Cork ließ die grüne Jalousie vor dem Schaufenster der Bäckerei gegen das grelle Licht der Morgensonne halb herunter. Eileen hatte gerade ein dampfendes Blech süßer Rosinenbrötchen gebracht, und der Laden duftete nach Zimt und frisch gebackenem Brot. Der erste Kundenansturm hatte sich bereits gelegt, und Eileen war mit Caitlin nach oben gegangen und hatte es ihm überlassen, die Auslagen in Ordnung zu bringen und den Laden aufzuräumen. Cork machte es nichts aus, in der Bäckerei zu arbeiten. Allmählich gefiel es ihm sogar, auch wenn er auf die weiße Schürze und das Hütchen, die Eileen ihm aufgedrängt hatte, hätte verzichten können. Er unterhielt sich gerne mit den Kunden, bei denen es sich fast ausschließlich um Frauen handelte. Mit den verheirateten Frauen tauschte er Neuigkeiten aus und mit den unverheirateten flirtete er. Eileen versicherte ihm, dass die Geschäfte besser gingen, seit er hinter der Theke stand.
Gerade wollte er sich von der Straße abwenden, als in der unteren Hälfte des Fensters ein langes schwarzes Kleid erschien, und kurz darauf läutete die Glocke über der Tür. Mrs. O’Rourke betrat den Laden, eine braune Papiertüte im Arm. Sie war eine hagere Fau mit grauem Haar und einem verkniffenen Gesicht, das so aussah, als würde sie Grimassen schneiden, selbst wenn sie teilnahmslos dreinschaute.
»Ah, Mrs. O’Rourke«, sagte Cork in mitfühlendem Tonfall.
»Bobby Corcoran«, sagte Mrs. O’Rourke. Sie trug Trauer und brachte den Geruch von Bier und Zigaretten mit sich in den Laden. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich durch das dünne Haar, als wollte sie ihr Äußeres in der Gegenwart eines Mannes in Ordnung bringen. »Nach dir habe ich gesucht. Ich hab gehört, dass du hier bedienst.«
»Das tue ich«, sagte Cork und fing an, ihr sein Beileid auszusprechen, aber kaum hatte er Kellys Namen erwähnt, fiel ihm die alte Frau ins Wort.
»Ich hatte nie eine Tochter. Meine Tochter würde sich nie und nimmer mit einem blutrünstigen Itaker wie Luca Brasi einlassen.«
»Ich verstehe, wie Sie sich fühlen müssen, Mrs. O’Rourke.«
»Tatsächlich?« Sie verzog angewidert das Gesicht, drückte sich die braune Papiertasche an die Brust und machte ein paar unsichere Schritte auf die Theke zu. »Sean hat mir erzählt, dass du dich mit deinem Freund Sonny Corleone verkracht hast. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Cork, und obwohl es ihm unangenehm war, dass die alte Frau so dicht vor ihm stand, beugte er sich über die Auslage und schenkte ihr die Andeutung eines Lächelns. »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit.«
»Das ist gut«, sagte Mrs. O’Rourke und drückte die braune Papiertüte noch fester an ihre Brust. Offenbar schien sie nicht zu wissen, ob sie reden oder besser schweigen sollte.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Cork.
»Das ist gut«, wiederholte Mrs. O’Rourke, als hätte Cork nichts gesagt. Obwohl sie noch immer ein, zwei Meter von ihm entfernt war, senkte sie die Stimme, als würde sie ganz im Vertrauen mit ihm sprechen. »Dieser Sonny macht’s nicht mehr lange. Er und Luca Brasi und die ganzen anderen jämmerlichen Makkaronis.« Sie strich sich das Haar nach hinten, sichtlich zufrieden mit sich. »Die können sich auf eine nette irische Überraschung gefasst machen.«
»Was reden Sie da, Mrs. O’Rourke?«, fragte Cork und lachte unsicher. »Ich versteh Sie nicht recht.«
»Das wirst du schon noch«, erwiderte Mrs. O’Rourke und lachte ebenfalls leise. An der Tür, bevor sie ins Sonnenlicht hinaustrat, drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Der Herr liebt Paraden«, und lachte erneut, äußerst verbittert dieses Mal. Dann drehte sie sich um und verschwand die Straße hinunter, während die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Cork betrachtete die Tür, als könnte die Bedeutung dessen, was die alte Frau gesagt hatte, plötzlich in den Sonnenstrahlen Gestalt annehmen, die durch das Oberlicht hereinfielen. In der Morgenzeitung hatte er etwas über eine Parade gelesen. Er ging ins Hinterzimmer, wo die New York American lag, die Comicseite obenauf. Rasch blätterte er darin, bis er den Artikel fand, eine einzelne Spalte auf Seite drei. Heute Nachmittag sollte eine Prozession durch Manhattan ziehen, den Broadway entlang, irgendwas mit Bürgerpflichten. Für Cork war das nur ein Haufen politischer Unfug, und er konnte sich nicht vorstellen, was Sonny und seine Familie damit zu tun haben sollten. Er warf die Zeitung beiseite und machte sich wieder daran, die Auslagen in Ordnung zu bringen, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu Mrs. O’Rourke zurück. »Der Herr liebt Paraden« und »Dieser Sonny macht’s nicht mehr lange« hatte sie gesagt. Nachdem er eine Weile die Plunderstücke hin- und hergeschoben hatte, drehte er das Geschlossen-Schild an der Tür um, verriegelte sie und eilte die Hintertreppe hinauf.
