Luca parkte in der 10. Straße direkt am Fluss und stapfte an den Bretterbuden vorbei, auf deren Dächer sich Holz und anderes Gerümpel stapelte. Die Nacht war kühl, und eine dünne Rauchwolke stieg aus einem krummen Ofenrohr, das aus der Hütte am Ende der Reihe ragte. Es war nach zwei Uhr morgens, und Luca war allein auf der Straße, die zwischen den Hütten und dem Fluss entlangführte. Er zog das Jackett enger um sich und setzte seinen Weg fort; das einzige Geräusch außer seinen Schritten war der Wind, der über das Wasser wehte. Als er um die Ecke bog, warteten JoJo und Paulie vor einer aufgebrochenen Tür. Sie lehnten an einer Backsteinmauer, JoJo mit einer Zigarette im Mundwinkel, während Paulie die Asche von einer fetten Zigarre klopfte.
»Seid ihr sicher … dass sie da drin sind?«, fragte Luca.
»Sie haben schon auf uns geschossen«, erwiderte Paulie und steckte sich die Zigarre in den Mund.
»Da drin gibt es nicht die geringste Deckung«, fügte JoJo hinzu. »Schau selbst.« Er deutete zur Tür.
»Was ist das … für ein Gebäude?«
»Ein Schlachthof.«
Luca schnaubte verächtlich. »Typisch Iren. Verbarrikadieren sich … in einem Schlachthof. Sind sie nur … zu zweit?«
»Ja, die Donnellys«, sagte Paulie, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen.
»Wir haben sie bis hierher verfolgt«, sagte JoJo.
»Wahrscheinlich denken sie, dass sie nur ein paar Stunden durchhalten müssen.« Paulie kaute auf seiner Zigarre.
»Dann stehen die Arbeiter hier auf der Matte«, brachte JoJo Paulies Gedanken zu Ende.
Luca warf einen Blick in den Schlachthof. Die Halle war weitgehend leer, und über einem Förderband baumelten eine Reihe leerer Haken. Laufstege führten auf halber Höhe an den Wänden entlang. »Wo sind sie?«
»Irgendwo dort oben«, antwortete JoJo. »Du musst nur den Kopf reinstecken, dann fangen sie gleich an auf dich zu schießen.«
»Habt ihr … eine Idee?«
»Sie bleiben immer in Bewegung«, sagte Paulie. »Und da oben sind sie uns gegenüber im Vorteil.«
Luca schaute ein weiteres Mal in den Schlachthof hinein und entdeckte eine Leiter, die ganz in der Nähe an der Wand zu den Laufstegen hinaufführte. »Gibt es noch einen … zweiten Eingang?«
»Auf der anderen Seite des Gebäudes«, sagte JoJo. »Den bewacht Vinnie.«
Luca zog eine .38er aus seinem Schulterholster. »Geht zu Vinnie … Wenn ihr so weit seid … stürmt rein und ballert los. Ihr müsst auf nichts zielen … und nichts treffen.« Luca überprüfte seine Pistole. »Achtet nur darauf … dass ihr nach oben schießt … damit ihr nicht mich trefft.«
»Du willst, dass wir sie ablenken«, sagte JoJo, »und du kommst dann von der anderen Seite?«
Luca riss Paulie die Zigarre aus dem Mund und drückte sie an der Mauer aus. »Macht schon«, sagte er zu beiden. »Beeilt euch. Ich werde … langsam müde.«
Nachdem die Jungs um die Ecke verschwunden waren, zog Luca eine weitere Pistole aus seiner Jacketttasche und betrachtete sie eingehend. Es war eine neue Waffe, eine .357er Magnum mit einer schwarzen Trommel und einem langen Lauf. Er nahm die Kugel aus einer Kammer, schob sie wieder hinein und spähte erneut in den Schlachthof. Die Halle wurde von einer Reihe von Lampen, die an der Decke hingen, nur schwach erleuchtet. Die Wände waren von einander überlappenden Schatten bedeckt. Luca sah, wie sich auf der anderen Seite des Gebäudes eine Tür öffnete und mehrere Mündungsblitze durch die Dunkelheit zuckten. Das Feuer wurde von den Laufstegen an den Seitenwänden der Halle erwidert. Luca lief zu der Leiter, und als Rick seinem Bruder von der anderen Seite des Gebäudes eine Warnung zurief, hatte er schon den halben Weg zu dem Kistenstapel zurückgelegt, hinter dem sich einer der Donnellys verbarg. Billy gelang es, noch zweimal zu schießen, und der zweite Schuss traf Luca diekt über dem Herzen in die Brust. Es fühlte sich an, als hätte ein großer Mann ihn mit einem gezielten Faustschlag erwischt, aber es reichte nicht aus, um ihn von den Füßen zu holen, und dann war er schon bei Billy. Er schlug ihm die Pistole aus der Hand und legte ihm den Arm um den Hals, so dass er außer einem panischen Röcheln keinen Ton mehr zustande brachte. Luca ließ sich einen Moment Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, wobei er Billy wie einen Schild vor sich hielt.
