und drosch sie auf den Rand des Tisches. Schnaps spritzte in alle Richtungen, und Glasscherben regneten auf die Spieler herab. Die beiden Polen sprangen fluchend auf, während JoJo, Vinnie und Paulie vom Tisch wegrutschten, aber sitzen blieben. Eddie und Gorski wirkten völlig entgeistert. Ihr Blick huschte zwischen Luca und ihrem Geld hin und her, das jetzt in Whisky schwamm.
Hinter ihnen kam Filomena langsam die Treppe herunter, das Kind fest an die Brust gedrückt.
Luca fuhr die Polen an, sie sollten ihr Geld einstecken und verschwinden. Zu Filomena sagte er: »Bring das Balg in den Keller und wirf es ins Feuer. Oder bring es hierher« – er hob den Flaschenhals –, »und ich schneid ihm die Kehle durch.«
Gorski, der größere und ältere der beiden Polen, sagte: »Einen Moment mal«, und trat einen einzigen Schritt auf Luca zu, bevor er wieder stehen blieb.
Luca blickte ihn finster an und sagte zu niemand Bestimmtem: »Feiglinge.«
Gorski lachte, als hätte er jetzt endlich begriffen, dass Luca nur Spaß machte. »Du willst dem Kind überhaupt nichts tun.«
»Nehmt euer Geld und haut ab«, bellte Luca.
»Klar«, erwiderte Eddie Jaworski, der jüngere Pole, und stopfte sich hastig Scheine in die Taschen. Nach kurzem Zögern folgte Gorski seinem Beispiel.
Zu Eddie sagte Gorski: »Er wird doch einem neugeborenen Kind nichts tun!«
»Ihr auch«, sagte Luca zu seinen Jungs. »Alle. Verschwindet.«
Filomena, die noch immer das Kind fest umklammert hielt, stand mit dem Rücken zur Wand und schaute zu, wie alle außer Hooks und Luca ihr Geld zusammenrafften, sich dicke Jacken und Mäntel überzogen und das Farmhaus verließen. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, fuhr ein eisiger Windstoß in die Küche. Filomena zog ihren Schal über das Kind, um es vor der Kälte zu beschützen.
Nachdem alle anderen Kartenspieler fort waren, sagte Hooks zu Luca: »Boss, lass mich sie ins Krankenhaus bringen.«
Luca blieb sitzen, den gezackten Flaschenhals noch immer in der Hand. Er betrachtete Hooks, als müsste er erst überlegen, wer das war. Schließlich blinzelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zu Filomena sagte er: »Hast du nicht gehört? Bring das Balg in den Keller und wirf es ins Feuer. Oder bring es hierher, und ich schneid ihm die Kehle durch.«
Filomena ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Das Kind ist zu früh geboren. Sie müssen es ins Krankenhaus bringen. Und die Mutter auch«, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu.
Als Luca mit der zerschmetterten Flasche in der Hand vom Tisch aufstand, sagte Filomena hastig: »Es ist Ihr Sohn, und er ist zu früh geboren. Bringen Sie ihn ins Krankenhaus, ihn und seine Mutter.« Sie hielt das Kind fest umklammert und drückte sich an die Wand.
Luca trat einen Schritt auf sie zu. Über sie gebeugt, betrachtete er das in Stoff gewickelte Bündel in ihren Armen zum ersten Mal eingehender. Als er die Whiskyflasche hob, trat Hooks zwischen ihn und Filomena und legte ihm die Hand auf die Brust.
Mit der Linken versetzte ihm Luca einen Schlag, der aus dem Nichts zu kommen schien, und Hooks blieb wie betäubt stehen; dabei ließ er die Arme baumeln, als hingen Gewichte daran. Luca nahm die Flasche in die linke Hand, lehnte sich nach hinten und legte sein ganzes Gewicht in einen rechten Haken, der Hooks am Kopf traf.
Der große Mann ging wie tot zu Boden und landete auf dem Rücken, die Arme weit ausgestreckt.
»Madre di Dio«, sagte Filomena.
»Ich sag es dir nur noch ein Mal«, grollte Luca, »und wenn du dann nicht gehorchst, schlitze ich dir die Gurgel auf. Bring das Balg in den Keller und wirf es ins Feuer.«
Filomena wickelte mit zitternder Hand eine Schicht Stoff von dem Kind ab, so dass sein winziges, faltiges Gesicht und ein kleines Stück von seiner Brust sichtbar wurde. »Hier«, sagte sie und hielt es Luca hin. »Wenn Sie der Vater sind, dann nehmen Sie es. Es ist Ihr Kind.«
Luca betrachtete den Säugling mit ausdrucksloser Miene. »Vielleicht bin ich der Vater, aber das spielt keine Rolle. Ich will nicht, dass es noch mehr von diesem Pack gibt.«
Filomena sah ihn verwirrt an. »Hier«, sagte sie noch einmal und hielt Luca den Säugling hin. »Nehmen Sie es.«
Luca hob langsam die geborstene Flasche, schien es sich jedoch noch einmal anders zu überlegen. »Ich will es nicht«, sagte er, packte Filomena im Nacken und schob sie grob durch die Küche und die Treppe hinunter in den Keller, wo der Ofen kollerte und spürbar Wärme abstrahlte. Hier war es dunkel, und Luca zerrte Filomena bis vor den Ofen. Dann ließ er sie los und öffnete die Ofentür. Glühende Hitze schlug ihnen entgegen, und der ganze Raum wurde in rötliches Licht getaucht.