Eileen hatte sich im Wohnzimmer auf dem Sofa ausgestreckt und hielt eine kichernde Caitlin über ihren Kopf. Das Kind hatte die Arme wie Flügel ausgestreckt und tat so, als würde es fliegen. »Wer kümmert sich um den Laden?«, fragte Eileen, als sie ihn bemerkte.
»Onkel Bobby!«, kreischte Caitlin. »Schau mal! Ich fliege wie ein Vogel!«
Bobby packte das Mädchen, warf es sich über die Schulter und drehte sich einmal rasch im Kreis, bevor er es zu Boden gleiten ließ und ihm einen Klaps auf den Hintern versetzte. »Geh und spiel in deinem Zimmer, Schätzchen«, sagte er. »Ich hab mit deiner Mama was Ernstes zu besprechen.«
Caitlin sah ihre Mutter an. Als Eileen zur Tür deutete, zog sie einen dramatischen Schmollmund, stemmte die Hände in die Hüften und ging hinaus, wobei sie so tat, als wäre sie zutiefst entrüstet.
»Hast du wenigstens die Tür abgeschlossen?«, fragte Eileen und setzte sich auf.
»Und das Schild umgedreht«, sagte Bobby. »Bis Mittag ist eh nicht viel los.« Er setzte sich neben Eileen auf das Sofa und erklärte, was gerade mit Mrs. O’Rourke vorgefallen war.
»Wahrscheinlich war sie betrunken und hat irres Zeug geredet«, sagte Eileen. »Wann soll diese Parade denn anfangen?«
Cork schaute auf seine Armbanduhr. »Etwa in einer Stunde.«
»Okay.« Eileen hielt inne und dachte nach. »Dann solltest du besser Sonny suchen und ihm erzählen, was passiert ist. Wahrscheinlich hat er von nichts eine Ahnung, und damit hat sich’s dann.«
»Und ich werde mir wie ein Idiot vorkommen.«
»Ihr seid alle beide Idioten«, sagte Eileen, zog Bobby an sich und küsste ihn auf die Wange. »Na los, red mit ihm. Es ist sowieso an der Zeit, dass ihr das Kriegsbeil begrabt.«
»Was ist mit Caitlin? Kommst du allein mit dem Laden klar?«
Eileen verdrehte die Augen. »Du hältst dich wohl für unabkömmlich, was?« Sie tätschelte Bobby das Knie und stand auf. »Bleib nicht zu lange weg«, sagte sie auf dem Weg in den Flur. In der Tür blieb sie stehen und deutete zur Küche. »Na los, geh schon.« Dann holte sie Caitlin.
Vito hielt Connie an der Hand und reichte Fredo ein Taschentuch. Sie befanden sich auf der Sixth Avenue zwischen der 32. und 33. Straße und warteten mit Hunderten von anderen darauf, dass die Parade begann. Fredo hustete, seit er am Morgen aufgestanden war, aber er hatte die Familie unbedingt begleiten wollen, und jetzt stand Carmella hinter ihm, hielt ihm die Hand auf die Stirn und sah Vito mit einem Stirnrunzeln an. Das Wetter war wechselhaft, einmal bewölkt, dann wieder sonnig; es versprach bald wärmer zu werden, aber im Moment, im Schatten von Gimbels Department Store, war es kühl, und Fredo zitterte. Hinter Carmella lieferten sich Sonny und Tom einen Scheinboxkampf mit Michael, der wegen der Parade ganz aufgeregt war und begeistert mitspielte; seine Boxhiebe glitten unter Sonnys Arm hindurch, und er rammte Tom spielerisch eine Schulter in den Bauch. Am anderen Ende der Straße stand Stadtrat Fischer mit einer Reihe von Honoratioren zusammen, darunter auch der Polizeichef, der eine gestärkte Uniform trug mit Bändern und Medaillen an der Brust. Als Vito und seine Familie an dem Stadtrat vorbeigekommen waren, hatte er ihnen nicht einmal zugenickt.
