Sonny drückte eine Tür auf und steckte den Kopf in den dunklen Raum. Er befand sich in dem künftigen Zuhause der Corleones auf Long Island, auf dem eingefriedeten Anwesen, wo im Moment, obwohl es spät abends war, reges Treiben herrschte und sich Autos und Männer von Haus zu Haus bewegten. Scheinwerfer blendeten auf, in jedem Zimmer brannte Licht, und auch die Gärten und Mauern waren hell erleuchtet – man hätte meinen können, sie wollten es mit dem Rockefeller Center aufnehmen. Clemenza hatte ihm gesagt, sein Vater wolle ihn sehen, und so war er im Haus seines Vaters von Tür zu Tür gegangen, bis er das einzige Zimmer gefunden hatte, in dem kein Licht brannte. »Pa?«, sagte er und machte einen zögerlichen Schritt in das Halbdunkel hinein. Sein Vater zeichnete sich schemenhaft vor dem Fenster ab, das auf den Garten hinausging. »Soll ich das Licht einschalten?«
Die Silhouette schüttelte den Kopf und trat vom Fenster zurück. »Mach die Tür zu«, sagte sie mit einer Stimme, die von weither zu kommen schien.
»Clemenza hat gesagt, du willst mich sprechen.« Sonny schloss die Tür und schritt durch das Halbdunkel auf seinen Vater zu, der mit seinem unverletzten Arm zwei Stühle heranzog.
»Setz dich.« Vito nahm Platz und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. »Ich möchte unter vier Augen mit dir reden.«
»Klar doch.« Sonny setzte sich, faltete die Hände im Schoß und wartete.
»Clemenza«, sagte Vito, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, »kommt auch gleich, aber ich wollte erst mit dir sprechen.« Er beugte sich vor, ließ den Kopf hängen und strich sich mit den Fingern seiner rechten Hand durchs Haar.
So hatte Sonny seinen Vater noch nie gesehen, und am liebsten hätte er ihm, um ihn zu trösten, die Hand aufs Knie gelegt. Aber er hielt sich zurück. Später sollte er sich noch oft an diesen Augenblick erinnern, wie er und sein Vater in dem unmöblierten Zimmer gesessen hatten.
»Santino«, sagte Vito und richtete sich auf. »Ich möchte dir eine Frage stellen, und du sollst dir die Antwort gut überlegen: Warum, meinst du, ist Emilio zu uns gekommen? Warum verrät er Giuseppe Mariposa?«
Sonny sah Vito an, dass er hoffte, sein Sohn würde die richtige Antwort finden, also grübelte er lange nach – aber ihm wollte nichts einfallen, so als weigerte sich sein Gehirn, ernsthaft darüber nachzudenken. »Ich weiß es nicht, Pa«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich sollten wir ihn beim Wort nehmen: Er hat eingesehen, dass du ein besserer Anführer sein wirst als Mariposa.«
Vito schüttelte den Kopf, und das hoffnungsvolle Funkeln in seinen Augen erlosch. Trotzdem betrachtete er seinen Sohn weiterhin mit einem gewissen Wohlwollen. »Nein«, sagte er und legte Sonny die Hand aufs Knie – genau die Geste, die sich Sonny eben verkniffen hatte. »Einen Mann wie Emilio Barzini darf man nie beim Wort nehmen. Um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, muss man sich genau überlegen, mit wem man es zu tun hat und unter welchen Umständen.« Sein Griff wurde fester. »Du musst ebenso auf dein Herz hören wie auf deinen Verstand. So ist das in einer Welt, in der die Menschen wie selbstverständlich lügen – und eine andere Welt gibt es nicht, Santino, zumindest nicht hier auf Erden.«
»Warum dann?«, fragte Sonny, und es war ihm anzuhören, dass er entmutigt war. »Wenn wir ihm nicht glauben können, warum dann?«
»Weil Emilio die Schießerei auf der Parade geplant hat.« Vito hielt inne und sah Sonny an, und dabei bot er genau das Bild dessen, was er war: ein Vater, der seinem Sohn etwas erklärte. »Allerdings hat er nicht vorausgesehen, dass es zu einem solchen Blutbad kommen könnte, und das war sein Fehler. Aber die Idee stammt von Emilio, da kannst du dir sicher sein. Mariposa ist nicht klug genug, um sich so etwas auszudenken. Wenn alles nach Plan verlaufen und ich und Luca Brasi getötet worden wären – und du, Sonny, denn auch das war ihr Ziel –, dann hätten sie den verrückten Iren die ganze Schuld in die Schuhe schieben können, denn jeder weiß, dass kein Italiener jemals Frauen und Kinder in Gefahr bringen würde. Die Familie eines Mannes ist unantastbar – dafür bürgen wir mit unserer Ehre. Wenn die anderen Familien ebenfalls geglaubt hätten, dass die Iren dahintersteckten, wäre der Krieg vorbei gewesen, und Giuseppe hätte bald alle Macht an sich reißen können, mit Emilio als seine rechte Hand.