Vito überquerte die Fußgängerbrücke, die das Strafgerichtsgebäude mit den »Tombs« verband. Draußen, jenseits der Reihe hoher Fenster, die auf die Franklin Street hinausgingen, drängten sich New Yorker in schweren Mänteln auf den Gehsteigen. Viele von ihnen, so vermutete Vito, hatten beruflich am Gericht zu tun oder besuchten Freunde und Verwandte im Gefängnis. Vito hatte noch nie eine Zelle von innen gesehen, und er hatte auch noch nie auf der Anklagebank gesessen. Allerdings war ihm sehr wohl bewusst, dass beides im Rahmen des Möglichen lag. Auf seinem Weg zur Brücke war er die hohen Korridore des Strafgerichts entlanggegangen. Dabei hatte er immer wieder Polizisten und Anwälten in die Augen geblickt, den pezzonovante in ihren Nadelstreifenanzügen, elegante Aktentaschen in den Händen. Der Polizist, dem er folgte und der großzügig geschmiert worden war, hielt den Blick meist auf den Boden gerichtet. Er hatte Vito raschen Schrittes an den Schwingtüren des großen Gerichtssaals vorbeigeführt, und Vito hatte einen Blick auf einen Richter in schwarzer Robe erhascht, der auf seinem glänzenden Thron aus Holz saß. Der Gerichtssaal hatte Vito an eine Kirche erinnert und der Richter an einen Priester. Bei dem Anblick war Vito plötzlich maßlos wütend geworden, als wäre der Richter schuld daran, dass es auf der Welt so grausam und unmenschlich zuging, dass Frauen und Kinder ermordet wurden, in Sizilien ebenso wie in Manhattan. Vito hätte nicht in Worte fassen können, warum er so wütend wurde, warum er am liebsten die Schwingtüren des Gerichtssaals aufgestoßen und den Richter von seinem Sitz heruntergezerrt hätte – und wenn ihn jemand beobachtet hätte, hätte er nur gesehen, wie er die Augen schloss und wieder öffnete, wie um kurz auszuruhen, während er am Gerichtssaal vorbei auf die beiden breiten Türen zuschritt, die zur Fußgängerbrücke führten.
Der Polizist, dem Vito folgte, schien sich etwas zu entspannen, nachdem sie das Gerichtsgebäude verlassen hatten und auf dem Weg ins Gefängnis waren. Er zog sein Hemd gerade, nahm die blaue Mütze ab, strich über das Abzeichen an ihrer Stirnseite und setzte sie wieder auf. Diese Abfolge von Gesten erinnerte Vito an jemanden, der gerade mit knapper Not etwas überstanden hatte und noch einmal durchatmete, bevor er sich wieder seinem Alltag zuwandte. »Kalt heute«, sagte der Polizist und deutete auf die Straße hinunter. »Unter null«, erwiderte Vito und hoffte, das Gespräch damit zu beenden. Die Straße war mit rußbeschmutzten Eis- und Schneehaufen übersät, obwohl es in letzter Zeit nicht geschneit hatte. An der Ecke der Franklin Street wartete eine junge Frau; sie hatte den Kopf gesenkt und die behandschuhten Hände vors Gesicht geschlagen, während die Fußgänger weiter an ihr vorbeiströmten. Vito bemerkte sie, kaum dass er auf die Brücke hinausgetreten war. Und er beobachtete sie, während er an einem Fenster nach dem anderen vorbeiging. Als er das letzte Fenster erreichte, stand sie noch immer reglos da, den Kopf in den Händen – und dann betrat Vito die »Tombs« und verlor sie aus dem Blick.
»Er ist im Keller«, sagte der Polizist. Vor ihnen erstreckte sich ein langer Korridor, der von geschlossenen Türen gesäumt war. »Wir haben ihn aus der Krankenstation holen müssen.«
Vito machte sich nicht die Mühe zu antworten. Irgendwo am Ende des Korridors brüllte jemand, den sie nicht sehen konnten, wütend herum, und seine Stimme hallte die Wände entlang.
»Ich heiße Walter«, sagte der Polizist unvermittelt und stieß eine Tür auf, die in ein Treppenhaus führte. »Mein Partner Sasha passt auf ihn auf.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir können Ihnen nur eine halbe Stunde geben, allerhöchstens.«
»Mehr brauche ich auch nicht.«
»Und Sie sind sich darüber im Klaren«, sagte der Polizist und ließ den Blick über Vitos Jackett und den Mantel schweifen, den er über dem Arm trug, »dass ihm nichts passieren darf, während er sich in unserer Obhut befindet?«
Walter war genauso groß wie Vito, aber einige Jahre jünger und fünfzig Pfund schwerer. Das Hemd spannte ihm über dem Bauch, und seine massigen Oberschenkel zeichneten sich deutlich unter dem blauen Stoff seiner Hose ab. »Ihm wird nichts passieren«, sagte Vito.