»Du bist krank«, sagte Vito. »Du zitterst ja.«
»Nein, bin ich nicht«, erwiderte Fredo und schob die Hand seiner Mutter beiseite. »Ich hab mich nur ein bisschen verkühlt, Papa.«
Vito hob ermahnend den Finger und rief nach Al Hats, der zusammen mit Richie Gatto und den Romero-Zwillingen die Menschenmenge im Auge behielt. Auf der anderen Straßenseite hatten sich Luca Brasi und seine Leute unter die Zuschauer gemischt. Als Al mit einer Zigarette zwischen den Lippen und den Fedora tief in der Stirn herbeischlenderte, riss Vito ihm die Zigarette aus dem Mund, trat sie aus und rückte seinen Hut zurecht. »Bring Fredo nach Hause«, sagte er. »Er hat Fieber.«
»Tut mir leid«, sagte Al zu Vito und meinte damit die Zigarette und dass er hier wie die Karikatur eines Ganoven herumlief. Er zog seine dunkelgraue Krawatte gerade, die nicht ganz zu seinem kastanienbraunen Hemd passen wollte. Zu Fredo sagte er: »Komm, junger Mann. Ich spendier dir noch einen Milchshake.«
»Wirklich?« Fredo warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu.
»Klar«, sagte Carmella. »Das ist gut gegen das Fieber.«
»Habt ihr das gehört?«, rief Fredo seinen Brüdern zu. »Ich muss nach Hause, weil ich krank bin.«
Die Jungs hörten auf herumzualbern und traten zu Fredo und ihren Eltern. Sie waren von zahlreichen Menschen umgeben – vielen Italienern, aber auch Polen, Iren und einer Gruppe Chassidim, die schwarze Gewänder und schwarze Fedoras trugen. »Das tut mir leid«, sagte Michael zu Fredo. »Soll ich dir ein Autogramm vom Bürgermeister besorgen, wenn wir ihn treffen?«
»Warum sollte ich von diesem fetten Penner ein Autogramm wollen?«, erwiderte Fredo und versetzte Michael eine Schubs.
»Hört auf damit«, sagte Sonny und packte Michael am Kragen, bevor er sich bei Fredo revanchieren konnte.
Vito sah seine beiden jüngeren Söhne an und stieß einen Seufzer aus. Schließlich gab er Hats ein Zeichen, und dieser nahm Fredo am Arm und führte ihn davon.
»Tut mir leid, Papa«, sagte Michael und fügte rasch hinzu: »Meinst du, wir treffen den Bürgermeister? Meinst du, ich bekomm ein Autogramm von ihm?«
Vito nahm Connie auf den Arm und zog ihr das blaue Kleid über die Knie. »Deine Schwester benimmt sich wie ein Engel«, sagte er zu Michael.
»Tut mir leid, Papa, ehrlich«, erwiderte Michael. »Ich wollte mich nicht mit Fredo streiten.«
Vito sah ihn ernst an, bevor er ihm den Arm um die Schulter legte und ihn zu sich heranzog. »Wenn du ein Autogramm vom Bürgermeister möchtest, dann werde ich dafür sorgen, dass du eins bekommst.«
»Wirklich, Papa? Das kannst du?«
»Hey, Michael«, sagte Tom. »Pa kann dir jedes Autogramm besorgen, das du haben willst.«
»Du solltest Pa um ein Autogramm bitten«, sagte Sonny und schlug Michael im Scherz auf die Stirn.
»Santino!«, sagte Carmella. »Sei nicht so grob!« Sie strich Michael über die Stirn, als wollte sie damit die Schmerzen vertreiben.
Von irgendwo ganz in der Nähe ertönte das unfeine Rülpsen einer Tuba, gefolgt vom misstönenden Quieken und Heulen einer Vielzahl von Musikinstrumenten – die Marschkapelle wärmte sich auf. »Gleich geht’s los«, sagte Vito und versammelte seine Familie um sich. Kurz darauf erschien ein Zeremonienmeister und begann, die Gruppen nacheinander auf die Straße zu dirigieren und Anweisungen zu rufen. Auf der anderen Seite der Sixth Avenue stand, so reglos wie eine Statue, Luca Brasi, die Augen auf Vito gerichtet.
Vito nickte ihm zu und führte seine Familie auf die Avenue hinaus.