« Vito stand auf, ging zum Fenster hinüber und schaute in den Garten, wo noch immer reges Treiben herrschte. Unwillig schob er sich die Schlinge über den Kopf und warf sie beiseite. Dann ballte er die linke Hand zur Faust und öffnete sie wieder, nicht ohne das Gesicht zu verziehen. »In den Zeitungen ist bereits von einer Blutfehde unter den Iren die Rede, von einer Bande tollwütiger Katholiken. Hinter diesen Geschichten stecken Zeitungsleute, die von Mariposa bezahlt werden. Aber nachdem jetzt alles so entsetzlich schiefgegangen ist, hat Emilio Angst.« Vito setzte sich wieder Sonny gegenüber und beugte sich vor. »Er wusste, dass ich, sollte ich überleben, sofort begreifen würde, dass Mariposas Familie hinter dem Massaker steckt. Jetzt befürchtet er, dass sich alle anderen Familien gegen ihn und Giuseppe stellen werden. Ihr Anschlag auf Clemenza und Genco im Angelo’s ist misslungen, und Capones Leute sind gar nicht erst zu mir vorgedrungen … Und all das so bald nachdem wir übereingekommen waren, seine Steuer zu bezahlen … Giuseppes Wort ist nichts mehr wert, und jetzt hat er gezeigt, dass er besiegt werden kann. Emilio setzt auf uns, weil das seine beste Chance ist. Deshalb hat er sein Leben riskiert, um mit seinem Vorschlag zu uns zu kommen. Und was am wichtigsten ist – deshalb können wir ihm jetzt auch vertrauen.«
»Wenn er vorhatte, uns umzubringen, warum läuft er dann noch lebend herum?« Sonny wusste, dass er seinen Zorn bändigen und genauso vernünftig sein sollte wie sein Vater, aber er konnte sich einfach nicht beherrschen. Bei der Vorstellung, dass Emilio geplant hatte, ihn und seine Familie zu ermorden, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt, und sein einziger Gedanke, wenn es denn ein Gedanke genannt werden konnte, war, sich zu rächen.
»Denk nach, Sonny, bitte«, sagte sein Vater. »Streng deine grauen Zellen an.« Er packte Sonnys Kopf, schüttelte ihn und ließ ihn dann wieder los. »Was hätten wir davon, wenn Emilio Barzini tot wäre? Dann hätten wir Carmine Barzini und die Rosato-Brüder gegen uns – und Mariposa.« Als Sonny schwieg, fuhr Vito fort: »Wenn Emilio am Leben bleibt und Mariposa tot ist, können wir sein Revier unter uns aufteilen – und dann wird es nur noch fünf Familien geben, und wir werden die stärkste von ihnen sein. Das ist unser Ziel. Darauf müssen wir uns konzentrieren – Emilio ist dabei nur bedingt von Bedeutung.«
»Verzeih mir, Pa«, sagte Sonny, »aber wenn wir alle Familien erledigen würden, würde uns alles gehören.«
»Du sollst nachdenken«, sagte Vito. »Selbst wenn wir einen solchen Krieg gewinnen könnten, was wäre dann? Die Zeitungen würden uns als Ungeheuer hinstellen. Die Verwandten der Männer, die wir getötet hätten, wären unsere erbitterten Feinde.« Vito legte Sonny die Hände auf die Schultern und sah ihn an. »Santino, Sizilianer vergessen nie, und sie verzeihen auch nie. Das musst du immer im Gedächtnis behalten. Ich möchte diesen Krieg gewinnen, damit hinterher lange Frieden herrscht, und ich möchte im Bett sterben, im Kreis meiner Familie. Ich möchte, dass Michael und Fredo und Tom angesehene Geschäftsleute werden, damit sie ihren Reichtum genießen können – und im Unterschied zu mir und jetzt auch dir werden sie sich nicht immer darum sorgen müssen, wer sie als Nächstes umbringen möchte. Hast du das verstanden? Hast du verstanden, was ich mir für meine Familie wünsche?«
»Ja, Pa, das habe ich verstanden.«
»Gut.« Vito strich seinem Sohn ein paar Strähnen aus der Stirn. Als hinter ihnen die Tür aufging, berührte Vito Sonny an der Schulter und deutete zum Lichtschalter hinüber.
