Während sich der Packard auf der Hester Street langsam dem Lagerhaus seines Vaters näherte, starrte Sonny zum Fenster hinaus. Männer und Frauen eilten geschäftig die Straßen entlang. Clemenza war am Steuer und ließ den Wagen langsam über das Pflaster rollen, während Vito schweigend auf dem Beifahrersitz saß. Sonny konzentrierte sich darauf, den Mund zu halten und Clemenza nicht an die Gurgel zu springen, der ihn wie den letzten Dreck behandelte, seit er bei Leo’s aufgetaucht war und ihn aus der Werkstatt geschleift hatte. Sein Vater hatte bisher noch kein Wort gesagt. Clemenza hatte Sonny am Arm hinter sich hergezerrt und ihn auf die Rückbank des Packard befördert. Sonny war von der Massigkeit und Kraft des fetten Mannes so überrascht gewesen und so bestürzt darüber, wie er behandelt wurde, dass er nicht reagierte, bevor er im Wagen saß und seinen Vater auf dem Beifahrersitz sah. Als er wütend gefragt hatte, was zum Teufel das sollte, hatte ihm Clemenza erklärt, er solle die Klappe halten, und als er seine Frage wiederholt hatte, hatte Clemenza ihm den Griff seiner Pistole gezeigt und ihm gedroht, er würde ihm damit eins überziehen – und die ganze Zeit über hatte Vito geschwiegen. Er schwieg jetzt immer noch und hielt die Hände im Schoß, während Clemenza den Wagen vor dem Lagerhaus parkte.
Clemenza öffnete die Hecktür. »Halt bloß die Klappe, Junge«, flüsterte er dicht an Sonnys Ohr, als dieser ausstieg. »Du steckst ganz schön in der Scheiße.« Vito wartete bereits auf dem Gehsteig, den Mantel eng um die Schultern geschlagen.
»Was hab ich angestellt?«, fragte Sonny. Er hatte nur seinen mit Ölflecken übersäten Overall aus der Werkstatt an, und die Kälte zwickte ihn an Nase und Ohren.
»Komm einfach mit«, sagte Clemenza. »Reden kannst du nachher noch genug.«
Als sie vor der Eingangstür standen, ergriff Vito zum ersten Mal das Wort. Was er sagte, hatte jedoch nichts mit Sonny zu tun. »Ist Luca draußen?«, fragte er Clemenza.
»Seit gestern Abend. Er hat sich mit ein paar von seinen Jungs getroffen.«
Sonny war wie vom Donner gerührt. Luca Brasi! Bevor er sich jedoch darüber klarwerden konnte, was das bedeutete, befand er sich im Inneren des Lagerhauses und sah sich fünf Stühlen gegenüber, die vor einem Stapel Kisten mit Olivenöl in einem Halbkreis angeordnet waren. Hier drin war es kalt, und der graue Betonboden und die nackten Stahlträger schimmerten feucht. Die Kisten um die Stühle herum waren drei Meter hoch aufgestapelt, so dass der Eindruck entstand, sie befänden sich in einem abgetrennten Raum. Auf den Stühlen saßen, gefesselt und geknebelt, Sonnys Freunde – Cork in der Mitte, Nico und Little Stevie auf der einen Seite, die Romero-Zwillinge auf der anderen. Richie Gatto und Jimmy Mancini standen mit dem Rücken zu den Kisten hinter Nico, Eddie Veltri und Ken Cuisimano hinter den Romeros. Die Männer hatten sich alle in Nadelstreifenanzügen herausgeputzt; im Vergleich dazu wirkten die Jungs wie Abschaum von der Straße – ihre Wintermäntel lagen auf einem Haufen hinter ihnen. Tessio kam mit gesenktem Kopf aus einem Gang zwischen den Kisten geschlurft und zerrte am Reißverschluss seiner Hose, der offenbar klemmte. Als er den kleinen Raum betrat, hatte er das Problem jedoch behoben. Er blickte auf und sagte: »Hey, Sonny! Schau dir das an!« Er deutete auf die Stühle. »Die Hardy Boys sind auf die schiefe Bahn geraten!« Alle mussten lachen, außer Sonny und Vito sowie Sonnys Freunde.
»Basta«, sagte Vito, trat in den Halbkreis und sah seinen Sohn an. »Diese mortadell’ haben Giuseppe Mariposa bestohlen, was ihm eine Menge Ärger bereitet und ihn viel Geld gekostet hat – und weil ich mit Mr. Mariposa zusammenarbeite, hat es auch mir Ärger bereitet, und es fehlt nicht viel, dass es mich Geld kostet.«
»Pa …« Sonny trat einen Schritt auf seinen Vater zu.
