Richie Gatto steuerte Vitos Essex langsam die Chambers Street hinunter zum Rathaus. Das Wetter war klar und kalt. Die Schneehaufen, die vom letzten Unwetter zurückgeblieben waren und sich zwischen Straße und Gehsteig zu niedrigen Barrikaden verfestigten, wurden zunehmend unansehnlicher. Michael saß auf der Rückbank zwischen Vito und Genco und erzählte aufgeregt, was er über das Rathaus gelesen hatte.
»Papa«, sagte er, »hast du gewusst, das Abraham Lincoln und Ulysses S. Grant beide im Rathaus öffentlich aufgebahrt waren?«
»Wer ist Ulysses S. Grant?«, fragte Genco, der steif am Fenster saß, eine Hand auf dem Magen, als hätte er Schmerzen, in der anderen Hand die Krempe seines schwarzen Derby, der auf seinen Knien ruhte.
»Der achtzehnte Präsident der Vereinigten Staaten«, erwiderte Michael. »Achtzehnneunundsechzig bis achtzehnsiebenundsiebzig. Lee hat sich Grant am Ende des Bürgerkriegs in Appomattox ergeben.«
»Oh«, sagte Genco und sah Michael an, als stamme der Junge vom Mars.
Vito legte Michael eine Hand aufs Knie. »Da sind wir«, sagte er und deutete aus dem Fenster zur glänzenden Marmorfassade des Rathauses hinüber.
»Wow«, sagte Michael. »Schaut euch die vielen Stufen an!«
»Dort ist Stadtrat Fischer«, sagte Vito.
Richie hatte den Stadtrat ebenfalls gesehen und ließ den Essex vor dem großen Säulenvorbau ausrollen.
Michael trug einen marineblauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer roten Krawatte, und Vito beugte sich zu ihm hinüber und zog die Krawatte gerade. »Nach der Führung mit dem Stadtrat wird einer seiner Assistenten dich nach Hause fahren«, sagte er, holte eine Geldklammer aus der Innentasche seines Jacketts und reichte Michael einen Fünf-Dollar-Schein. »Du wirst das nicht brauchen, aber du solltest immer ein paar Dollar dabeihaben, wenn du unterwegs bist. Capisc’?«
»Sì«, sagte Michael. »Danke, Papa.«
Stadtrat Fischer wartete, die Hände in die Hüften gestemmt und ein breites Lächeln auf den Lippen, vor der großen Treppe. In seinem braunen, großkarierten Anzug und dem Hemd mit Stehkragen wirkte er äußerst adrett, was von der hellgelben Krawatte und der gelben Nelke am Aufschlag noch betont wurde. Obwohl die Sonne schien, war es kalt, doch er hatte sich den Mantel über den Arm gelegt. Er war ein untersetzter Mann mittleren Alters mit hellblondem Haar, das unter seinem Fedora hervorlugte.
Michael schlüpfte in seinen Mantel, stieg hinter seinem Vater aus dem Wagen und folgte ihm über den Gehsteig. Der Stadtrat kam ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen.
»Das ist mein jüngster Sohn Michael«, sagte Vito, nachdem er dem Stadtrat die Hand geschüttelt hatte, und legte Michael den Arm um die Schulter. »Er ist Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit für ihn nehmen.«
Der Stadtrat legte Michael die Hände auf die Schultern und musterte ihn eingehend. Zu Vito sagte er: »Da haben Sie aber einen ansehnlichen jungen Mann, Mr. Corleone.« Und an Michael gewandt: »Dein Vater hat mir erzählt, du würdest dich für unsere Regierung interessieren. Stimmt das, junger Mann?«
»Jawohl, Sir.«
Der Stadtrat lachte und klopfte Michael auf den Rücken. »Wir werden uns gut um ihn kümmern«, sagte er zu Vito und fügte hinzu: »Hören Sie, Vito. Sie und Ihre Familie sollten an der Bürgerschaftsparade teilnehmen, die wir für das Frühjahr planen. Der Bürgermeister ist dabei, alle Stadträte und prominenten New Yorker Familien …« Und wieder zu Michael: »Bei einer solchen Parade würdest du doch gerne mitlaufen, nicht wahr, junger Mann?«
»Klar«, erwiderte Michael und schaute zu Vito hoch, um seine Zustimmung abzuwarten.