»Billy!«, rief Rick von der anderen Seite der Halle.
JoJo und die anderen hatten sich wieder auf die Straße zurückgezogen. Im Schlachthof herrschte Stille, und außer Billys Keuchen war nur ein leises Summen zu hören, dessen Ursprung Luca nicht ausmachen konnte.
»Deinem Bruder geht’s gut«, brüllte Luca. Mit dem freien Arm stieß er den Kistenstapel beiseite, und einige davon fielen die etwa sieben Meter bis auf den Boden hinunter. »Komm raus …. Rick.« Er drückte Billy vor sich gegen das Geländer, den einen Arm noch immer um Billys Hals, den anderen mit dem Revolver an der Seite. Als Rick nicht antwortete und sich nicht zeigte, sagte Luca: »Jumpin’ Joe will … dich sehen. Er will mit … dir und Billy reden.«
»Du bist ein verlogenes Arschloch«, erwiderte Rick. Er sprach, als würde ihm Luca an einem Tisch gegenübersitzen. Wäre ihm nicht anzuhören gewesen, wie entsetzlich müde er war, hätte er sogar belustigt geklungen.
Luca spürte, wie Billy sich ein wenig entspannte, und lockerte seinen Griff, damit der Junge leichter atmen konnte. »Komm jetzt da raus«, rief er zu Rick hinüber. »Ich möchte deinen Bruder … nicht erschießen. Giuseppe will nur … mit euch reden.«
»Du lügst«, sagte Rick hinter den Kisten hervor. »Alle wissen, dass du jetzt für die Corleones arbeitest.
»Ich arbeite nur für mich«, erwiderte Luca. »Ihr Iren … solltet das verstehen.«
Billy wand sich in Lucas Griff und brüllte: »Er lügt, Rick. Erschieß den Bastard!«
»Na schön, mein Junge«, flüsterte Luca ihm ins Ohr. Er zerrte Billy über das Geländer und ließ ihn schreiend und zappelnd über dem Abgrund baumeln. Zu Rick sagte er: »Verabschiede dich … von deinem kleinen Bruder.« Im selben Moment stieß Rick ein paar Kisten um und trat mit den Händen über dem Kopf einen Schritt vor.
»Gut«, sagte Luca. Er ließ Billy fallen, hob den Revolver und feuerte Rick in Brust und Bauch, bis die Trommel leer war. Rick zuckte erst zurück, kippte schließlich vornüber über das Geländer und landete auf einem Fließband.
Billy, der unter Luca auf dem Betonboden lag, versuchte mit einem Stöhnen aufzustehen, aber er hatte sich das Bein gebrochen – aus seinem Oberschenkel ragte ein Knochen. Er übergab sich und verlor das Bewusstsein.
»Steckt sie in Zementschuhe«, sagte Luca, als Jojo, gefolgt von Paulie und Vinnie, die Halle betrat. »Und werft sie in den Fluss«, fügte er auf dem Weg zur Leiter hinzu. Er war müde und freute sich darauf, endlich schlafen zu können.
Vor dem Hauseingang der Romeros unterhielten sich etwa ein halbes Dutzend Männer in billigen dunklen Anzügen mit zwei jungen Frauen in Glockenhüten und enganliegenden Kleidern, die für ein Begräbnis eher unpassend waren. Wahrscheinlich waren das die einzigen besseren Kleider, die sie besaßen, dachte Sonny bei sich. Er hatte um die Ecke geparkt und die Straße eine halbe Stunde lang beobachtet, bevor er entschied, dass es ungefährlich war, sich bei Vinnies Totenfeier sehen zu lassen. Die Corleones hatten einen Kranz in die Leichenhalle geschickt, und Sonny hatte einen fetten Umschlag mit fünftausend Dollar in der Tasche, den er persönlich übergeben wollte, obwohl ihm befohlen worden war, den Beerdigungen fernzubleiben, vor allem Vinnies Beerdigung. Genco zufolge war es Mariposa durchaus zuzutrauen, ihm bei einer Totenfeier aufzulauern. Sonny holte tief Luft und spürte dabei den beruhigenden Druck seines Schulterhalfters.