»Sta’zitt’!« Vito hob drohend die Hand, und Sonny wich zurück. »Der junge Mr. Corcoran hier«, fuhr Vito fort und wandte sich zu Bobby um, »ist im Laufe der Jahre oft bei uns gewesen. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie er in kurzen Hosen in deinem Zimmer gespielt hat.« Vito zog Bobby den Knebel aus dem Mund und wartete, ob er etwas sagen würde. Als er schwieg, wandte er sich den Romero-Brüdern zu und zog auch ihnen den Knebel aus dem Mund. »Diese beiden wohnen im selben Viertel wie wir. Nico hier«, fuhr er fort und befreite ihn von dem Knebel, »wohnt gleich bei uns um die Ecke. Unsere Familien sind miteinander befreundet.« Vito trat vor Little Stevie und musterte ihn verächtlich. »Den hier« – er riss ihm den Knebel heraus – »kenne ich nicht.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt«, schrie Stevie, kaum konnte er wieder sprechen, »diese Visagen hab ich schon ewig nicht mehr gesehen!«
Richie Gatto zog eine Pistole aus dem Schulterhalfter und spannte den Hahn. Zu Stevie sagte er: »Für dich wär’s gesünder, du würdest die Schnauze halten.«
Vito trat weiter vor in die Mitte des Halbkreises. »Bis auf den hier« – er deutete auf Stevie – »behaupten diese Kerle alle, du hättest mit den Überfällen nichts zu tun.« Er sah Little Stevie lange an. »Der hier dagegen sagt, dass sie deine Gang sind und du hinter allem steckst.« Vito ging langsam auf seinen Sohn zu. »Die anderen nehmen dich in Schutz und behaupten, er wolle dir nur etwas anhängen.« Als er ganz dicht vor Sonny stand, hielt er inne und starrte ihn an. »Ich habe diese Kindereien satt«, sagte er. »Ich frage dich nur ein Mal: Hattest du irgendetwas mit diesen Überfällen zu tun?«
»Ja«, erwiderte Sonny. »Das ist meine Gang. Ich habe alles geplant. Ich bin für alles verantwortlich, Pa.«
Vito trat einen Schritt zurück, senkte den Blick, strich sich durchs Haar – und dann schoss seine Hand vor. Sonnys Kopf flog nach hinten, und aus seiner aufgeplatzten Lippe floss Blut. Vito beschimpfte Sonny auf Italienisch und packte ihn bei der Kehle. »Du riskierst dein Leben. Du riskierst das Leben deiner Freunde. Spielst den Cowboy. Mein Sohn! Habe ich dich nicht besser erzogen? Hast du das von mir gelernt?«
»Mr. Corleone«, sagte Cork. »Sonny hat nicht …«
Cork verstummte sofort, als Sonny die Hand hob. Keinem der Männer um sie herum entging, wie sehr er dabei seinem Vater glich.
»Pa, können wir bitte unter vier Augen reden?«
Vito ließ Sonny so plötzlich los, dass dieser fast das Gleichgewicht verloren hätte und ein paar Schritte nach hinten taumelte. Auf Italienisch erklärte er Clemenza, er sei in ein paar Minuten wieder zurück.
Sonny folgte seinem Vater durch das Lagerhaus, vorbei an einem Pritschenwagen mit geöffneter Haube, vorbei an zahllosen Olivenölkisten, über den mit schwarzen Flecken übersäten Betonboden und zur Hintertür hinaus auf eine breite Gasse, wo eine Reihe von Lieferwagen unter dem Gitterwerk schwarzer Feuertreppen geparkt war. Hier draußen blies ein kalter Wind, wirbelte Staub und Abfall auf und zerrte an den Planen, die über die Ladeflächen der Lieferwagen gespannt waren. Vito blieb mit dem Rücken zu Sonny stehen und schaute die Gasse entlang zur Baxter Street hinüber. Seinen Mantel hatte er im Lagerhaus gelassen, und jetzt zog er das Jackett zu und schlang sich die Arme um die Brust. Sonny lehnte sich gegen die Tür und betrachtete den Rücken seines Vaters. Plötzlich fühlte er sich furchtbar müde und er ließ den Kopf nach hinten gegen das kalte Metall sinken. Auf einer Feuertreppe auf der anderen Straßenseite lag ein Plüschtiger; er war am Nacken aufgeplatzt, und die weiße Füllung zitterte im Wind.
»Pa«, sagte Sonny, dann wusste er nicht mehr, was er als Nächstes sagen sollte. Er schaute zu, wie der Wind die Haare seines Vaters durcheinanderbrachte, und verspürte das verrückte Bedürfnis, sie ihm mit den Fingern glattzustreichen.
Als Vito sich umdrehte, war seine Miene noch immer unversöhnlich. Er musterte Sonny schweigend, zog dann ein Taschentuch hervor und tupfte seinem Sohn das Blut von Lippen und Kinn.
Sonny war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er blutete, bis er das Taschentuch mit den roten Flecken sah. Er fasste sich an den Mund und verzog das Gesicht. »Pa«, sagte er und hielt wieder inne. Mehr als dieses vertraute Wort brachte er einfach nicht heraus.
»Wir konntest du uns das nur antun«, fragte Vito, »deiner Mutter und deinem Vater, deiner Familie?«
»Pa«, wiederholte Sonny, »Pa. Ich weiß, wer du bist. Ich weiß es schon seit Jahren. Himmel, Pa, jeder weiß es.«
»Wirklich?«, entgegnete Vito. »Für wen hältst du mich denn?«
»Ich will mir nicht mehr in der Werkstatt den Arsch aufreißen«, sagte Sonny, »und mir für ein paar Dollar die Hände schmutzig machen. Ich möchte, dass die Leute mich respektieren, so wie dich. Ich möchte, dass die Leute mich fürchten, so wie dich.«
»Ich frage dich noch einmal«, sagte Vito und trat einen Schritt auf ihn zu. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und verlieh ihm ein wildes Aussehen. »Für wen hältst du mich denn?«
»Du bist ein Gangster«, sagte Sonny. »Vor der Gesetzesänderung hast du mit Schnaps gehandelt. Du hast deine Finger im Glücksspiel und im Geldverleih und hängst bei den Gewerkschaften mit drin.« Sonny presste die Hände gegeneinander und unterstrich seine Worte mit einer fahrigen Geste. »Ich weiß, was alle wissen, Pa.«
»Du weißt, was alle wissen«, wiederholte Vito. Er hob den Kopf, blickte zum Himmel hinauf und versuchte, sich die Haare glattzustreichen.