Cork fuhr vor dem Haus, in dem Sonnys Eltern wohnten, an den Straßenrand, als Hats sich gerade mit einer Hand auf Fredos Schulter dem Eingang näherte. Fat Bobby und Johnny LaSala, die wie eine Schildwache vor der Tür gestanden hatten, kamen beide die Treppe heruntergeeilt, jeder eine Hand in der Jacketttasche. Cork rutschte auf den Beifahrersitz und streckte den Kopf zum Fenster hinaus.
»Cork!«, rief Fredo und trabte zum Wagen hinüber.
»Hallo, Fredo!«, sagte Cork und nickte Hats zu. Die beiden Wachposten vor dem Hauseingang kehrten an ihren Posten zurück. »Ich suche nach Sonny«, sagte Cork zu Fredo. »Er ist nicht bei sich zu Hause, und da dachte ich mir, ich schau mal bei euch vorbei.«
»Nee, der ist auf der Parade«, sagte Fredo. »Ich war auch gerade dort, aber ich bin krank, also muss ich ins Bett.«
»Ach, das ist aber schade«, erwiderte Cork. »Er ist auf einer Parade? Sonny?«
»Ja, alle sind dort. Außer mir.«
»Auf einer Parade?«, fragte Sonny noch einmal.
»Was ist los, Cork?«, warf Hats dazwischen. »Hast du’s mit den Ohren?«
»Die ganzen hohen Tiere sind dort«, sagte Fredo. »Sogar der Bürgermeister.«
»Wirklich?« Cork nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf, als könnte er es noch immer nicht glauben, dass Sonny auf eine Parade gehen würde. »Und wo findet diese Parade statt?«, fragte er Fredo schließlich.
Hats zog Fredo vom Wagen weg und sagte: »Warum willst du das alles wissen?«
»Weil ich nach Sonny suche.«
»Dann such ihn halt ein anderes Mal. Jetzt ist er beschäftigt.«
»Sie sind bei Gimbels in der Innenstadt«, sagte Fredo. »Die ganze Familie: Sonny, Tom und alle anderen.« Als Hats ihn wütend ansah, rief er: »Er ist Sonnys bester Freund!«
Cork sagte zu Fredo: »Pass auf dich auf, Kleiner. Dir geht’s bestimmt bald wieder gut.« Er nickte Hats noch einmal zu und rutschte zurück auf den Fahrersitz.
In Manhattan hatte die Polizei den Herald Square mit gelben Barrikaden abgesperrt, obwohl die Straßen nicht unbedingt mit Massen von Zuschauern gesäumt waren. Das Fußgängeraufkommen entsprach ungefähr dem, was man an einem normalen Wochentag erwarten würde, vielleicht ein paar Leute mehr. Cork umfuhr mehrere der Straßensperren und parkte im Schatten des Empire State Building. Bevor er ausstieg, nahm er eine Smith & Wesson aus dem Handschuhfach und schob sie in die Jackentasche. Dann ging er zum nächsten U-Bahn-Eingang und eilte aus dem Sonnenschein hinab in die kalten Tunnel, die vom Rumpeln und Klappern der Züge erfüllt waren. Er hatte einmal bei Gimbels eingekauft, zusammen mit Eileen und Caitlin, und er glaubte, dass er sich in den Tunneln zurechtfinden würde, die direkt in das Kaufhaus führten. Wie sich zeigte, musste er unter der Erde lediglich den Schildern und den Menschenmassen folgen, um in das Untergeschoss mit den Sonderangeboten zu gelangen, wo Verkäuferinnen in einem Irrgarten aus Vitrinen und Theken ihrer Arbeit nachgingen. Von dort aus folgte er weiteren Schildern, bis er sich wieder auf der Straße befand, und hastete dann zur Sixth Avenue und schließlich zum Broadway, wo eine Gruppe von Majoretten in weißen Uniformen im Takt einer Marschkapelle ihre Stäbe herumwirbelten und in die Luft warfen.
Zuschauer standen in Zweier- und Dreierreihen an der Straße, so dass auf dem Gehsteig noch genügend Platz für gewöhnliche Passanten blieb. Cork drängelte sich auf die Straße hinaus und sah Bürgermeister LaGuardia von der Ladefläche eines langsam dahinrollenden Pritschenwagens den Menschen zuwinken. Er war von Polizisten umgeben, die wie Generäle gekleidet waren, und von einer Horde Amtsträger in Anzügen und Uniformen, aber seine korpulente Figur und die energische Art und Weise, mit der er seinen Hut schwenkte, ließen ihn deutlich hervorstechen. Eine Meute von Polizisten riegelte den Wagen ab, und vor ihnen erstreckte sich die Parade den Broadway entlang, so weit Cork sehen konnte. Hinter dem Bürgermeister und seiner Fraktion ritten zwei Polizisten auf Pferden; sie wirkten wie sich im Schneckentempo vorwärtsbewegende Platzhalter, die die Amtsträger von den Majoretten und dem Tschingderassabumm der Marschkapelle trennten, die »The Stars and Stripes Forever« spielte.