Der Polizist nickte und führte Vito zwei Stockwerke nach unten auf einen fensterlosen Korridor, in dem es abscheulich stank. Vito hob seinen Fedora vors Gesicht und fragte: »Was ist das?«
»Wenn jemand sich eine Abreibung verdient hat«, erwiderte Walter, »bringen wir ihn hier runter.« Er schaute sich um, während sie weitergingen. »Riecht so, als hätte da jemand rückwärts gefrühstückt.«
Am Ende des Korridors, hinter einer Ecke, wartete Sasha, den Rücken einer grünen Tür zugewandt, die Arme vor der Brust verschränkt. Als er Vito bemerkte, öffnete er die Tür und trat beiseite. »Eine halbe Stunde«, sagte er. »Hat Walter Ihnen das erklärt?«
Durch die offene Tür sah Vito Luca auf einer Krankenhausliege sitzen. Der große Mann hatte sich so sehr verändert, dass Vito erst den Eindruck hatte, er wäre zum Falschen geführt worden. Die rechte Seite seines Gesichts hing leicht herab, als wäre sie einen halben Zentimeter nach unten gezogen worden. Seine Lippen waren geschwollen, und er atmete geräuschvoll durch den Mund ein. Luca schaute mit stumpfem Blick zur Tür herüber. Es schien ihm Mühe zu bereiten, klar zu sehen und zu verstehen, was er sah.
Als Vito in der Tür zögerte, sagte Sasha: »Er sieht schlimmer aus, als es ihm geht.«
»Lassen Sie uns bitte alleine«, sagte Vito. »Sie können um die Ecke warten.«
Sasha warf Walter einen fragenden Blick zu, als wäre er sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
»Aber natürlich, Mr. Corleone«, sagte Walter, streckte an seinem Partner vorbei den Arm aus und schloss die Tür.
»Luca«, sagte Vito nach einer ganzen Weile. Die Bestürzung und Trauer, die in seiner Stimme mitschwangen, überraschten ihn selbst. Das Zimmer roch nach Desinfektionsmittel, und bis auf die Liege und ein paar einfache Stühle war es leer. Es gab kein Fenster, und das Zimmer wurde nur von einer nackten Glühbirne erleuchtet, die von der Decke hing. Vito zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben die Liege.
»Was … machen Sie … hier, Vito?«, fragte Luca. Er trug einen kurzärmeligen weißen Krankenhauskittel, der ihm zu klein war. Der Saum reichte ihm nicht einmal bis zu den Knien. Nachdem er diese wenigen Worte gesagt hatte, schien er schlucken und sich räuspern zu müssen. Er stotterte, sprach aber deutlich und gab sich Mühe, jedes Wort richtig zu betonen. Während er redete, sah Vito zum ersten Mal eine Andeutung des alten Luca, als lauerte dieser irgendwo hinter dem lädierten Gesicht und den stumpfen Augen.
»Wie geht es dir?«, fragte Vito.
Eine Sekunde verstrich, bevor Luca antwortete. »Wie … sehe ich aus?« Es hatte den Anschein, als versuchte er zu lächeln.
Vito entging die Verzögerung zwischen Frage und Antwort nicht. Er sprach langsam, damit Luca Zeit hatte zu verstehen, was er sagte, und es zu verarbeiten. »Nicht so gut«, erwiderte er.
Luca rutschte von der Liege herunter und durchquerte das Zimmer, um sich einen Stuhl zu holen. Unter dem Kittel, den er nicht einmal hatte zubinden können und der über seinem breiten Rücken offenstand, war er nackt. Er stellte den Stuhl vor Vito und setzte sich ihm gegenüber. »Wissen Sie … was mir nicht … aus dem Kopf geht?« Wieder machte er eine Pause zwischen den Wörtern, als müsste er erst überlegen, was er als Nächstes sagen wollte. Als Vito den Kopf schüttelte, sagte Luca: »Will O’Rourke.«
»Warum das?«
»Ich hasse ihn. Ich will ihn … umbringen.« Einige Sekunden vergingen, und Luca stieß einen Laut aus, den Vito als Lachen interpretierte.