»Pa.« Sonny sah seinem Vater an, wie verletzt er war, und er wünschte, er hätte zurücknehmen können, was er gerade gesagt hatte, oder zumindest etwas sagen, was seinem Vater zeigte, dass er ihn für das respektierte, was er war – aber ihm wollte nichts einfallen, was in diesem Moment geholfen hätte.
»Du irrst dich«, sagte Vito, den Blick noch immer himmelwärts gerichtet, »wenn du mich für einen gewöhnlichen Ganoven hältst.« Er schwieg noch einen Augenblick länger, bevor er schließlich Sonny anblickte. »Ich bin Geschäftsmann. Und ja, ich gebe zu, dass ich mir mit Giuseppe Mariposa und seinesgleichen die Hände schmutzig mache – aber ich bin nicht wie Giuseppe, und wenn du das glaubst, irrst du dich gewaltig.«
»Ach, Pa.« Sonny schritt an seinem Vater vorbei und drehte sich im Kreis, bevor er ihm wieder gegenüber stand. »Ich bin es wirklich leid, dass du immer so tust, als wärst du jemand, der du nicht bist. Ich weiß, dass du es nur gut mit uns meinst, aber es tut mir leid, ich weiß, was du machst. Ich weiß, wer du bist. Du betreibst eine illegale Lotterie und mehrere Glücksspielläden in der Bronx. Du setzt die Gewerkschafter unter Druck, und deine Jungs erpressen Schutzgelder. Und du verkaufst Olivenöl.« Sonny faltete die Hände vor der Brust, als würde er beten. »Es tut mir leid, Pa, aber ich weiß, wer du bist und was du tust.«
»Das glaubst du vielleicht.« Vito trat zwischen zwei Lieferwagen, wo es etwas windgeschützt war, und wartete, bis sein Sohn ihm folgte. »Aber du hast nicht die geringste Ahnung. Dass ich Dinge tue, auf die ich nicht stolz bin, ist kein Geheimnis. Aber ich bin nicht der Ganove, als den du mich hinstellst. Ich bin kein Al Capone. Und auch kein Giuseppe Mariposa mit seinen Drogen und Frauen und Mördern. Ein Mann wie ich setzt sich nicht durch, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, Santino. So ist das nun einmal, und ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen. Aber bei dir muss das nicht so sein. Bei dir wird das nicht so sein.« Vito legte Sonny die Hand in den Nacken. »Vergiss diese ganze Gangstergeschichte. Dafür habe ich nicht so hart gearbeitet, damit mein Sohn ein Ganove wird. Das werde ich nicht zulassen, Santino.«
Sonny ließ das Kinn auf die Brust sinken und schloss die Augen. Die schwarzen Planen über den Ladeflächen der Lieferwagen knatterten im Wind. In dem schmalen Zwischenraum, in dem er mit seinem Vater stand, schien die Kälte unter dem Fahrwerk hervorzukommen und ihm in die Füße und Waden zu schneiden. Auf der Straße fuhr ein steter Strom von Lastwagen und Pkws vorbei; Motoren grollten, wenn ein Fahrer einen anderen Gang einlegte. Sonny legte die Hand auf die Hand seines Vaters, die ihm noch immer im Nacken ruhte. »Pa, ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie Tessio und Clemenza Toms Vater umgebracht haben. Und du warst dabei.«
Vito riss seine Hand zurück, packte ihn am Kinn und sah ihm in die Augen. »Was redest du da?« Als Sonny nicht sofort antwortete, drückte er so fest zu, dass Sonnys Lippen wieder anfingen zu bluten.
»Ich hab dich gesehen«, sagte Sonny, wobei er versuchte, dem Blick seines Vaters auszuweichen. »Ich bin dir gefolgt und hab mich auf einer Feuerleiter auf der anderen Straßenseite versteckt. Von dort konnte ich in das Hinterzimmer vom Murphy’s schauen. Ich hab gesehen, wie Clemenza Henry Hagen einen Kopfkissenbezug über den Kopf gestülpt hat, und dann ist Tessio mit einem Brecheisen auf ihn losgegangen.«
»Das hast du geträumt«, sagte Vito, als wollte er unbedingt, dass Sonny ihm glaubte. »Das hast du nur geträumt, Santino.«
»Nein.« Jetzt endlich hob er den Blick und sah, dass sein Vater leichenblass geworden war. »Nein«, wiederholte er, »das hab ich nicht geträumt. Und du bist kein rechtschaffener Bürger, Pa. Du bist ein Mafioso. Du bringst Leute um, wenn es nötig ist, und dafür fürchten sie dich. Hör mir zu! Ich bin kein Schrauber und auch nicht der Boss einer Automobilfirma. Ich möchte für dich arbeiten. Ich möchte zu deiner Organisation gehören.«
Vito starrte seinen Sohn an, ohne sich zu rühren. Langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Schließlich ließ er die Hände sinken und schob sie tief in seine Hosentaschen. »Geh rein und hol Clemenza«, sagte er, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen.