Bevor er den Eingang erreichte, bemerkten ihn die beiden Mädchen und verschwanden eilig im Haus. Als er die Stufen hinaufstieg und durch den Flur zur Treppe ging, die zur Wohnung der Romeros im zweiten Stock führte, erwarteten ihn Angelo Romero und Nico Angelopoulos bereits auf dem ersten Absatz. Im Halbdunkel des Treppenhauses wirkte Angelo um zehn Jahre gealtert. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Lider gerötet, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Er sah aus, als hätte er seit der Parade nicht mehr geschlafen. Die leisen Gespräche der Trauergäste hallten zu ihnen herab. »Angelo«, sagte Sonny, doch dann stockte ihm die Stimme, und er brachte kein Wort mehr heraus. Bisher hatte er jeden Gedanken an Vinnie verdrängt. Wenn er überhaupt an seinen Tod dachte, dann wie an ein Häkchen auf einer Liste. Vinnie ist tot. Abgehakt. Aber mehr war da nicht, mehr ließ er nicht zu. Doch kaum hatte er Angelos Namen ausgesprochen, setzte sich etwas in seinem Hals fest, und er verstummte.
»Du solltest nicht hier sein.« Angelo rieb sich so fest die Augen, dass es aussah, als wollte er sie zerquetschen. »Ich bin müde«, erklärte er überflüssigerweise. »Ich hab nicht viel geschlafen.«
»Er träumt schlecht«, sagte Nico und legte Angelo die Hand auf die Schulter. »Die Albträume halten ihn wach.«
Sonny brachte ein »Angelo, es tut mir leid« zustande, aber auch das kostete ihn große Anstrengung.
»Yeah«, erwiderte Angelo. »Aber du solltest nicht hier sein.«
Sonny schluckte trocken und blickte die Treppe hinab – durch ein Fenster in der Haustür war die Straße zu sehen. Ihm fiel es leichter, über das Geschäft nachzudenken, über Einzelheiten. »Ich hab mich umgeschaut, bevor ich hierhergekommen bin. Da draußen wartet niemand auf mich. Macht euch keine Sorgen.«
»Das hab ich nicht gemeint«, sagte Angelo. »Meine Familie möchte nicht, dass du hier bist. Du bist auf der Totenfeier nicht willkommen. Meine Eltern werden dich nicht reinlassen.«
Sonny benötigte einen Moment, bis das in sein Bewusstsein gedrungen war. »Ich hab euch das hier mitgebracht.« Er zog den Umschlag aus der Jacketttasche. »Immerhin etwas«, sagte er und hielt ihn Angelo hin.
Angelo verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht mehr für deine Familie arbeiten. Bekomme ich deshalb Schwierigkeiten?«
»Nein.« Sonny ließ den Umschlag sinken. »Wie kommst du darauf? Mein Vater wird das verstehen.«
»Gut.« Angelo trat dichter an Sonny heran. Erst sah es so aus, als wollte er ihn umarmen, doch dann hielt er inne. »Was haben wir uns nur gedacht?«, fragte er in flehentlichem Tonfall. »Dass wir uns in einem Comic befinden und niemand etwas passieren kann?« Er wartete, als hoffte er wirklich, Sonny hätte eine Antwort parat. Als Sonny schwieg, fuhr er fort. »Ich muss geträumt haben – so fühlt es sich jedenfalls an. Wir müssen alle geträumt haben, nichts könnte uns etwas anhaben. Aber …« Er seufzte leise, und ein wenig klang es wie ein Stöhnen, während er langsam ausatmete und dabei versuchte sich einzugestehen, dass Vinnie tot war. Dann ging er die Treppe hinauf, den Blick noch immer auf Sonny gerichtet. »Ich verfluche den Tag, an dem ich dich kennengelernt habe«, sagte er in ruhigem Tonfall und ohne jede Böswilligkeit oder Zorn. Damit verschwand er im oberen Stockwerk.
»Er meint das nicht so«, sagte Nico, als Angelo außer Hörweite war. »Er ist völlig verzweifelt, Sonny. Du weißt, wie nahe sich die beiden standen. Die waren wie Schatten aneinandergeklebt. Himmel, Sonny!«
»Schon klar.« Sonny reichte Nico den Umschlag. »Sag ihm, dass ich ihn verstehe. Und dass meine Familie für ihn und seine Familie da sein wird, wann immer sie etwas brauchen. Machst du das, Nico?«
»Das weiß er.« Nico steckte den Umschlag ein. »Ich werde mich darum kümmern, dass sie das bekommen.«
Sonny tätschelte Nico die Schulter und wandte sich um.