Vito legte Michael die Hand in den Nacken. »Es wäre uns eine Ehre.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie in Kürze Ihre Einladungen erhalten«, sagte Fischer. »Meine Mädchen sind bienenfleißig und bereiten alles vor.«
»Kann jeder bei der Parade mitlaufen?«, wollte Michael wissen. »Die ganze Familie?«
»Aber natürlich«, sagte der Stadtrat. »Darauf kommt es uns ja gerade an. Wir werden diesen subversiven Elementen, diesen Anarchisten und dem ganzen Gesindel zeigen, dass wir eine ehrbare amerikanische Stadt sind und unsere Regierung unterstützen.«
Vito lächelte, als fände er etwas, das der Stadtrat gesagt hatte, ausgesprochen komisch. »Ich muss jetzt los.« Er gab Fischer die Hand und sagte zu Michael: »Heute Abend beim Essen kannst du uns alles erzählen.«
»Klar, Papa«, erwiderte Michael und folgte Stadtrat Fischer die Treppe zum Rathaus hinauf, während Vito sich neben Genco auf den Rücksitz setzte.
»Michael wird ein wirklich hübscher Junge«, sagte Genco. »Der Anzug steht ihm.«
»Er ist ein kluges Kerlchen«, sagte Vito und schaute seinem Sohn nach. Richie ordnete sich wieder in den Verkehr ein, und als der Junge außer Sichtweite war, lehnte sich Vito ein wenig zurück und lockerte seine Krawatte. »Haben wir noch etwas von Frankie Pentangeli gehört?«, fragte er Genco.
»Nein«, sagte Genco, schob die Hand unter seine Weste und rieb sich den Bauch. »Irgendjemand hat einen von Mariposas Clubs überfallen und ihm einen Haufen Geld abgenommen, heißt es.«
»Und wir wissen nicht, wer?«
»Bisher hat sie niemand erkannt. Sie spielen nicht mit dem Geld und geben es nicht für Weiber aus. Wahrscheinlich waren das Iren.«
»Wie kommst du darauf?«
»Einer von ihnen hatte einen irischen Akzent. Außerdem leuchtet mir das ein. Wenn es Italiener gewesen wären, wüssten wir davon.«
»Meinst du, dass es dieselbe Gang ist, die auch den Whisky klaut?«
»Mariposa vermutet das jedenfalls.« Genco drehte den Derby in den Händen hin und her. Dann schlug er mit der flachen Hand neben sich auf das Polster und lachte. »Mir gefallen diese bastardi«, sagte er. »Sie treiben Giuseppe in den Wahnsinn.«
Vito rollte sein Fenster einen Spalt weit herunter. »Was ist mit Luca Brasi? Gibt es von ihm irgendwelche Neuigkeiten?«
»Sì. Der Arzt sagt, er hat einen Gehirnschaden. Reden kann er noch, aber nur langsam, als wäre er blöde.«
»Yeah?«, sagte Richie hinter dem Steuer. »Ein Genie war er vorher auch nicht gerade.«
»Er war nicht dumm«, sagte Vito.
»Er hat genug Pillen geschluckt, um einen Gorilla umzubringen«, sagte Genco.
»Aber nicht genug«, erwiderte Vito, »um Luca Brasi zu töten.«
»Der Arzt sagt, dass es mit der Zeit möglicherweise schlimmer wird.« Genco kratzte sich am Kopf. »Ich habe das Wort vergessen, das er gebraucht hat. Irgendwas mit ›b‹.«
»Beeinträchtigt«, sagte Vito.
»Genau. Er hat gesagt, er könnte beeinträchtigt sein.«
»Hat er gesagt, wie schnell das passieren kann?«
»Es ist das Gehirn. Er hat gesagt, beim Gehirn wüsste man nie.«
»Aber im Moment?«, wollte Vito wissen. »Er ist langsam, aber er redet und findet sich zurecht?«
»Soweit ich gehört habe. Er klingt nur ein wenig blöde.«
»Hey«, sagte Richie. »Das trifft auf die Hälfte der Leute zu, mit denen wir es zu tun haben.«
Vito blickte zur Decke des Wagens hinauf und strich sich über den Hals. »Was sagen unsere Anwälte über das Beweismaterial gegen Brasi?«
Genco seufzte, als wäre ihm die Frage unangenehm. »Sie haben die Knochen des Säuglings in dem Ofen gefunden.«
Vito legte sich die Hand auf den Bauch und wandte den Blick ab. Bevor er weiterredete, atmete er tief durch. »Sie könnten behaupten, dass das Mädchen das Kind in den Ofen geworfen hat, bevor es gestorben ist. Und als Brasi sich dessen bewusst wurde, hat er versucht, sich umzubringen.«
»Einer seiner eigenen Leute hat die Polizei geholt«, sagte Genco, und seine Stimme wurde lauter. »Luigi Battaglia, von dem es heißt, dass er schon mit Luca zusammen ist, seit er ein kleiner Junge war. Und er ist bereit auszusagen, dass er gesehen hat, wie Luca Filomena und den Säugling in den Keller gezerrt hat, nachdem er allen erklärt hatte, dass er sein eigenes Kind abmurksen wird. Und dann hat er ihn ohne das Kind aus dem Keller kommen sehen, und Filomena war völlig hysterisch. Vito!« Inzwischen brüllte er schon fast. »Warum verschwenden wir unsere Zeit auf diesen bastardo? Che cazzo! Wir sollten den Hurensohn selber kaltmachen!«
Vito legte seinem Freund die Hand aufs Knie, bis Genco sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Inzwischen befanden sie sich auf der Canal Street. Der Lärm der Stadt wurde lauter und bildete einen auffälligen Kontrast zu der Stille, die im Wagen herrschte. Vito kurbelte das Fenster hoch. »Können wir Luigi Battaglia ausfindig machen?«
Genco zuckte die Achseln, als könnte er das so nicht beantworten.