»Pa …«
Vito hob die Hand. »Tu, was ich dir sage. Schick Clemenza raus zu mir.«
Sonny betrachtete das Gesicht seines Vaters, doch Vitos Miene verriet nichts. »Okay, Pa. Was soll ich Clemenza sagen?«
Vito sah ihn verwundert an. »Ist das zu schwierig für dich? Geh rein. Rede mit Clemenza. Schick ihn raus zu mir. Du wartest drinnen bei den anderen.«
»Klar.« Sonny öffnete die Metalltür und verschwand im Lagerhaus.
Vito ging zu einem der Lieferwagen hinüber und stieg in das Führerhaus. Er ließ den Motor an, warf einen Blick auf die Temperaturanzeige und drehte dann den Rückspiegel so, dass er sich darin sehen konnte. Eigentlich wollte er seine Haare in Ordnung bringen, doch stattdessen starrte er in die Augen, die ihm entgegenblickten. Sein Kopf war völlig leer. Seine Augen sahen aus wie die Augen eines alten Mannes, wässrig und blutunterlaufen vom Wind, mit einem Krähennest aus Falten, die sich über die Schläfen erstreckten. Er betrachtete seine eigenen Augen, aber es war, als befänden sich zwei Menschen in dem Führerhaus, zwei Augenpaare, die einander anstarrten, jedes dem anderen ein Rätsel. Als Clemenza gegen die Tür klopfte, zuckte er erschrocken zusammen. Er kurbelte das Fenster herunter. »Schick Tessio nach Hause«, sagte er. »Er soll Eddie und Ken mitnehmen.«
»Was ist mit Sonny passiert?«, wollte Clemenza wissen.
Vito schenkte der Frage keine Beachtung. »Binde Santino auf einen Stuhl, genau wie die anderen. Und spring nicht zu sanft mit ihm um, capisc’? Ich möchte, dass du ihnen Angst einjagst. Damit sie denken, dass uns vielleicht nichts anderes übrig bleibt, als sie umzubringen, wegen Giuseppe. Sag mir, wer sich als Erster in die Hosen pisst.«
»Und mit Sonny soll ich das auch machen?«
»Ich möchte mich nicht wiederholen müssen.« Vito sah, wie sich die Nadel an der Temperaturanzeige langsam bewegte, schaltete die Lüftung an und legte den ersten Gang ein.
»Wohin fährst du?«, fragte Clemenza.
»Ich bin in einer halben Stunde wieder da«, erwiderte Vito. Er kurbelte das Fenster hoch und bog auf die Baxter Street ein.
Willie O’Rourke hielt eine Tümmlertaube in der linken Hand, strich vorsichtig über ihr Gefieder und betrachtete sie eingehend. Er kniete vor dem Taubenschlag, hinter sich das Dachgesims und rechts vor sich die Tür, die ins Haus hinunterführte. Durch das Drahtgeflecht des Käfigs konnte er einen Liegestuhl aus Tuch und Holz sehen, der neben der Tür stand und in dem er vor ein paar Minuten noch in der Kälte gesessen und den Schleppdampfern dabei zugeschaut hatte, wie sie einen Frachter den Fluss hinaufzogen. Der Tümmler gehörte zu seinen Lieblingen, ein grauer Vogel mit einer schwarzen Maske. Manchmal, wenn er flog, löste er sich plötzlich von dem Schwarm, ließ sich fallen wie ein Stein, fing sich wieder und kehrte zu den anderen zurück. Willie beobachtete das gerne, wartete geradezu auf dieses »Tümmeln«, das dieser Art den Namen gab, und noch immer machte sein Herz jedes Mal einen Satz. Jetzt beendete er seine Untersuchung und setzte den Vogel wieder zurück in den Schlag zu den anderen. Dann warf er noch etwas frisches Stroh auf den Boden, damit der Schwarm in der bitteren Kälte nicht erfror. Als er damit fertig war, setzte er sich, in seinen Mantel gehüllt, auf den Dachsims. Ein beißender Wind blies die Straße entlang und über die Dächer.
Während ihm der Wind um die Ohren pfiff, nahm er sich einen Moment Zeit, um nachzudenken. Donnie lag wie tot unten im Schlafzimmer – seine Blindheit und Kellys Tod waren mehr, als er ertragen konnte. Doc Flaherty sagte, er sei eben niedergeschlagen und würde mit der Zeit schon darüber hinwegkommen, doch Willie bezweifelte das. Donnie redete kaum mehr ein Wort und er siechte dahin. Alle glaubten, das läge vor allem an seiner Blindheit, aber Willie war anderer Meinung. Nachdem Donnie sein Sehvermögen verloren hatte, war er eine Zeitlang furchtbar wütend gewesen und dann zunehmend mürrischer geworden – aber erst, als er von Kellys Tod erfahren hatte und von der Art und Weise, wie sie gestorben war, war alles Leben aus ihm gewichen. Seither hatte er kein Dutzend Worte mehr gesprochen. Tag und Nacht lag er schweigend in seinem dunklen Schlafzimmer. Der einzige Unterschied zwischen Donnie und einer Leiche, fand Willie, bestand darin, dass Donnie noch atmete.