Sonny drehte das Licht an, und Clemenza betrat das Zimmer.
Zu Sonny sagte Vito: »In den nächsten Tagen wird es viel zu tun geben. Wir müssen uns vorsehen, dass niemand uns verrät.« Er zögerte, als könnte er sich nicht entscheiden, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. »Ich lasse euch jetzt allein«, fuhr er schließlich fort und wandte den Blick ab – fast, als hätte er Angst, Sonny in die Augen zu schauen. »Verrat«, flüsterte er wie zu sich selbst und hob dann warnend den Finger. »Hör auf Clemenza«, befahl er seinem Sohn und ging hinaus.
»Was ist denn los?«, wollte Sonny wissen.
»Aspett’«, sagte Clemenza und schloss leise die Tür hinter Vito, als wollte er jedes Geräusch vermeiden. »Setz dich.« Er deutete auf die beiden Stühle, wo Sonny gerade noch mit seinem Vater gesessen hatte.
»Klar.« Sonny nahm Platz, schlug die Beine übereinander und machte es sich bequem. »Worum geht’s denn?«
Clemenza trug wie stets einen weiten, zerknitterten Anzug mit einer gelben Krawatte, die so sauber und frisch gebügelt war, dass sie neu sein musste. Er ließ sich gegenüber von Sonny auf den Stuhl fallen, sichtlich froh, seine Füße etwas schonen zu können, und nahm aus der einen Jacketttasche eine schwarze Pistole und aus der anderen einen silberglänzenden Schalldämpfer. »Du weißt, was das ist?«
Sonny zog eine Augenbraue hoch. Natürlich wusste er, was ein Schalldämpfer war. »Was soll das alles?«
»Eigentlich mag ich keine Schalldämpfer«, sagte Clemenza, und während er redete, schraubte er die schwere Metallröhre auf den Lauf der Pistole. »Mir sind große, laute Knarren lieber. Jagt den Leuten Angst ein. Kommt keiner so schnell auf dumme Gedanken. Ein lauter Knall, und alles rennt auseinander. Und du kannst dich verdrücken.«
Sonny lachte und faltete die Hände im Nacken. Er lehnte sich zurück und wartete, bis Clemenza ihm erklärte, was er von ihm wollte.
Clemenza fummelte an dem Schalldämpfer herum – irgendetwas bereitete ihm dabei Schwierigkeiten. »Es geht um Bobby Corcoran«, sagte er schließlich.
»Ah.« Sonny blickte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, als würde er nach etwas suchen, das er, wie ihm gerade eingefallen war, verloren hatte. »Das begreife ich einfach nicht«, sagte er und wandte sich wieder Clemenza zu – und sein Tonfall ließ es wie eine Frage klingen.
»Was gibt’s da nicht zu begreifen?«, wollte Clemenza wissen.
»Ich weiß einfach nicht, was zum Teufel ich denken soll, Onkel Pete.« Sonny war es sofort peinlich, dass er Clemenza so angeredet hatte wie in seiner Kindheit, und er versuchte den Augenblick zu überspielen, indem er rasch weitersprach. »Ich weiß, dass Bobby auf Pa geschossen hat. Ich hab das genauso gesehen wie alle anderen, aber …«
»Aber du kannst es nicht glauben«, sagte Clemenza, als wüsste er, was Sonny dachte.