Cork schritt den Gehsteig entlang in die Gegenrichtung zur Prozession und hielt nach Sonny Ausschau. Eine Reihe grauer Wolken trieb über ihnen an den Häusern vorbei und schob sich immer wieder vor die Sonne, wodurch der Eindruck entstand, ein Flickwerk aus Licht und Schatten würde der Prozession folgen, die sich die Avenue entlangbewegte. Nachdem die Marschkapelle vorüber war, folgten ihr nur noch einzelne Ansammlungen von Leuten. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend Männern, Frauen und Kindern trug ein Transparent, auf dem Walter’s Stationary, 1355 Broadway zu lesen war. Hinter ihnen schritt Hand in Hand ein vornehm gekleidetes Paar einher und winkte der Menge. In dem Moment, als Cork Luca Brasi auf der anderen Straßenseite entdeckte, trat Angelo Romero ihm in den Weg. Cork wich zurück und erkannte dann erst, dass es sein Freund war, der ihn da angrinste.
»Was zum Teufel suchst du denn hier, Cork?« Angelo packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
»Angelo«, erwiderte Cork, »was ist hier los?«
Angelo blickte auf die Straße und sah dann wieder Cork an. »Eine Parade. Was denkst denn du?«
»Danke«, sagte Cork, riss Angelo die Melone vom Kopf und schnippte gegen die rot-weiße Feder. »Ich hab einen Onkel in Irland, der mit so einem Hut rumläuft.«
Angelo nahm ihm den Hut aus der Hand. »Was hast du hier verloren?«
»Ich hab bei Gimbels eingekauft. Eileen hat was gebraucht. Und du?« Er deutete über die Straße. »Und Luca?«
»Die Corleones laufen bei der Parade mit. Wir passen auf, dass es keinen Ärger gibt.«
»Wo sind sie?« Cork ließ den Blick über die Straße schweifen. »Ich seh sie nirgends.«
»Sie sind noch ein Stück zurück«, sagte Angelo. »Los, komm. Willst du uns begleiten?«
»Nee«, sagte Cork. Er hatte zwei von Lucas Leuten entdeckt, Tony Coli und Paulie Attardi, die sich unter die Zuschauer gemischt hatten. Tony hinkte, seit ihm Willie O’Rourke ins Bein geschossen hatte. »Treibt sich Lucas ganze Gang hier herum?«
»Yeah«, erwiderte Angelo. »Luca und seine Jungs, ich und Vinnie und Richie Gatto.«
»Wo ist Nico?«, wollte Cork wissen. »Oder sind Griechen hier nicht erwünscht?«
»Das weißt du noch nicht? Die Corleones haben ihm einen Job im Hafen besorgt.«
»Ach ja, ich hab’s vergessen. Die Italiener möchten unter sich bleiben.«
»Nee, so sind sie nicht.« Angelo schien darüber nachzudenken. »Tom Hagen ist auch kein Italiener.«
»Darüber hab ich mich schon oft gewundert. Irgendwie ergibt das keinen Sinn.«
»Vergiss es«, sagte Angelo. »Komm doch einfach mit. Sonny freut sich bestimmt, dich zu sehen. Du weißt, dass es ihm gestunken hat, wie alles gelaufen ist.«
»Nee.« Cork trat einen Schritt von Angelo weg. »Ich hab noch was für Eileen zu erledigen. Ich arbeite jetzt für sie. Außerdem hab ich nicht den Eindruck, als bräuchtet ihr noch mehr Leute.« Er deutete zu Luca hinüber. »Himmel, der ist ja noch hässlicher geworden.«
»Yeah«, sagte Angelo. »Und allzu gut riechen tut er auch nicht.«
Cork schaute ein letztes Mal den Broadway hinauf und hinab. Aber er sah nur einen Haufen Leute, die sich die Parade anschauten, und Luca und seine Jungs, die die Leute beobachteten. »Na gut«, sagte er und versetzte Angelo einen Schubs. »Richte Sonny aus, dass ich mich bald mal melde.«
»Ist gut«, erwiderte Angelo. »Ich werd’s ihm sagen. Ach ja, ich soll dich auch von Vinnie grüßen. Ich hab das Gefühl, die Pappnase vermisst es, mit dir rumzuhängen.« Verlegen streckte er die Hand aus.