Als Willie sich vom Dachsims erhob und umdrehte, saß Luca Brasi in dem Liegestuhl. Er hatte ihm den Rücken zugewandt, und einer seiner Kumpane bewachte, die Pistole in der Hand, die Tür. Erst konnte Willie nicht fassen, was er da sah, denn er hatte rein gar nichts gehört, doch dann wurde ihm klar, dass der Wind wohl alles übertönt hatte. Von Luca konnte er nur den Fedora sehen und einen weißen Schal, den er sich um den Hals gewickelt hatte, aber es gab keinen Zweifel, das war Luca Brasi. Unter seinem massigen Körper sah der Liegestuhl aus wie ein Spielzeug. Und der Kerl an der Tür war derjenige, dem Willie in die Hand geschossen hatte. Er erkannte ihn von dem Überfall auf die Bank.
Willies Blick schweifte zu den schwarzen Bögen der Feuerleiter auf der anderen Seite des Daches hinüber und wieder zurück zu dem Mann an der Tür, der die Hände vor dem Bauch überkreuz hielt, einen silberglänzenden Revolver, der aussah wie aus einem Tom-Mix-Western, in der behandschuhten Rechten. »Was willst du?«, rief Willie über den Wind hinweg.
Luca stemmte sich aus dem Stuhl hoch und drehte sich um. Mit einer Hand hielt er den Kragen seines Mantels zu, die andere hatte er in der Tasche.
Willie wurde sich erst bewusst, dass er rückwärts ging, als er gegen den Dachsims stieß. Luca sah aus wie eine Leiche – sein Gesicht war grau und hing an einer Seite herunter, wie bei jemandem, der einen Schlaganfall gehabt hatte. »Himmel noch mal«, sagte Willie und lachte. »Du siehst aus wie Boris Karloff in Frankenstein.« Er fasste sich an die Augenbrauen. »Vor allem deine Affenstirn.«
Luca fuhr sich mit der Hand über die herabhängende Wange, als dächte er über Willies Urteil nach.
»Was willst du?«, fragte Willie noch einmal. »Hast du nicht schon genug getan? Wegen dir ist Donnie blind, und Kelly hast du ermordet, du verdammter Dreckskerl!«
»Aber du … hast auf mich … geschossen«, sagte Luca und schob die Hand zurück in die Tasche. »Du hast gesagt … dass du das nächste Mal … nicht danebenschießt.« Lucas Blick schweifte kurz zu Paulie an der Tür, als wäre ihm gerade erst eingefallen, dass er da war. »Aber bisher«, fuhr er fort und wandte sich wieder zu Willie um, »gab es kein … nächstes Mal. Was ist passiert? Sind deine Jungs … nervös geworden?«
»Ich scheiß auf dich!«, sagte Willie und schritt auf Luca zu, bis er direkt vor ihm stand. »Ich scheiß auf dich und deine tote Mutter und dein verbranntes Kind und die ganzen degenerierten Makkaronis, die sich deine Freunde nennen. Und ich scheiß auf Kelly, die so dumm war, sich mit dir einzulassen.«
Lucas Hand schoss aus der Tasche und packte Willie an der Gurgel. Er hob ihn hoch, als wäre er eine Puppe. Willie zappelte mit den Armen und Beinen, trat und schlug nach Luca, doch der große Mann schien es nicht einmal zu spüren. Luca drückte immer fester zu, bis Willie kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren, und ließ ihn dann zu Boden fallen, wo er auf allen vieren landete und keuchend nach Luft schnappte.
»Die sind hübsch«, sagte Luca und schaute zum Taubenschlag hinüber. »Die Vögel. Wie sie fliegen«, fügte er hinzu. »Sie sind hübsch.« Er kniete sich neben Willie und flüsterte: »Du weißt … warum ich dich … töten werde … Willie? Weil du ein lausiger Schütze bist.« Er schaute zu, wie Willie seinen Mantel aufknöpfte und versuchte, ihn auszuziehen, als könnte er dann besser atmen. Schließlich packte Luca Willie am Hemdkragen und am Hosenboden, trug ihn zum Sims und schleuderte ihn über der Tenth Avenue in die Luft. Willie breitete die Arme aus, und sein Mantel zeichnete sich schwarz vor dem blauen Himmel ab. Einen kurzen Augenblick hätte man meinen können, er würde fliegen, doch dann verschwand er, und Luca bedeckte das Gesicht mit den Händen, bevor er sich umdrehte. Paulie hielt bereits die Tür zum Treppenhaus auf und wartete auf ihn.