»Yeah«, sagte Sonny. »Es ist …« Er wandte wieder den Blick ab – er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Hör zu, Sonny.« Clemenza machte sich wieder an der Pistole zu schaffen, drehte den Schalldämpfer in beide Richtungen, um sich zu vergewissern, dass alles passte. »Ich weiß, dass du mit Bobby aufgewachsen bist, dass du ihn schon dein ganzes Leben lang kennst …« Er hielt inne und nickte, als hätte er sich selbst gerade etwas zu seiner Zufriedenheit erklärt. »Aber Bobby Corcoran muss weg«, fuhr er fort. »Er hat auf deinen Vater geschossen.« Er drehte ein letztes Mal an dem Schalldämpfer, bis er fest auf dem Lauf saß, und reichte Sonny die Pistole.
Sonny nahm sie entgegen und ließ sie in den Schoß fallen, als wollte er sie nicht zu lange in der Hand halten. »Bobbys Eltern«, sagte er leise, »sind beide an der Grippe gestorben, als er noch klein war.«
Clemenza nickte schweigend.
»Seine Schwester und ihre Tochter sind alles, was er hat. Und Bobby, er ist alles, was sie haben.«
Wieder blieb ihm Clemenza eine Antwort schuldig.
»Bobbys Schwester Eileen«, fuhr Sonny fort, »ihr Mann Jimmy Gibson wurde bei einem Streik von einem von Mariposas Schlägern getötet.«
»Wer soll ihn umgebracht haben?«, fragte Clemenza.
»Einer von Mariposas Schlägern.«
»Ja, das hab ich gehört.«
»Aber nur, weil bestimmte Leute wollten, dass du das hörst.«
»Weißt du es besser?«
»Es hatte tatsächlich etwas mit den Gewerkschaften zu tun. Aber wir wissen auch, was wirklich passiert ist.« Clemenza seufzte und blickte zur Decke, wo ein Lichtstrahl, der durch das Fenster hereinfiel, sich von rechts nach links bewegte. »Pete Murray hat Jimmy Gibson ermordet. Er hat ihn mit einem Bleirohr erschlagen. Zwischen den beiden gab es aus irgendeinem Grund böses Blut – warum genau, hab ich vergessen –, aber Pete wollte nicht, dass sich herumspricht, dass er einen von seinen eigenen Leuten kaltgemacht hat, also hat er mit Mariposa etwas ausgehandelt. Pete Murray steht schon seit einer Ewigkeit bei Mariposa auf der Gehaltsliste. Deshalb ist es Giuseppe auch gelungen, die Iren kleinzuhalten.«
»Himmel!« Sonny betrachtete die Pistole in seinem Schoß.
»Hör zu«, sagte Clemenza und legte Sonny, wie Vito eben schon, die Hand aufs Knie. »Das ist ein hartes Geschäft. Die Cops, die Armee …« Er schien nach Worten zu suchen. »Zieh jemand eine Uniform an und sag ihm, er soll diesen fremden Kerl töten, weil er zu den Bösen gehört – da kann jeder abdrücken. Aber in unserem Geschäft muss man manchmal Leute töten, mit denen man vielleicht sogar befreundet war.« Er hielt inne und zuckte mit den Schultern, als würde er selbst einen Moment darüber nachdenken. »So läuft das eben. Manchmal liebt man jemand und muss es trotzdem tun.« Er griff nach der Pistole und drückte sie Sonny in die Hand. »Zeit, dass du dir deine Sporen verdienst. Bobby Corcoran muss weg, und du musst es tun. Er hat auf deinen Vater geschossen, Sonny. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Er muss weg, und du musst es tun.«
Sonny ließ die Pistole wieder in seinen Schoß fallen und betrachtete sie, als wüsste er nichts damit anzufangen. Schließlich nahm er sie in die Hand und staunte über ihr Gewicht. Er starrte sie noch immer an, als er die Tür gehen hörte, und da wurde ihm bewusst, dass Clemenza das Zimmer verlassen hatte. Er schüttelte den Kopf – was da gerade passierte, ging über sein Fassungsvermögen. Aber die Pistole war da, lag fest und schwer in seiner Hand. In der plötzlichen Stille schloss er die Finger um den Griff. In einer Abfolge von Bewegungen, die auf geradezu unheimliche Weise der Gestik seines Vaters glich, beugte er sich vor, ließ den Kopf hängen und strich sich mit der freien Hand durchs Haar. Dann umfasste er den Kopf mit den Händen, der Griff der Pistole kühl an seiner Schläfe. Sein Zeigefinger berührte den Abzug, und so saß er lange reglos da.