»Ich bring dich zum Wagen«, sagte Nico und folgte ihm. Auf der Straße angekommen, fragte er: »Was ist jetzt mit Bobby? Ich hab gehört, dass er sich versteckt hält.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Sonny, und seinem Tonfall war anzuhören, dass er nicht über Bobby sprechen wollte.
»Hör mal, ich muss dir unbedingt was erzählen.« Nico nahm Sonny am Arm, und sie blieben auf dem Gehsteig stehen. »Angelo und ich haben das bequatscht, und Angelo ist der Meinung, dass Bobby auf Stevie Dwyer geschossen haben muss, nicht auf deinen Vater. Wieso sollte er auch auf deinen Vater schießen, Sonny – das ergibt keinen Sinn. Und das weißt du!«
»Stevie Dwyer?«
»Angelo ist sich fast sicher. Und Vinnie war derselben Meinung. Sie haben noch kurz darüber geredet, bevor Vinnie erschossen wurde.«
Sonny kratzte sich am Kopf und blickte auf die Straße, als könnte er dort irgendwie sehen, was auf der Parade geschehen war. »Stevie Dwyer?«, fragte er erneut.
»Das behauptet Angelo jedenfalls. Sie haben es nicht gesehen, aber Angelo sagt, Stevie hätte sich hinter deinem Vater befunden, und nachdem Bobby geschossen hat, hat Luca Stevie erledigt. Ich war nicht dort.« Nico schob die Hände in die Taschen. »Aber verdammt noch mal, Sonny, Bobby liebt dich und deine Familie, und Stevie hat er gehasst. Das leuchtet doch ein, oder?«
Sonny versuchte, an die Parade zurückzudenken. Ihm stand vor Augen, wie Bobby auf seinen Vater geschossen hatte, und dann war Vito zu Boden gegangen – mehr war ihm nicht im Gedächtnis geblieben. Jeder hatte auf jeden geschossen. Und Stevie Dwyer war irgendwann tot gewesen. Sonny versuchte sich zu erinnern, aber was auf der Parade und unmittelbar danach geschehen war, ging alles wild durcheinander. Er rieb sich mit den Knöcheln über das Kinn. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht, was zum Teufel da passiert ist. Aber ich muss mit Bobby reden. Es macht keinen guten Eindruck, dass er sich versteckt.«
»Yeah, aber du weißt das doch.« Bis zu Sonnys Wagen war es nicht mehr weit. »Du weißt, dass Bobby nie und nimmer auf deinen Vater schießen würde. Das stimmt hinten und vorne nicht. Und das weißt du, Sonny.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich weiß.« Sonny bog in die Straße ein, wo sein Wagen geparkt war. »Was ist mit dir?«, fragte er und wechselte das Thema. »Wie gefällt dir dein Job?«
»Es ist ein Job.« Nico nahm seinen Hut ab und stülpte ihn sich über die Faust. »Im Hafen wird hart gearbeitet.«
»Das hab ich gehört.« Sonny stieg ein und schloss die Wagentür hinter sich. »Aber die Bezahlung in der Gewerkschaft ist okay, oder?«
»Klar. Ich kann mir keine schicken Klamotten mehr kaufen oder so was in der Art, aber das ist in Ordnung. Wusstest du, dass ich eine Freundin habe?«
»Nein. Wie heißt sie denn?«
»Du kennst sie nicht«, erwiderte Nico. »Sie heißt Anastasia.«
»Anastasia«, wiederholte Sonny. »Ein nettes griechisches Mädchen also.«
»Klar.« Nico nickte. »Wir wollen vielleicht heiraten und Kinder kriegen. Ich denk mir, ich hab einen ordentlichen Job und kann für sie sorgen.« Nico lächelte und wurde rot, als wäre ihm das alles peinlich. »Richte deinem Vater aus, dass ich ihm dankbar bin, Sonny. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass er mir diesen Job besorgt hat.«
Sonny ließ den Motor an, streckte den Arm durchs Fenster und schüttelte Nico die Hand. »Pass auf dich auf.«
»Klar.« Nico zögerte einen Moment und sah Sonny an, als wollte er noch etwas sagen. Doch er ließ den Augenblick verstreichen, und schließlich winkte er ab, lachte verlegen und ging davon.
Jimmy Mancini stieß mit der Schulter die schmale Tür auf und zerrte Corr Gibson in einen fensterlosen Raum. Clemenza stand über einem Edelstahltisch und hielt ein funkelndes Schlachtermesser in die Höhe, als würde er ausprobieren, wie es in der Hand lag. Al Hats, der Corrs Knüttel trug, folgte Jimmy dichtauf.