Vito bog mit dem Lieferwagen in die Gasse hinter dem Lagerhaus, hielt am Ende der Reihe und schaltete den Motor aus. Der Tag war kalt und windig, der blaue Himmel von weißen Wolkenfetzen übersät. Vito hatte einen kleinen Ausflug zum East River unternommen, an einer ruhigen Stelle unter der Williamsburg Bridge geparkt und zwanzig Minuten lang die graublaue Wasseroberfläche betrachtet, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte. Dabei hatte er über sein Gespräch mit Sonny nachgedacht, und ein paar Sätze hatten sich seinem Gedächtnis dauerhaft eingebrannt: Du bist ein Gangster. Du bist ein Mafioso. Du bringst Leute um. Innerlich war er so aufgewühlt, dass es ihm fast den Magen umdrehte. Seine Finger zuckten, er musste blinzeln, und ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter. Also blieb er so lange in dem Lieferwagen sitzen und schaute auf das Wasser hinaus, bis ein friedlicher, bedachter Zorn die Oberhand über das gewonnen hatte, was aus ihm hervorzubrechen drohte. Für einen Moment glaubte er, seine Augen wären feucht geworden, aber er hatte keine Tränen mehr vergossen, seit er Sizilien verlassen hatte, weder aus Angst noch vor Wut oder Schmerz, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Das Wasser beruhigte ihn – für seine Vorfahren war es lebenswichtig gewesen, und etwas von diesem Wechselverhältnis war über Tausende von Jahren hinweg auch auf ihn gekommen. Während seiner Fahrt nach Amerika hatte Vito, ein kleiner Junge unter zahllosen Fremden im Bauch des Ozeandampfers, Tag und Nacht auf den Ozean hinausgeschaut. Da er seine Familie nicht anständig hatte begraben können, hatte er sie in Gedanken beigesetzt. Er hatte das Meer angestarrt und seelenruhig gewartet – in dem Bewusstsein, dass er schon wissen würde, was zu tun sei, wenn es so weit war. Und jetzt saß er, während der Verkehr über ihm die Brücke erzittern ließ, im Führerhaus seines Lieferwagens und wartete wieder. Sonny war noch jung. Ihm fehlte es an Erfahrung. Er war Vitos Fleisch und Blut, das ja, aber er war auch zu töricht, um zu begreifen, was für eine Entscheidung er da fällte – zu jung und nicht klug genug. Also gut, hatte Vito schließlich zu sich selbst gesagt, für jeden hält das Schicksal etwas anderes bereit. Er hatte jedes einzelne Wort laut ausgesprochen, mit einer Mischung aus Zorn und Einsicht in den Lauf der Dinge, und schließlich hatte er den Motor angelassen und war zur Hester Street zurückgefahren.
Im Lagerhaus rief er auf dem Weg zu seinem Büro nach Clemenza, und der Name wurde, während Vito die Bürotür hinter sich schloss und am Schreibtisch Platz nahm, von der hohen Decke zurückgeworfen. Er nahm eine Flasche Strega und ein Glas aus einer der Schubladen und schenkte sich ein. Das Büro war spartanisch eingerichtet: dünne Holzwände, die in gedecktem Grün gestrichen waren, ein Schreibtisch aus Furnierimitat, auf dem Papierkram und einige Bleistifte herumlagen, an der Wand ein paar Stühle, hinter dem Schreibtisch ein Garderobenständer aus Metall, daneben ein billiger Aktenschrank. Die eigentliche Arbeit erledigte Vito zu Hause in seinem Arbeitszimmer; in seinem Büro war er nur selten. Er schaute sich die schäbige Einrichtung an und verzog angewidert das Gesicht. Als Clemenza zur Tür hereinkam, fragte Vito, bevor Clemenza sich setzen konnte: »Wer hat sich in die Hosen gepisst?«
»Eh?«, brummte Clemenza und zog sich einen Stuhl an den Tisch.
»Bleib stehen«, sagte Vito.
Clemenza schob den Stuhl wieder beiseite. »Niemand hat sich in die Hosen gepisst, Vito. Die Jungs sind hart im Nehmen.«
»Gut. Wenigstens etwas.« Vito hob sein Glas mit Strega an die Lippen, hielt dann aber inne, als hätte er es vergessen. Sein Blick schweifte über den Rand des Glases hinweg an Clemenza vorbei in die Ferne.
»Vito«, sagte Clemenza, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er Vito trösten, mit ihm über Sonny sprechen wollte.
Vito gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Bring sie alle irgendwo unter. Alle, außer die Iren. Tessio soll die Romeros nehmen, und du kümmerst dich um Nico und Santino.«
»Und die Iren?«
»Die sollen von mir aus Bullen, Politiker oder Gewerkschaftsfunktionäre werden und sich von uns schmieren lassen.« Vito stellte das Glas Strega ab, wobei der gelbliche Likör auf ein Blatt Papier schwappte.
»Okay«, sagte Clemenza. »Ich werd’s ihnen erklären.«
»Gut«, sagte Vito. Und mit völlig anderer Stimme fügte er hinzu: »Behalte ein Auge auf Santino, Peter. Bring ihm alles bei, was er wissen muss. Er muss in der Lage sein, seinen Mann zu stehen – aber behalte ein Auge auf ihn. Hast du mich verstanden?«
»Vito«, erwiderte Clemenza, und wieder klang er, als wollte er ihn trösten. »Ich weiß, dass du andere Pläne mit ihm hattest.«
Vito griff wieder nach dem Strega, und dieses Mal trank er sogar einen Schluck. »Er ist zu heißblütig«, sagte er. »Das ist nicht gut für ihn.« Er klopfte zweimal auf den Tisch und fügte hinzu: »Und es ist auch nicht gut für uns.«
»Ich stutze ihn schon zurecht«, sagte Clemenza. »Er hat ein gutes Herz, er ist stark, und er ist dein Sohn.«
Vito deutete zur Tür und forderte Clemenza auf, Sonny zu ihm zu schicken. Bevor Clemenza hinausging, legte er die Hand aufs Herz und sagte: »Ich werde ihn im Auge behalten. Und ihm alles beibringen, was es braucht.«
»Sein Temperament«, gab Vito zu bedenken.
»Das krieg ich schon hin«, erwiderte Clemenza, als würde er ein Versprechen ablegen.
Als Sonny das Büro betrat, massierte er sich die wunden Handgelenke. Seinen Vater sah er nur kurz an, dann senkte er den Blick.