Cork schüttelte sie, schlug ihm auf die Schulter und machte sich dann auf den Weg zu Gimbels. Jemand hatte eine Daily News fallen lassen, und er bückte sich, um sie aufzuheben, als der Wind die Seiten umblätterte. Cork blickte zu den Wolken empor – plötzlich sah es nach Regen aus – und dann wieder auf die Zeitung und ein Bild der zehnjährigen Gloria Vanderbilt unter der Schlagzeile »Arme kleine Gloria«. Als er an der Ecke zur 32. Straße einen Papierkorb entdeckte, ging er darauf zu und blieb abrupt stehen, denn er sah Pete Murray hinter dem Steuer eines schwarzen, viertürigen Chrysler sitzen, neben ihm Rick Donnelly sowie Billy Donnelly auf der Rückbank. Der Wagen stand ein Stück die Straße hinunter am Bordstein. Statt die Zeitung wegzuwerfen, hielt er sie sich vors Gesicht und trat rückwärts in den Eingang eines Spielzeugladens. Pete und die Donnellys trugen Trenchcoats, und kaum hatte er sie bemerkt, fiel ihm die Drohung der alten Mrs. O’Rourke wieder ein, und zwar so deutlich, als hätte sie ihm jemand gerade ins Ohr geschrien: Die können sich auf eine nette irische Überraschung gefasst machen. Cork beobachtete den Wagen aus dem Ladeneingang heraus, und schließlich stiegen die Männer aus, jeder einen Arm unter dem Mantel. Er wartete, bis er die Ecke 31. Straße hinter sich hatte und der Chrysler außer Sichtweite war, und begann dann zu rennen.
Zwei Straßen weiter entdeckte er in der Mitte der Avenue Sonny und seine Familie. Vito Corleone hatte Connie auf dem Arm und marschierte zwischen seiner Frau und seinem Sohn Michael, dicht gefolgt von Sonny und Tom, die miteinander plauderten, als würden sie gar nicht bemerken, was um sie herum vor sich ging. Als Cork sie sah, stürzte er auf die Straße, aber er kam nicht weit, bevor er in Luca Brasi hineinrannte und von ihm abprallte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Luca blickte ihm in die Augen und riss dann den Kopf herum, als Sean O’Rourke über eine der gelben Straßensperren sprang und seinen Namen rief.
»Luca Brasi!« Sean setzte wie ein Hürdenläufer über die Barrikade hinweg, in der ausgestreckten Hand eine schwarze Pistole von der Größe einer kleinen Kanone. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, und kaum berührten seine Füße den Boden, fing er auch schon an, wild herumzuballern. Überall um ihn her stoben die Menschen auseinander. Frauen rissen ihre Kinder an sich und rannten schreiend davon. Lucas Männer gingen in die Hocke und zogen Pistolen unter ihren Jacketts hervor, während Sean unvermittelt in der Mitte der Straße stehen blieb und sorgfältig auf Luca zielte. Brasi war bestimmt keine zwei Meter von Sean entfernt, und trotzdem hielt Sean seine Pistole mit beiden Händen und schien tief Luft zu holen, als würde er genauen Instruktionen folgen, wie man zielte und feuerte. Als er dann abdrückte, traf er Luca direkt über dem Herzen in die Brust, und Lucas massiger Körper wurde nach hinten geschleudert und ging wie ein gefällter Baum zu Boden. Sein Kopf kollidierte mit einer Straßensperre, riss sie um und krachte gegen einen Bordstein. Er zuckte noch einmal und blieb dann reglos liegen.
Sean behielt Luca die ganze Zeit über in den Augen und schritt mit erhobener Waffe auf ihn zu, als befände er sich allein mit ihm in einem Zimmer und nicht mitten auf einer belebten Straße. Als ihn die erste Kugel in der Brust traf, wirbelte er völlig überrascht herum. Er sah aus, als erwache er aus einem Traum – und dann traf ihn die nächste Kugel am Kopf, und mit dem Traum war es vorbei. Er brach zusammen, und das schwarze Ungeheuer von einer Pistole fiel ihm aus der Hand.
Cork kauerte immer noch am Straßenrand, als Sean zu Boden ging – und von einem Moment auf den nächsten hatte er plötzlich das Gefühl, mitten in einem Kugelhagel zu stehen. Schüsse krachten, Menschen kreischten hysterisch und fielen wie Regentropfen auf das Pflaster. Schreiende Zuschauer flohen in alle Richtungen, manche krabbelten auf allen vieren, andere krochen über den Boden wie Schlangen, und wieder andere suchten in Hauseingängen und Geschäften Schutz.