»Wo zum Teufel bin ich?«, fragte Corr, als Jimmy ihn auf die Füße stellte. Der Ire klang betrunken, und er hatte tatsächlich fast die ganze Nacht gezecht, bevor Jimmy und Al ihn aus seinem Bett aufgeschreckt und bewusstlos geprügelt hatten. Zwischendurch war er immer wieder zu sich gekommen und hatte gefragt, was los sei, als wäre er nie richtig wach geworden. »Pete«, sagte er und versuchte, die halb zugeschwollenen Augen aufzubekommen. »Clemenza. Wo bin ich?«
Clemenza nahm eine Schürze von einem Haken an der Wand und legte sie sich um. »Du weißt nicht, wo du bist, Corr?« Er band die Schürze hinter seinem Rücken zu. »Dieses Geschäft ist berühmt! Wir sind in Mario’s Butcher Shop in Little Italy. Jeder kennt dieses Geschäft. Bürgermeister LaGuardia kauft hier seine Würste.« Clemenza trat wieder an den Tisch und strich mit dem Finger über die Klinge des Schlachtermessers. »Mario hält seine Utensilien bestens in Schuss. Niemand hat schärfere Messer!«
»Weiß er, dass ihr hier seid?« Corr riss sich von Jimmy los, und es gelang ihm, alleine zu stehen, wenn auch auf recht wackeligen Füßen. Sein Blick fiel auf den Edelstahltisch und das Schlachtermesser. »Ihr verfluchten Makkaronis. Ihr seid nichts als ein Haufen Barbaren.«
»Sizilianer kaufen hier natürlich nicht ein«, fuhr Clemenza fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Mario ist Neapolitaner. Wir mögen keine neapolitanischen Würste.« Er schaute sich um und betrachtete die funkelnden Töpfe und Pfannen, die verschiedenen Küchenutensilien, zu denen auch eine Bandsäge gehörte.
»Wo ist mein Knüttel?«, fragte Corr. Als er sah, dass sich Al darauf stützte wie Fred Astaire auf seinen Spazierstock, sagte er wehmütig: »Ach, wie gerne würde ich dir damit den Schädel einschlagen, Pete.«
»Tja, aber daraus wird nichts mehr«, sagte Clemenza und deutete auf eine Tür. »Macht ihn im Gefrierraum fertig. Da drin hört euch niemand.« Corr ging ohne sich zu wehren mit. »Bis gleich, Corr!«, rief Clemenza ihm noch hinterher.
Nachdem der Ire und die beiden Jungs die Tür hinter sich geschlossen hatten, blieb Clemenza vor der Wand stehen, an der Messer und Sägen in unterschiedlichster Form und Größe hingen. »Schaut euch das an«, sagte er und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
Vor sich Emilio Barzini und dicht gefolgt von Phillip Tattaglia bahnte sich Tessio zielstrebig einen Weg durch das Labyrinth aus Tischen, an denen mehr als fünfzig Gäste in Abendgarderobe über ihrem Essen saßen und sich lachend unterhielten. Das Lokal war zwar nicht ganz so angesagt wie der Stork Club, aber viel fehlte nicht. Es befand sich in einem Hotel in Midtown, und jeden Abend drängten sich hier zahlreiche Berühmtheiten, doch von den Familien wurde es für gewöhnlich nicht frequentiert. Tessio ließ den Blick über die Tische schweifen. Hatte er da nicht Joan Blondell an einem der Tische sitzen sehen, einem äußerst eleganten Mann gegenüber, den er nicht kannte? An einer Seite des Saals hatte sich auf einem schmalen weißen Podest ein kleines Orchester niedergelassen. Ein Bandleader im Frack trat an ein Mikrofon, das neben einem weißen Klavier stand, klopfte dreimal mit dem Dirigentenstab dagegen, und das Orchester spielte die ersten Takte einer schwungvollen Version von »My Blue Heaven«.
»Dieses Weibsbild hat eine Stimme wie ein Engel«, sagte Tattaglia, als sich eine junge Frau mit rauchgrauen Augen und langem schwarzen Haar dem Mikrofon näherte und zu singen begann.
»Yeah«, stimmte Tessio ihm zu, und diese einzelne Silbe klang wie ein sehnsüchtiger Seufzer.