Als Fredo aufwachte, war es stockdunkel. Er hatte den Kopf in den Kissen vergraben und die Knie bis an die Brust hochgezogen. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er war, dann fiel ihm wieder ein, was am gestrigen Tag geschehen war. Er wusste, dass er in seinem Bett lag, und er erinnerte sich an die Parade und daran, dass auf seinen Vater geschossen worden war. Aber es ging ihm gut – Fredo hatte ihn gesehen. Mama hatte ihn und Michael einen kurzen Blick ins Arbeitszimmer werfen lassen, bevor sie ihre beiden jüngsten Söhne auf ihr Zimmer geschickt hatte, fort von der ganzen Unruhe, die im Haus herrschte. Papas Arm hatte in einer Schlinge gelegen, aber er sah okay aus – und was sonst noch passiert war, darüber hatte niemand mit ihm reden wollen. Er hatte versucht, an der Tür zu lauschen, aber Mama war bei ihnen gewesen, und so hatten sie beide, er und Michael, Schulaufgaben machen müssen und nichts von dem mitbekommen, was draußen los war. Sie durften nicht einmal das Radio anmachen, und Mama wollte auch nicht, dass Michael darüber redete, dann war er eingeschlafen. Trotzdem, er wusste, dass auf der Parade geschossen und Papa an der Schulter getroffen worden war. Während er im Bett lag und die Ereignisse des Tages vorüberziehen ließ, wurde Fredo wütend, weil er alles verpasst hatte. Wenn er dabei gewesen wäre, hätte er seinen Vater vielleicht beschützen können. Er hätte sich über seinen Vater werfen oder ihn beiseitestoßen können, dann hätte die Kugel ihn bestimmt verfehlt. Wenn er doch nur dabei gewesen wäre! Er hätte seinem Vater und allen anderen gezeigt, dass er kein kleiner Junge mehr war. Und wenn es ihm gelungen wäre, seinen Vater zu retten, hätten das alle begriffen. Er war jetzt fünfzehn. Er war kein Kind mehr.
Schließlich drehte er sich um und hob, noch ganz schläfrig, den Kopf aus den Kissen. Auf der anderen Seite des Zimmers hatte Michael die Decke wie ein Zelt über die Knie gezogen, und unter den Rändern schimmerte Licht hervor. »Michael, was machst du da?«, flüsterte Fredo. »Liest du wieder?«
»Yeah«, erwiderte Michael mit gedämpfter Stimme und hob den Kopf. »Ich hab unten eine Zeitung gemopst«, sagte er und zeigte Fredo den Mirror. Auf der Titelseite war das Foto eines Jungen abgebildet, der auf dem Gehsteig lag, den Arm über dem Bordstein, und darüber prangte eine riesige Schlagzeile: »Bandenmassaker!«
»Heiliger Bimbam!« Fredo sprang aus dem Bett und rannte zu Michael hinüber. »Was steht da?« Er riss Michael die Zeitung und die Taschenlampe aus der Hand.
»Da steht, dass Papa ein Gangster ist. Ein hohes Tier bei der Mafia.«
Fredo blätterte um und entdeckte ein Bild, das zeigte, wie sein Vater in einen Gefangenenwagen geschoben wurde. »Papa hat gesagt, so was wie die Mafia gibt es gar nicht.« Dann entdeckte Fredo ein Bild von Richie Gatto, der mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache lag, die Arme und Beine verdreht. »Das ist Richie«, sagte er leise.
»Yeah«, erwiderte Michael. »Richie ist tot.«
»Richie ist tot? Hast du gesehen, wie er erschossen wurde?« Dann ging die Zimmertür auf, und er ließ die Zeitung fallen.