»Wirf es rein«, sagte Luca.
»Nein«, flüsterte Filomena. »Mostro!« Als Luca ihr die geborstene Flasche in den Nacken drückte, hielt sie ihm das Kind entgegen. »Es ist Ihr Kind. Tun Sie mit ihm, was Sie wollen.«
Luca betrachtete den Heizofen und wandte sich dann wieder Filomena zu. Er blinzelte und trat einen Schritt zurück. Im rötlichen Schein der brennenden Kohle sah sie nicht mehr aus wie Filomena. Das war nicht die Frau, die er vor ein paar Stunden in der Tenth Avenue abgeholt hatte. Er erkannte sie nicht wieder. »Du musst es tun«, krächzte er.
Filomena schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal traten ihr Tränen in die Augen.
»Wirf es in den Ofen«, sagte Luca, »und ich vergebe dir. Wenn nicht, schlitz ich dir die Gurgel auf und werf euch beide rein.«
»Was reden Sie da? Sie sind verrückt!« Filomena fing an zu schluchzen – sie sah aus, als wäre sie zu einer entsetzlichen Erkenntnis gekommen. »Oh Madre di Dio, Sie sind verrückt!«
»Ich bin nicht verrückt«, erwiderte Luca und wiederholte, was er eben gesagt hatte. »Ich will nicht, dass es noch mehr von diesem Pack gibt. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich tue.«
Als Filomena sagte: »Nein, das mach ich nicht«, packte Luca sie an den Haaren und zerrte sie direkt vor die Ofentür. »Nein!«, schrie Filomena und krümmte sich, um der Hitze zu entkommen. Dann spürte sie den gezackten Rand der Flasche im Nacken, und einen Augenblick später hielt sie das Kind nicht mehr in den Händen. Der Säugling war fort, und zurück blieben nur sie und Luca, der rötliche Feuerschein und die Finsternis um sie herum.
Hooks beugte sich über die Spüle und spritzte sich Wasser auf Kinn und Wangen. Vor wenigen Sekunden war er mit schmerzendem Kopf zu sich gekommen und zur Spüle gestolpert, jetzt hörte er Schritte von der Kellertreppe her und das Schluchzen einer Frau, wahrscheinlich Filomena. Er fuhr sich mit den nassen Fingern durchs Haar, und als er sich umdrehte, sah er sich Luca gegenüber, der Filomena im Nacken gepackt hielt wie eine Marionette, die zu Boden stürzen würde, wenn er sie losließe.
»Um Gottes willen, Luca«, keuchte Hooks.
Luca stieß Filomena auf einen Stuhl, wo sie sich vornüberkrümmte und die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. »Bring sie nach Hause«, sagte er zu Hooks und wandte sich zur Treppe um. Bevor er nach oben verschwand, warf er noch einen Blick über die Schulter und sagte: »Luigi …« Er zögerte und strich sich die Haare aus der Stirn. Dabei sah er aus, als wollte er etwas zu Hooks sagen, konnte aber die Worte nicht finden. Schließlich deutete er auf Filomena und sagte: »Zahl ihr fünftausend. Du weißt, wo das Geld ist.« Und damit stieg er die Treppe hinauf.
Als er das Schlafzimmer betrat, lag Kelly reglos auf dem Bett, die Augen geschlossen und die Arme lang ausgestreckt. »Kelly«, sagte er und setzte sich neben sie auf die Matratze. Unten ging die Küchentür auf und zu, und kurz darauf sprang ein Motor an. »Kelly«, sagte er, lauter dieses Mal. Als sie nicht aufwachte, legte er sich neben sie und strich ihr übers Gesicht. Er wusste, dass sie tot war, kaum hatte er ihre Haut berührt, aber er legte ihr trotzdem das Ohr auf die Brust. Er hörte keinen Herzschlag, und in der Stille spürte er ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen – für einen Moment glaubte er, er müsste weinen. Luca hatte nicht mehr geweint, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Damals hatte er jedes Mal geheult, bevor sein Vater ihn verprügelte, aber eines Tages hatte er einfach damit aufgehört – und so verstörte ihn diese plötzliche Empfindung zutiefst, und er würgte sie hinunter, sein ganzer Körper schmerzhaft steif, bis das Gefühl nachließ. Aus einer Tasche zog er ein Fläschchen voller Pillen, kippte ein paar davon in die hohle Hand und warf sie sich in den Mund. Er spülte sie mit einem Schluck Whisky aus einem Flachmann hinunter, der auf dem Nachttisch stand. Dann setzte er sich auf, warf sich die restlichen Pillen in den Mund und trank den Flachmann leer. Hatte er nicht noch mehr Pillen im Schrank? Schließlich fand er in einer Jackentasche zusammen mit einigen zusammengerollten Geldscheinen ein weiteres Fläschchen. Darin waren nur noch zehn oder zwölf Pillen, aber er warf sie trotzdem ein und legte sich wieder neben Kelly. Er schob den Arm unter ihren Bauch und zog sie zu sich heran, so dass ihr Kopf auf seiner Brust ruhte. »Lass uns schlafen, Puppengesicht«, sagte er. »Hier ist eh alles scheiße, wohin man schaut.« Und schloss die Augen.