Weiter hinten im Saal stand Little Carmine, einer von Tomasinos Jungs, vor einer Doppeltür aus Glas. Er hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet und schaute zu der Sängerin hinüber. Ein dünner Vorhang war vor die Glastüren gezogen, und dahinter konnte Tessio die Umrisse zweier Personen erkennen, die an einem Tisch saßen. Als Emilio die Türen erreichte, hielt Little Carmine ihm eine davon auf, und Tessio und Tattaglia folgten Emilio in einen kleinen Raum, in dem ein runder Tisch stand, an dem ein Dutzend Gäste Platz gefunden hätten; allerdings war nur für fünf gedeckt. Neben dem Tisch, direkt hinter Mariposa, der einen grauen dreiteiligen Anzug mit einer hellblauen Krawatte und einer weißen Nelke trug, stand ein Kellner mit einer Flasche Wein. Rechts von Mariposa saß, in einem zerknitterten Jackett, Tomasino Cinquemani; er hatte den obersten Hemdknopf geöffnet und die Krawatte ein wenig gelockert. »Salvatore!«, rief Mariposa, als Tessio den Raum betrat. »Gut, Sie zu sehen, mein alter Freund.« Er erhob sich und streckte die Hand aus, und Tessio schüttelte sie.
»Ganz meinerseits, Joe.« Tessio nickte Tomasino kurz zu, der zwar nicht aufgestanden war, aber trotzdem froh zu sein schien, dass er hier war.
»Setzen Sie sich!« Mariposa wies auf den Platz neben sich und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Kellner zu, während Barzini und Tattaglia sich gemeinsam mit Tessio am Tisch niederließen.
Zu dem Kellner sagte Mariposa: »Für meine Freunde möchte ich nur das Beste. Achten Sie darauf, dass die Antipasti frisch sind«, erklärte er von oben herab. »Für die Soßen Tintenfisch, auf einer Pasta, richtig schwarz. Auf die Ravioli frische Tomaten mit genau der richtigen Menge Knoblauch. Nicht zu viel, nur weil wir Italiener sind, eh!« Er blickte lachend in die Runde. Zu Tessio sagte er: »Ich hab uns ein Festmahl bestellt. Sie werden begeistert sein.«
»Joe ist ein Gourmet«, sagte Tattaglia zu allen, und an Tessio gewandt: »Es ist eine Ehre, dass er für uns bestellt.«
»Basta«, sagte Mariposa zu Tattaglia, auch wenn er sich ganz offensichtlich geschmeichelt fühlte. Dann wandte er sich wieder an den Kellner. »Achten Sie darauf, dass Sie uns das jüngste Lamm zubereiten, das Sie haben, und die Röstkartoffeln« – er hob die Hand und legte Daumen und Zeigefinger aneinander – »müssen knusprig sein. Capisc’?«
»Aber gewiss«, erwiderte der Kellner und ging hinaus. Little Carmine öffnete ihm, als er ihn näher kommen sah, die Tür.
Nachdem der Kellner gegangen war, beugte sich Barzini über den Tisch, und seine Miene und sein Tonfall verrieten, dass er einen Witz machen wollte. »Joe besteht immer darauf, dass sein Essen mit nativem Olivenöl zubereitet wird.« Er hob den Finger und fügte hinzu: »Aber nie mit Genco Pura!«
Mariposa stimmte in das Lachen der anderen ein, aber sonderlich belustigt wirkte er nicht. Als es um den Tisch wieder ruhig geworden war, lehnte er sich zurück, faltete die Hände und wandte sich an Tessio. Die geschlossenen Türen dämpften die Musik und das Geplauder der Gäste so weit, dass sie sich mühelos unterhalten konnten; trotzdem sah sich Mariposa veranlasst, die Stimme zu heben. »Salvatore, Sie wissen ja gar nicht, was für ein Vergnügen es ist, Sie zu sehen. Es ist mir eine Ehre, dass wir auf Jahre hinaus wahre Freund sein werden.«
»Es war schon lange mein Wunsch, mit Ihnen befreundet zu sein, Don Mariposa. Ihre Weisheit – und Ihre Stärke – verdienen meine Bewunderung.«
Wie immer klang Tessio, als würde er eine Trauerrede halten. Mariposa strahlte trotzdem über das ganze Gesicht und rief: »Ach, Salvatore!« Dann wurde er jedoch unvermittelt ernst und legte sich die Hand aufs Herz. »Sie verstehen doch bestimmt, dass wir bei der Parade die Gelegenheit ergreifen mussten. Eigentlich wollten wir das gar nicht, aber die Corleones hatten sich in Long Beach verbarrikadiert! Madon’! Nicht einmal eine Armee hätte da reinkommen können! Barzini musste sich wie eine Schlange winden, um Ihnen auch nur eine Nachricht zukommen zu lassen.« Mariposa klang äußerst wütend, und sein ganzer Zorn galt den Corleones. »Sie haben uns dazu gezwungen, bei der Parade zuzuschlagen. Und was ist daraus geworden?« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ein Gräuel!«