Vito trat hinter dem Schreibtisch hervor, zog zwei Stühle heran und stellte sie vor seinen Sohn. »Setz dich«, sagte er und nahm Sonny gegenüber Platz. »Sei jetzt still und hör mir zu. Ich muss dir etwas sagen.« Vito faltete die Hände im Schoß und sammelte sich. »Das ist nicht, was ich mir für dich gewünscht habe«, sagte er schließlich, »aber ich sehe ein, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Jetzt kann ich nur noch dafür sorgen, dass du dich nicht wie ein Narr benimmst und ein Verrückter wie Giuseppe Mariposa dich und deine Freunde wegen ein paar Dollar kaltmacht.«
»Keiner von uns hat auch nur einen Kratzer …«, sagte Sonny, schwieg jedoch sofort wieder, als er den Blick in den Augen seines Vaters sah.
»Über diese ganze Sache werden wir nur ein Mal sprechen«, sagte Vito und hob den Finger, »und dann nie wieder.« Vito zog seine Weste gerade und räusperte sich. »Es tut mir leid, dass du das mit angesehen hast. Toms Vater war ein verwahrloster Spieler und Säufer. Damals war ich noch nicht der, der ich heute bin. Henry Hagen hat uns auf eine Art und Weise beleidigt, die ich ihm nicht durchgehen lassen konnte, sonst hätten Clemenza und Tessio jeglichen Respekt vor mir verloren. Also habe ich sie machen lassen. In diesem Leben, Santino, kann man keinen Respekt verlangen, man muss über ihn gebieten! Hörst du mir zu?« Als Sonny nickte, fuhr er fort: »Spaß macht mir dergleichen allerdings nicht. Und ich vermeide es, wann immer es möglich ist. Aber ich bin ein Mann – und für meine Familie tue ich alles. Für meine Familie, Santino!« Vito betrachtete das Glas Strega auf dem Schreibtisch, als überlegte er, noch einen Schluck zu trinken, und wandte sich dann wieder seinem Sohn zu. »Es gibt eine Frage, die ich dir stellen möchte, und ich erwarte eine klare Antwort. Als du Tom vor all den Jahren zu uns nach Hause mitgenommen hast, als du ihn vor mir auf den Boden gestellt hast, da wusstest du, dass ich ihn zum Waisen gemacht hatte, und du wolltest mir vor Augen führen, dass ich Schuld auf mich geladen hatte. Habe ich recht?«
»Nein, Pa.« Sonny hob die Hand, als wollte er seinen Vater berühren, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Ich war noch ein Kind. Natürlich sind mir alle möglichen Sachen durch den Kopf gegangen, nachdem ich das gesehen hatte, aber … ich weiß nur noch, dass ich wollte, dass du dich der Sache annimmst. Dass du dich um ihn kümmerst.«
»Das war alles?«, fragte Vito. »Du wolltest, dass ich mich um ihn kümmere?«
»An mehr kann ich mich nicht erinnern«, sagte Sonny. »Das ist lange her.«
Vito musterte seinen Sohn eingehend. Dann legte er ihm die Hand aufs Knie. »Tom darf davon niemals etwas erfahren. Niemals.«
»Ich gebe dir mein Wort.« Sonny umfasste die Hand seines Vaters. »Dieses Geheimnis werde ich mit mir ins Grab nehmen.«
Vito tätschelte ihm die Hand und schob dann seinen Stuhl zurück. »Hör mir gut zu, Santino. Wenn du in diesem Geschäft nicht lernst, dich zu beherrschen, landest du früher unter der Erde, als du denkst.«
»Das verstehe ich, Pa. Ich werde es lernen. Wirklich!«
»Ich sage es noch einmal: Das ist nicht, was ich mir für dich gewünscht habe.« Er faltete die Hände vor der Brust, als wollte er ein Gebet sprechen. »Auf legale Weise lässt sich mehr Geld verdienen und größere Macht erlangen. Und du musst auch nicht andauernd um dein Leben fürchten. Als ich ein kleiner Junge war, sind Männer gekommen und haben meinen Vater umgebracht. Als mein Bruder Rache schwor, haben sie ihn ebenfalls ermordet. Als meine Mutter um mein Leben flehte, haben sie auch sie getötet. Und dann haben sie Jagd auf mich gemacht. Ich bin nach Amerika geflohen und habe mich hier niedergelassen. Aber in diesem Geschäft gibt es immer irgendjemand, der dich umbringen will. Dem bin ich also nie entkommen …« Als er Sonnys bestürzte Miene sah, fuhr Vito fort: »Nein, das habe ich dir nie erzählt. Warum auch? Ich hatte gehofft, dass es mir gelingen würde, das von dir fernzuhalten.« Er sah seinen Sohn lange an.
Als hätte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass Sonny seine Meinung ändern könnte, sagte er: »Das ist nicht das Leben, das ich für dich wollte, Santino.«
»Pa«, erwiderte Sonny, den Wünschen seines Vaters gegenüber taub, »in mir hast du jemand, dem du immer vertrauen kannst. Ich werde deine rechte Hand sein.«
Vito atmete tief durch und schüttelte dann kaum merklich den Kopf, als würde er endlich aufgeben, wenn auch widerwillig. »Mit dir als rechter Hand«, sagte er und schob seinen Stuhl beiseite, »machst du deine Mutter zur Witwe und dich zum Waisen.« Sonny schien über die Worte seines Vaters nachzudenken, als verstünde er nicht, was sie bedeuteten. Bevor er etwas erwidern konnte, trat Vito hinter den Schreibtisch. »Clemenza wird dir alles Nötige beibringen. Du fängst ganz unten an, wie alle anderen auch.«
»Okay, Pa. Klar.« Sonny versuchte ganz offensichtlich, seine Begeisterung zu verbergen und professionell zu klingen, was ihm jedoch nicht gelang.