»Luca«, sagte er. »Ich kann dir helfen. Ich kann dich hier rausholen.«
Dieses Mal war Lucas Lächeln nicht zu übersehen. »Sind Sie Gott?«
»Ich bin nicht Gott.« Vito nahm seinen Hut in die Hand, betrachtete ihn nachdenklich und legte ihn dann wieder in seinen Schoß auf seinen Mantel. »Hör mir gut zu, Luca. Ich möchte, dass du mir vertraust. Ich weiß alles. Ich weiß, was du durchgemacht hast. Ich weiß …«
»Was … was wissen … Sie, Vito?« Luca beugte sich vor, was ein wenig bedrohlich wirkte. »Ich weiß … wovon Sie reden. Sie wissen … dass ich meinen … Vater umgebracht hab. Jetzt glauben Sie … Sie wissen alles. Aber Sie … Sie wissen … nichts.«
»Ich weiß sogar eine ganze Menge«, erwiderte Vito. »Ich weiß über deine Mutter Bescheid. Und über deinen Nachbarn, den Lehrer. Wie hieß er noch – Lowry.«
»Was wissen Sie?« Luca lehnte sich wieder zurück und legte die Hände auf die Knie.
»Die Polizei hatte dich im Verdacht, Luca, aber sie konnten es nicht beweisen.«
»Verdacht?«
»Luca«, sagte Vito, »es ist nicht schwer, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Warum sollte dein Vater – ein Sizilianer – versuchen, sein eigenes Kind aus dem Schoß seiner Mutter herauszuschneiden? Das würde er nie und nimmer tun! Und warum hast du diesen Lowry, euren Nachbarn, vom Dach gestoßen, nachdem sie dich aus dem Krankenhaus entlassen hatten? Luca, das ist eine Tragödie, kein Geheimnis. Du hast deinen Vater getötet, um deine Mutter zu retten, und dann hast du den Mann getötet, der deinem Vater Hörner aufgesetzt hat. Und dabei«, fügte Vito hinzu, »hast du dich ehrenhaft verhalten.«
Luca schien noch lange, nachdem Vito verstummt war, aufmerksam zuzuhören. Er war auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken und wischte sich, als schwitze er, mit der Hand über die Stirn – dabei war es eher kalt in dem Zimmer. »Wer weiß das … sonst noch?«
»Die Polizei, die auf Rhode Island ermittelt hat. Sie haben es sich zusammengereimt, aber sie hatten keine Beweise, und es war ihnen gleichgültig. Sie haben das alles längst vergessen.«
»Woher wissen Sie … dass die Polizei auf Rhode Island … das weiß?«
Vito zuckte mit den Achseln.
»Was ist mit … Ihrer Organisation? Wer weiß … da etwas?«
Auf dem Flur war alles ruhig. Vito wusste nicht, ob die beiden Polizisten in der Nähe waren. »Niemand außer mir.«
Luca sah zur Tür hinüber und wandte sich dann wieder Vito zu. »Ich will nicht … dass irgendjemand von … den Sünden meiner Mutter … erfährt.«
»Und das wird auch niemand. Auf mein Wort kannst du dich verlassen. Und ich gebe dir mein Wort.«
»Ich vertraue … niemand.«
»Manchmal«, sagte Vito, »manchmal muss man das. Irgendjemand muss man vertrauen.«
Luca sah Vito an, und Vito hatte den Eindruck, dass hinter Lucas Augen jemand anderes lauerte und versuchte, sich über ihn klar zu werden. »Vertrau mir ab jetzt«, sagte er schließlich. »Und glaub mir, wenn ich sage, dass ich dich retten kann.« Vito beugte sich zu Luca vor. »Ich weiß, wie es ist zu leiden. Mein Vater und mein Bruder sind ermordet worden. Ich habe zugeschaut, wie ein Mann meine Mutter mit einer Schrotflinte erschossen hat. Und ich habe meine Mutter geliebt, Luca. Als die Zeit gekommen war und ich es zu etwas gebracht hatte, bin ich zurückgegangen und habe diesen Kerl umgebracht.«
»Ich habe … schon versucht … den Mann zu töten … der meinen Vater ermordet hat … und meine Mutter.« Er hob die Hand und rieb sich vorsichtig die Augen. In die Dunkelheit hinein sagte er: »Warum wollen Sie … mir helfen?«
»Ich möchte, dass du für mich arbeitest. Ich bin kein von Natur aus gewalttätiger Mensch. Aber ich lebe in derselben Welt wie du, Luca, und wir beide wissen, dass in dieser Welt das Böse überall ist. Und da braucht es Männer, die das Böse unbarmherzig ausmerzen. Männer wie dich. Einen Mann wie dich, einen Mann, den alle fürchten, kann ich gut gebrauchen.«
»Sie möchten … dass ich für Sie … arbeite?«