»Sì«, erwiderte Tessio mit zusammengebissenen Zähnen. »Ein Gräuel.«
»Und jetzt werden wir ihn dafür bezahlen lassen.« Mariposa beugte sich vor. »Sagen Sie, Salvatore …« Er nahm die Rotweinflasche, die in der Mitte des Tisches stand, und schenkte Tessio ein. »Was kann ich tun, um mich für die Gefälligkeit zu revanchieren, die Sie mir erweisen wollen?«
Tessio blickte in die Runde, sichtlich überrascht, dass es so schnell zur Sache ging. Emilio nickte ihm zu, wie um ihn zu ermutigen. Tessio sagte zu Mariposa: »Ich möchte in Frieden meinen Geschäften nachgehen. Die Wettlokale in Brooklyn. Die Konzessionen auf Coney Island. Mehr brauche ich nicht.«
Mariposa lehnte sich zurück. »Das klingt alles sehr einträglich. Und friedlich.« Er hielt inne, als müsse er nachdenken, und sagte dann: »Sie haben mein Wort darauf.«
»Also sind wir uns einig«, erwiderte Tessio. »Vielen Dank, Don Mariposa.« Er stand auf und streckte die Hand aus.
»Splendido«, sagte Emilio, als Mariposa einschlug. Er klatschte höflich, und Tattaglia tat es ihm gleich. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. Zu Giuseppe sagte er: »Nachdem das erledigt ist, müssen Tattaglia und ich uns noch um ein paar Dinge kümmern.« Er stand auf, und Tattaglia folgte seinem Beispiel. »Gebt uns ein paar Minuten. Wir sind gleich wieder da.«
»Aber wohin geht ihr?«, widersprach Mariposa sichtlich überrascht. »Ausgerechnet jetzt müsst ihr los?«
»Dauert keine fünf Minuten«, erwiderte Emilio, legte Tattaglia die Hand auf die Schulter und führte ihn zur Tür, die sich einmal mehr wie von Zauberhand öffnete.
Mariposa sah Tomasino fragend an. Zu Tessio sagte er: »Arbeit, nichts als Arbeit«, und verzog das Gesicht. »Sie sind bestimmt gleich wieder da.«
Nachdem Tattaglia und Barzini hinausgegangen waren, wandte sich Tomasino auf seinem Stuhl zu Mariposa um und schlang ihm die muskulösen Arme um die Brust, während Tessio ihm im selben Moment eine Stoffserviette in den Mund stopfte.
Giuseppe reckte den Hals, um den Mann anzuschauen, der ihn festhielt. Durch die Serviette nuschelte er: »Tommy!«
»Ist nicht persönlich gemeint, Joe«, sagte Tomasino, während Tessio eine Garrotte aus der Tasche seines Jacketts zog und den dünnen Klavierdraht vor Giuseppes Gesicht anspannte.
»Inzwischen überlasse ich die Drecksarbeit eigentlich anderen«, sagte er und trat hinter Mariposa. »Aber für dich mach ich eine Ausnahme.« Er legte Mariposa den Draht um den Hals, langsam zuerst, damit er das kalte Metall auf seiner Haut spüren konnte. Dann ließ Tomasino Mariposa los, und Tessio zog den Draht straff an, während er gleichzeitig das Knie von hinten gegen Giuseppes Stuhl stemmte. Giuseppe strampelte mit den Beinen und trat dabei gegen den Tisch, so dass ein Gedeck auf den Boden krachte, bevor der Draht ihm die Gurgel durchtrennte und sich eine Blutfontäne über die weiße Tischdecke ergoss. Sein Körper sank in sich zusammen, und Tessio versetzte ihm noch einen letzten Stoß. Mariposa kippte vornüber und landete mit dem Kopf auf seinem Teller, der sich rasch mit Blut füllte, bis er aussah wie eine Schüssel mit roter Suppe.
»So schlimm, wie alle immer behauptet haben, war er gar nicht«, sagte Tomasino. Er zog sein Jackett glatt und strich sich übers Haar. »Ich hoffe, Don Corleone wird meine Kooperation als Zeichen meiner Loyalität ihm gegenüber werten.«
»Sie werden feststellen, dass Vito ein Mann ist, für den es sich gut arbeitet«, erwiderte Tessio. Er deutete zur Tür, und Tomasino ging hinaus.