Vito runzelte darüber nur die Stirn. »Was ist mit Michael und Fredo?«, fragte er, »und mit Tom? Halten die mich auch alle für einen Gangster?«
»Tom weiß über das Glücksspiel und die Gewerkschaften Bescheid«, erwiderte Sonny. »Wie du gesagt hast – das ist kein Geheimnis.«
»Das war nicht das, was ich gefragt habe.« Vito zupfte an seinem Ohrläppchen. »Du musst lernen, mir zuzuhören! Ich habe dich gefragt, ob er mich für einen Gangster hält.«
»Pa, ich weiß, dass du nicht so bist wie Mariposa. Das hab ich nicht gemeint. Ich weiß, dass du nicht so ein verrückter Kerl bist wie Al Capone.«
Vito nickte – zumindest dafür war er dankbar. »Und was ist mit Fredo und Michael?«
»Nee«, sagte Sonny. »Die Kleinen himmeln dich an. Die wissen von nichts.«
»Aber das wird sich ändern. Wie bei dir und Tom.« Vito setzte sich hinter den Schreibtisch. »Clemenza und Tessio werden sich um deine Jungs kümmern.«
Sonny grinste. »Die rechnen jeden Moment damit, dass du ihnen eine Bleivergiftung verpasst.«
»Und du? Hast du auch gedacht, dass ich dich umbringen lasse?«
»Nee, ganz bestimmt nicht, Pa.« Sonny lachte, als wäre ihm der Gedanke nie auch nur in den Sinn gekommen.
Vito lachte nicht, sondern sah seinen Sohn finster an. »Die irischen Jungs müssen sehen, wo sie bleiben. Bei uns gibt es für sie keinen Platz.«
»Aber Cork ist ein guter Mann«, sagte Sonny. »Er ist klüger …«
»Sta’zitt’!« Vito schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, und ein Bleistift flog auf den Boden. »Hör auf, mir zu widersprechen! Ich bin jetzt dein Vater und dein Don. Ab sofort gehorchst du, ohne zu zögern – mir, Clemenza und Tessio.«
»Klar.« Sonny biss sich auf die Unterlippe. »Ich werde mit Cork reden. Er wird nicht eben glücklich sein, aber ich erklär’s ihm. Little Stevie würde ich am liebsten selbst eine Kugel verpassen.«
»Du willst ihm am liebsten eine Kugel verpassen?«, erwiderte Vito. »Was ist nur los mit dir, Santino?«
»Madon’, Pa!« Sonny warf die Hände in die Höhe. »Das ist nur eine Redensart.«
Vito wies zur Tür. »Verschwinde. Sprich mit deinen Jungs.«
Nachdem Sonny hinausgegangen war, schlüpfte Vito in seinen Mantel, der am Garderobenständer hing, schlang sich den Schal um den Hals und zog ein Paar Handschuhe aus der Manteltasche. Als er mit dem Hut in der Hand sein Büro verließ, ging er erst Richtung Vordereingang, bevor er es sich anders überlegte und sich zum Hinterausgang umwandte. Draußen war es noch kälter geworden. Eine graue Wolkendecke hing tief über der Stadt. Vito überlegte, ob er nach Hause gehen sollte, doch sofort sah er Carmella vor sich, wie sie am Küchenherd hantierte und das Abendessen zubereitete. Irgendwann würde er ihr erklären müssen, wie es mit Sonny weitergehen würde. Die Vorstellung stimmte ihn traurig, und er beschloss, noch einmal zum Fluss zu fahren, wo er darüber nachdenken konnte, wann und wie er ihr das beibringen sollte. Ihm graute vor dem Blick, mit dem sie ihn anschauen würde – ein Blick, der zumindest teilweise vorwurfsvoll sein würde. Er wusste nicht, was schlimmer war; die bange Vorahnung, die ihn heimgesucht hatte, als er begriff, dass er Sonny nicht länger würde außen vor halten können, oder die Angst vor dem Blick, mit dem seine Frau ihn ansehen würde.
Er saß bereits in dem Essex und hatte den Motor angelassen, als Clemenza, nur in seiner Anzugsjacke, aus dem Lagerhaus gerannt kam. »Vito«, sagte er und beugte sich auf der Fahrerseite zum Fenster hinab. Vito kurbelte die Scheibe herunter. »Was sollen wir mit Giuseppe machen? Wir können ihm schlecht erzählen, dass Sonny hinter der ganzen Sache gesteckt hat.«
Vito trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Sorge dafür, dass einer deiner Jungs ihm fünf in Zeitungspapier eingewickelte tote Makrelen bringt. Er soll ihm ausrichten: Vito Corleone hat seine Probleme ein für alle Mal aus der Welt geschafft.«
»Wird er das verstehen?«, fragte Clemenza.
»Ganz bestimmt«, erwiderte Vito und fuhr Richtung East River davon. Clemenza blieb am Straßenrand stehen und schaute ihm nach.