»Was macht ihr beiden da?«, wollte Carmella wissen. Sie trug einen blauen Morgenmantel über einem weißen Nachthemd, und das Haar fiel ihr offen über die Schultern. »Woher habt ihr das?« Sie hob die Zeitung auf, legte sie zusammen und drückte sie sich an die Brust, als wollte sie sie verstecken.
»Michael hat sie unten gemopst«, sagte Fredo.
Michael warf ihm einen wütenden Blick zu, sah dann seine Mutter an und nickte.
»Habt ihr sie gelesen?«, fragte sie.
»Michael schon«, erwiderte Fredo. »Ist Richie wirklich tot?«
Carmella bekreuzigte sich schweigend, doch ihr Gesichtsausdruck und die Tränen, die ihr in die Augen traten, sprachen eine deutliche Sprache.
»Aber Papa geht es gut, oder?«, fragte Fredo.
»Habt ihr ihn nicht selbst gesehen?« Carmella stopfte die Zeitung in die Tasche ihres Morgenmantels, nahm Fredo am Arm und führte ihn zu seinem Bett hinüber. Zu Michael sagte sie: »Du kannst nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.«
»Sie behaupten, Papa sei ein hohes Tier bei der Mafia. Stimmt das?«
»Die Mafia!« Carmella zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger. »Für die ist jeder Italiener bei der Mafia. Würde dein Vater Kongressabgeordnete kennen, wenn er bei der Mafia wäre?«
Michael strich sich das Haar aus der Stirn und schien darüber nachzudenken. »Ich werde mein Referat nicht über den Kongress schreiben«, sagte er. »Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Michael, was redest du da? Die ganze Arbeit, die du schon gemacht hast!«
»Ich suche mir ein anderes Thema.« Michael ließ sich auf das Bett zurücksinken und zog sich die Decke über den Kopf.
Carmella trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, als wäre sie enttäuscht. Dann wischte sie sich Tränen aus den Augen. »Wenn ich von euch noch ein Piep höre, hole ich euren Vater«, sagte sie, aber es klang halbherzig.
Als sie hinausging und die Tür hinter sich schloss, wartete Tom am oberen Treppenabsatz. »Madon’!«, sagte sie und trat zu ihm. »Schläft heute Nacht denn niemand?«
Tom setzte sich auf die oberste Treppenstufe, und Carmella tat es ihm gleich. »Sind die beiden arg durcheinander?«, fragte er.
»Sie wissen, dass Richie tot ist«, erwiderte sie, kramte den Mirror aus der Tasche ihres Morgenmantels und betrachtete das Bild des toten Kindes.
Tom nahm ihr die Zeitung aus der Hand. »Ich sollte auf Long Island sein, bei den anderen Männern.« Er rollte die Zeitung zusammen und klopfte damit auf den Rand einer Stufe. »Aber stattdessen muss ich zusammen mit den Kindern hierbleiben.«
»Per caritá!«, sagte Carmella. »Gott behüte, dass du auch da draußen bist.«
»Sonny ist dort«, sagte Tom, und Carmella wandte sich von ihm ab. »Sonny hat mich nicht kämpfen lassen«, fuhr er fort, seine Stimme fast ein Flüstern. Er klang, als würde er mit sich selbst reden. »Er hat mich wie einen kleinen Jungen zu Boden gedrückt.«
»Sonny hat auf dich aufgepasst.« Carmellas Blick ging in die Ferne. »Sonny hat immer auf dich aufgepasst.«
»Das weiß ich. Und ich würde mich gerne revanchieren, jetzt, wo ich erwachsen bin. Und Sonny könnte jemand gebrauchen, der auf ihn aufpasst.«
Carmella nahm Toms Hand und umfasste sie mit beiden Händen. Wieder traten ihr Tränen in die Augen.
»Ma«, sagte Tom, »ich will ja nur dort sein und ihnen helfen. Ich will der Familie helfen.«
Carmella drückte Toms Hand. »Bete für sie. Bete für Vito und Sonny. Alles liegt in Gottes Hand. Alles.«