Tessio goss Wasser auf eine Serviette und versuchte, einen Blutfleck auf seinem Ärmelaufschlag auszureiben. Als es dadurch nur schlimmer wurde, zog er das Jackett über die Manschette. In der Tür drehte er sich ein letztes Mal zu Mariposa um, der vornübergesunken in seinem Blut lag. In einem zornigen Tonfall, der aus dem Nichts zu kommen schien, sagte Tessio: »Jetzt springst du nicht mehr herum, Joe.« Er spuckte auf den Boden und ging hinaus, wo Eddie Veltri und Ken Cuisimano so vor den beiden Glastüren standen, dass man aus dem Saal nicht hineinschauen konnte. Das Orchester spielte »Smoke Gets in Your Eyes«.
»Das Lied gefällt mir«, sagte Tessio zu Ken. Er berührte Eddie an der Schulter und sagte: »Andiamo.«
Während die drei Männer zwischen den Tischen hindurchschritten, summte Tessio leise den Text mit. Als er anfing, laut zu singen – »something here inside cannot be denied« –, klopfte ihm Eddie auf den Rücken und sagte: »Sal, ich würde für dich in den Tod gehen, und das weißt du auch, aber Madre ’Dio, hör bitte auf zu singen.«
Tessio warf Eddie einen irritierten Blick zu, grinste dann breit und lachte laut los. Noch immer lachend verließ er das Lokal und trat auf die Straßen von Manhattan hinaus, auf denen reges Treiben herrschte.
Donnie O’Rourke schaltete das Radio ein. Seine Eltern stritten sich schon den ganzen Abend im Zimmer nebenan. Sie waren beide betrunken, und das Geschrei wollte kein Ende nehmen, dabei hatte der Radiosprecher gerade gesagt, dass es bereits nach Mitternacht war. Donnie drehte die Lautstärke herunter und wandte sich dem Fenster neben seinem Bett zu, wo er hören konnte, wie die Vorhänge im Wind flatterten. Er saß seinem Bett gegenüber in einem Schaukelstuhl, die Hände im Schoß gefaltet, eine Decke über den Beinen. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über die Haare, rückte seine Sonnenbrille gerade, zog sein Hemd glatt und knöpfte den Kragen zu. Er setzte sich auf und versuchte, sich so gut wie möglich zurechtzumachen.
Wieder einmal hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht, was für ein Tag es war, aber er wusste, dass Frühling war und der Sommer kurz bevorstand. Er konnte es riechen. In letzter Zeit konnte er alles riechen. Wenn jemand in die Küche kam, wusste er augenblicklich, ob es seine Mutter oder sein Vater war – er hörte es an ihren Bewegungen, und er konnte sie an ihrem unterschiedlichen Geruch auseinanderhalten, obwohl sie beide nach Whisky und Bier stanken. Und jetzt wusste er, dass Luca Brasi auf der Feuertreppe stand. Er war sich völlig sicher. Als er hörte, wie er durch das offene Fenster ins Zimmer stieg, lächelte er und sagte leise seinen Namen. »Luca. Luca Brasi.«
»Woher wusstest du … dass ich es … bin?«, flüsterte Luca.
»Es gibt keinen Grund, meine Eltern zu beunruhigen«, sagte Donnie. »Sie sind zu betrunken, um irgendwelche Schwierigkeiten zu machen.«
»Um sie mach ich … mir keine Sorgen.« Luca durchquerte das Zimmer, bis er unmittelbar vor dem Schaukelstuhl stand. »Woher wusstest du … dass ich es … bin, Donnie?«, fragte er noch einmal.
»Ich kann dich riechen.« Donnie lachte und fügte hinzu: »Herrgott, riechst du furchtbar, Luca. Nach Kloake.«
»Ich bade nicht … oft genug«, erwiderte Luca. »Ich werde nicht gerne … nass. Das Wasser ist … mir zuwider.« Er schwieg eine ganze Weile. Dann fragte er: »Donnie, hast du … Angst?«
»Angst? Himmel, Luca, ich hab auf dich gewartet!«
»Okay. Jetzt bin ich … hier.« Er legte Donnie die Hände um den Hals.
Donnie lehnte sich zurück, öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und hob den Kopf zur Decke. »Na los«, flüsterte er. »Mach schon.«
Luca drückte zu, ganz plötzlich und mit großer Kraft, und innerhalb kürzester Zeit war es dunkel und still, und alles war fort, sogar der säuerliche Bier- und Whiskygeruch aus der Küche, sogar der süße Duft des Frühlings und der wechselnden Jahreszeiten.