»Finde ihn«, sagte Vito. »Ich glaube, dass er ein Mann ist, mit dem man vernünftig sprechen kann. Was ist mit Filomena?«
»Sie redet kein Wort mit der Polizei«, erwiderte Genco und blickte auf den Gehsteig hinaus, wo sich die Menschen drängten. »Sie hat entsetzliche Angst.« Allmählich schien er wieder in seine Rolle als Consigliere zurückzufinden.
»Vielleicht ist es an der Zeit, dass sie und ihre Familie nach Sizilien zurückkehren.«
»Vito … du weißt, dass ich dich nicht anzweifle …« Genco wandte sich um und sah Vito nachdenklich an. »Aber warum interessierst du dich für dieses animale? Sie sagen, er ist der Teufel, und sie haben recht. Er sollte in der Hölle schmoren, Vito. Als seine Mutter erfahren hat, was er getan hat, hat sie sich das Leben genommen. Mutter und Sohn, suicidi. Diese Familie …« Genco griff sich an die Stirn, als wollte er sich das Wort, das ihm nicht einfiel, aus dem Kopf ziehen. »Pazzo«, sagte er schließlich.
»Wir tun, was wir tun müssen, Genco«, flüsterte Vito, als wäre er enttäuscht, dass er das überhaupt sagen musste, und auch ein wenig zornig. »Das weißt du.«
»Aber Luca Brasi …«, flehte Genco. »Ist es das wert? Weil er Mariposa Angst macht? Ich will ehrlich zu dir sein, Vito – mir macht er auch Angst. Dieser Mann widert mich an. Er ist ein Tier. Und so gehört er auch behandelt.«
Vito beugte sich zu Genco hinüber und sprach so leise, dass nicht einmal Richie Gatto auf dem Vordersitz ihn verstehen konnte. »Ich will dir gar nicht widersprechen, Genco. Aber ein Mann wie Luca Brasi, ein Mann, der einen so entsetzlichen Ruf genießt, dass sich die stärksten Männer vor ihm fürchten – wenn wir einen solchen Mann auf unserer Seite hätten, wäre er eine mächtige Waffe.« Vito hielt Gencos Handgelenk umklammert. »Und wir werden eine mächtige Waffe brauchen, wenn wir gegen Mariposa bestehen wollen.«
Genco presste sich beide Hände auf den Bauch, als würde er plötzlich von starken Schmerzen heimgesucht. »Agita«, sagte er und seufzte – dieses eine Wort schien die ganze Last der Welt zu enthalten. »Und du glaubst, dass du ihn im Zaum halten kannst?«
»Wir werden sehen.« Vito rutschte auf seine Wagenseite zurück. »Finde Luigi. Und bring Filomena zu mir.« Und als wäre ihm das gerade erst eingefallen: »Gib Fischer diesen Monat etwas mehr.« Er kurbelte wieder sein Fenster hinunter und suchte in seiner Jackentasche nach einer Zigarre. Auf den Straßen herrschte emsige Betriebsamkeit, und je näher sie der Hester Street und dem Lagerhaus von Genco Pura kamen, umso häufiger erkannte er die Leute, die vor den Läden und Mietshäusern standen und sich unterhielten. Als er das Ladenschild von Nazorines Bäckerei sah, befahl er Richie, rechts ran zu fahren. »Genco«, sagte er und stieg aus, »besorgen wir uns ein paar Cannoli.«
Genco berührte vorsichtig seinen Bauch, zögerte einen Moment und zuckte dann mit den Achseln. »Cannoli? Warum nicht …«