Cork stürzte in Deckung, und kaum hatte er es in einen Ladeneingang geschafft, zerbarst die Schaufensterscheibe neben ihm. Überall um ihn herum schien ein Feuerwerk abgebrannt zu werden. Sean O’Rourke lag tot auf der Straße – die Kugel hatte ihm den halben Kopf weggerissen. Lucas Leute kauerten über ihm und schossen um sich. Vito Corleone hatte sich über seine Frau geworfen, die Connie und Michael umklammert hielt. Vito brüllte irgendetwas, während er seine Familie abzuschirmen versuchte, den Kopf wie eine Schildkröte erhoben. Er schien Sonny etwas zuzuschreien, der Tom gepackt hatte und nach unten drückte, während er mit der freien Hand eine Pistole schwang und auf jemanden schoss. Cork schaute in die Richtung, in die Sonny feuerte, und entdeckte einen Eingang mit zerbrochener Scheibe, dann tauchte Corr Gibson darin auf, in jeder Hand eine Pistole, die weiße Flammen spie. Tony Coli feuerte mehrmals auf Gibson und stürzte dann vornüber, während seine Pistole über die Straße schlidderte.
Für einen kurzen Augenblick herrschte fast völlige Stille, und außer Männerstimmen, die einander etwas zuriefen, war nichts mehr zu hören. Richie Gatto tauchte plötzlich auf der Straße auf und warf Vito eine Pistole zu, der sie genau in dem Moment fing, als die Schießerei wieder losging. Cork wandte sich um und sah die Donnellys und Pete Murray nebeneinander die Straße entlang auf die Corleones zurennen. Pete Murray in der Mitte schwang eine MP, die Donnellys hatten Pistolen. Sie bewegten sich im Schutz konzentrierten Sperrfeuers vorwärts, und Richie Gatto ging direkt vor Vito zu Boden. Vito fing ihn auf, so dass er ihm und seiner Familie Deckung bot. Vito zielte sorgfältig und drückte ab, und Pete Murrays Beine knickten weg; seine MP segelte durch die Luft, und mehrere verirrte Kugeln schlugen in umliegenden Fenstern ein. Vito kniete sich vor seine Frau auf ein Knie und feuerte einen Schuss nach dem anderen ab, so dass der Eindruck entstand, er wäre der Einzige, der sich mit Bedacht und Präzision bewegte, während überall um ihn herum völliges Chaos herrschte.
Sonny schleifte Tom zu Carmella, der es gelang, ihn mit der freien Hand zu sich herabzuziehen. Tom schlang die Arme um sie und Michael, während Connie, die zwischen ihnen lag, leise wimmerte. Sonny schnappte sich Gattos Pistole, richtete sich hinter seinem Vater auf und ballerte, in deutlichem Kontrast zu den bedächtigen Schüssen seines Vaters, wild drauflos.
All das geschah innerhalb weniger Sekunden – bis eine ganze Armee von Polizisten auftauchte. Grün-weiße Streifenwagen kamen mit quietschenden Reifen aus den Nebenstraßen gerast. Die Donnellys feuerten noch immer, und auch Corr Gibson gab aus der Deckung des Ladeneingangs heraus einzelne Schüsse ab. Von Lucas Gang erwiderten JoJo, Paulie und Vinnie das Feuer. Die Romero-Brüder lagen Seite an Seite in der Nähe des Bordsteins auf dem Bauch und schossen auf die Donnellys, die beide in Ladengeschäften Deckung suchten. Die Polizisten blieben im Schutz ihrer Wagen und riefen lauthals Befehle. Auf dem Gehsteig setzte sich Luca Brasi langsam auf und rieb sich den Hinterkopf. Cork hatte den Eindruck, die Schießerei könne nicht mehr lange andauern – überall heulten Einsatzhörner, und immer mehr Streifenwagen trafen ein und blockierten die Avenue. Sonny und seine Familie schienen unversehrt, und als Cork das dachte, sah er Stevie Dwyer hinter Sonny und Vito aus einem Hauseingang treten. Alle Aufmerksamkeit war auf Gibson und die Donnellys gerichtet, und so konnte Stevie unbehelligt auf die Straße laufen und auf Vito zustürmen – eine Pistole in der Hand.
Cork sprang auf den Gehsteig und rief Sonnys Namen. Er hätte »Achtung, hinter dir!« oder »Stevie ist hinter dir!« schreien sollen, aber das fiel ihm zu spät ein.
Sonny wandte sich um und entdeckte Cork, während Stevie im selben Augenblick die Pistole hob und auf Vito zielte.
Cork war sich nur allzu bewusst, dass er völlig ungeschützt dastand, während es immer noch Kugeln hagelte. Jede Faser seines Körpers drängte ihn, wegzurennen und sich zu verstecken. Aber Stevie Dwyer stand, weniger als eine Autolänge entfernt, mit erhobener Pistole hinter Vito, und er würde Sonnys Vater jeden Moment erschießen, also riss Cork die Pistole aus der Tasche, zielte, so gut er es vermochte, und drückte ab – nur Sekundenbruchteile, bevor Stevie auf Vito feuerte.