»Ich werde mich um dich kümmern. Und um deine Männer. Ich werde dafür sorgen, dass die Anklage gegen dich fallen gelassen wird.«
»Was ist mit den … Zeugen? Was ist mit … Luigi Battaglia?«
»Er wird seine Aussage zurücknehmen oder verschwinden. Filomena, die Hebamme, befindet sich bereits in meiner Obhut. Sie wird zusammen mit ihrer Familie nach Sizilien zurückkehren. Dieser ganze Vorfall wird für dich erledigt sein.«
»Und dafür … muss ich nur … für Sie arbeiten … als Soldat?« Luca musterte Vito neugierig, als könnte er wirklich nicht verstehen, warum dieser ihm ein solches Angebot machte. »Wissen Sie nicht … dass ich … il diavolo bin? Ich hab … Mütter, Väter … und Kinder ermordet. Ich hab meinen … eigenen Vater ermordet und meinen … eigenen Sohn. Wer will schon etwas … mit dem Teufel … zu tun haben? Clemenza vielleicht? Oder Tessio?«
»Clemenza und Tessio machen, was ich ihnen sage. Aber ich brauche nicht noch einen Soldaten, Luca. Soldaten habe ich genug.«
»Was wollen Sie dann … von mir?«
»Ich möchte, dass du etwas bist, das wichtiger ist als ein Soldat, Luca. Ich möchte, dass du weiterhin il diavolo bist – aber il mio diavolo.«
Lucas Gesicht blieb ausdruckslos. Er sah Vito noch eine ganze Weile an, bevor er sich abwandte und in die Ferne starrte. Dann schien er endlich zu begreifen und nickte still vor sich hin. »Vorher muss ich … noch eine Sache … erledigen. Ich muss … Will O’Rourke töten.«
»Das kann warten.«
Luca schüttelte den Kopf. »Ich kann an … nichts anderes … denken. Ich muss ihn töten.«
Vito seufzte. »Und wenn das erledigt ist, hältst du dich strikt an meine Anweisungen?«
»Okay«, sagte Luca. »Ja.«
»Noch eine Sache. Das zwischen dir und Tom Hagen – das ist vergeben und vergessen.«
Luca betrachtete die nackte Wand, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. Schließlich wandte er sich wieder zu Vito um und nickte.
Beide Männer schwiegen, es war alles gesagt, was von Bedeutung war. Trotzdem war Vito überrascht, wie stark die Gefühle waren, die er empfand, während er Luca betrachtete, das ruinierte Gesicht und die stumpfen Augen. Der große Mann schien in sich zusammengefallen zu sein, bei lebendigem Leibe in seinem mächtigen Gefäß aus Fleisch und Knochen beerdigt, als wäre das, was ihn wirklich ausmachte, in ihm gefangen wie ein Junge, der sich in einem dunklen Gebäude verirrt hatte. Zu seiner eigenen Überraschung streckte Vito den Arm aus und berührte Lucas Finger – zögerlich erst, dann packte er sie mit beiden Händen. Er wollte sprechen, Luca erklären, dass ein Mann lernen musste, manche Dinge zu vergessen, dass manchmal Dinge geschahen, die nicht einmal Gott der Herr verzeihen konnte – und dass einem nichts anderes übrig blieb, als nicht mehr an sie zu denken. Aber nicht ein Wort kam ihm über die Lippen. Stattdessen hielt er nur Lucas Hand umklammert und schwieg.
Als Vito ihn berührte, stieß Luca einen Laut aus, der fast ein Keuchen war, und in seine Augen kehrte wieder etwas Leben zurück, so dass sie einen Moment lang wie die eines kleinen Jungen aussahen. »Meine Mutter ist tot«, sagte er, als hätte er es gerade erst erfahren und stünde unter Schock. »Kelly ist tot«, fügte er hinzu, und wieder wirkte er völlig überrascht.
»Sì«, sagte Vito, »und das musst du aushalten.«
Tränen traten Luca in die Augen, und er wischte sie sich unwirsch mit dem Unterarm fort. »Sagen Sie«, murmelte er, »sagen Sie nie …«
»Versprochen.« Vito wusste genau, was Luca meinte – er wollte, dass die Tränen ihr Geheimnis blieben. »Du kannst mir vertrauen.«
Luca hatte die ganze Zeit zu Boden geschaut, und jetzt hob er den Blick und sah Vito in die Augen. »Zweifeln Sie … nie an mir«, sagte er. »Zweifeln Sie … nie an mir – Don Corleone.«
»Gut«, sagte Vito und ließ Lucas Hand los. »Und jetzt verrate mir: Wer sind die Kerle, die Giuseppe den ganzen Ärger gemacht haben?«
»Ja«, sagte Luca und erzählte Vito alles, was er wusste.