Corks Schuss verfehlte Stevie und traf Vito in der Schulter. Als Cork begriff, was er getan hatte, fiel ihm die Pistole aus der Hand, und er taumelte nach hinten, als wäre er selbst getroffen worden.
Vito stürzte zu Boden, und Stevies Schuss verfehlte ihn.
Luca Brasi feuerte, von den Toten auferstanden, auf Stevie und erwischte ihn am Kopf – und dann brach wieder überall Chaos aus, alles rannte und schoss, Cork presste sich gegen eine Backsteinmauer, und die Donnellys und Corr Gibson und alle anderen lieferten sich einen erbitterten Schusswechsel.
In dem allgemeinen Durcheinander war Corks einziger Gedanke, dass er Sonny erklären musste, was vorgefallen war, dass er auf Stevie gezielt und Vito aus Versehen getroffen hatte – aber Sonny kümmerte sich mitten in dem Gedränge um Vito.
Cork rief nach Vinnie und Angelo. Er streckte den Kopf aus seinem Versteck und winkte, sie sollten zu ihm kommen. Die Zwillinge wandten sich von den Donnellys ab und schauten unsicher zu ihm herüber. Sie schienen sich zu streiten, dann sprang Vinnie auf und stürzte zum Gehsteig – und kaum stand er aufrecht, wurde er an Hals und Stirn getroffen, und sein Kopf verwandelte sich in eine Wolke aus Blut. Er taumelte noch einen Schritt weiter und schlug dann lang hin, wie ein Gebäude, das implodiert. Cork blickte von Vinnie zu Angelo, der seinen Bruder entsetzt anstarrte. Auf der Straße hinter Cork hievte Luca Brasi sich Vito auf die Schulter und trug ihn in Sicherheit, während Vito die Hände nach seiner Familie ausstreckte, die noch immer auf dem Boden kauerte. Dann schien allen gleichzeitig bewusst zu werden, dass Gibson und die Donnellys sie nicht mehr unter Beschuss nahmen und dass die Ladengeschäfte und Hauseingänge, in denen sie Deckung gesucht hatten, leer waren. Als JoJo, Vinnie und Paulie begriffen, dass ihre Gegner flüchteten, jagten sie ihnen nach, und einen Moment lang herrschte erneut Ruhe auf der Straße. Richie Gatto, Tony Coli und Vinnie Romero lagen tot auf dem Pflaster, Pete Murray, Stevie Dwyer und Sean O’Rourke ebenso. Cork ließ den Blick über die leblosen Körper schweifen und entdeckte noch weitere Leichen, Zuschauer vermutlich, Leute, die von der Arbeit gekommen oder Besorgungen gemacht hatten und nun beides nie wieder tun würden. Mittendrin lag die Leiche eines Kindes – ein dunkelhaariger Junge, etwa im gleichen Alter wie Caitlin.
Plötzlich schien sich alle Aufmerksamkeit auf das Kind zu richten. Cork hatte den Eindruck, dass alle den kleinen Leichnam anstarrten, der, mit einem Arm im Rinnstein, auf dem Gehsteig lag. Noch immer riefen Männer laut hin und her, in erster Linie die Polizisten, die überall herumschwärmten, aber auf der Straße schien es auf einmal still zu sein. Cork drehte sich um und blickte in den Laden, vor dem er stand, ein Bekleidungsgeschäft für Frauen. Ein Dutzend Menschen kauerte in den Ecken und hatte sich hinter Türen und Tresen versteckt. Nach und nach standen sie jetzt auf und kamen auf ihn und das zerbrochene Fenster zu, um sich das Durcheinander anzuschauen. Als Cork sich wieder der Straße zuwandte, sah er, dass sich die Bullen über die ganze Straße verteilten, Befehle bellten und jeden festnahmen, dessen sie habhaft werden konnten. Sonny, die Arme hinter dem Rücken in Handschellen, erwiderte Corks Blick, genauso wie Angelo, der von zwei stämmigen Polizisten festgehalten wurde. Als zwei Uniformen sich dem Laden näherten, mischte sich Cork unter die Menge, eilte ins Hinterzimmer und gelangte durch einen Ausgang auf eine Gasse hinaus. Eine ganze Weile stand er zwischen den Mülleimern und anderem Gerümpel. Doch ihm wollte nichts einfallen, was er hier noch hätte tun sollen, und so machte er sich auf den Weg zurück in das Kaufhaus und die unterirdischen Tunnel, durch die er zu seinem Wagen gelangen würde.