Leichter Regen – eher schwerer Nebel als Regen – tropfte von den schwarzen Feuertreppen, die sich entlang der Gasse hinter Eileens Bäckerei die Mauern hinaufwanden. Sonny war überrascht, als Eileen am Wohnzimmerfenster stehen blieb und, Caitlin auf dem Arm, die Jalousien herunterließ. Eigentlich hätte die Kleine längst im Bett sein müssen. Aber die beiden waren schon ein sehenswertes Paar: Eileen mit ihren sandfarbenen Locken und Caitlin, der das Haar in blonden Wellen über die Schulter fiel. Sonny nahm seinen Fedora ab und strich das Wasser von der Krempe. Schon seit es dunkel geworden war, wartete er in der Gasse. Seinen Wagen hatte er ein paar Straßen weiter abgestellt. Dann hatte er sich durch das – nicht abgeschlossene – Tor mit den gusseisernen Spitzen geschlichen und hier, wo er die rückwärtigen Fenster von Eileens Wohnung sehen konnte, Stellung bezogen. Erst hatte Sonny bezweifelt, dass Bobby bei Eileen und Caitlin sein würde. Andererseits, wo sollte er sonst stecken? Nachdem Eileen die Rollos hinuntergelassen hatte, war er sich jedoch sicher – Bobby war bei seiner Schwester untergekrochen. Sooft er Eileen besucht hatte, war diese Jalousie nicht ein Mal geschlossen gewesen. Das Fenster ging auf eine nackte Wand in einer abgesperrten Gasse hinaus, die außer den Müllmännern nie jemand betrat. Kurz darauf leuchtete das Fenster aus Glasbausteinen auf, das zu dem kleinen Zimmer hinter der Bäckerei gehörte, und Sonny wusste, dass das nur Bobby sein konnte. Fast sah er ihn vor sich, wie er sich auf der schmalen Liege ausstreckte und die Nachttischlampe neben dem Bücherstapel anschaltete.
Der Schraubenzieher, den er mitgenommen hatte, um damit die Hintertür der Bäckerei aufzuhebeln, steckte in seiner Hosentasche, und er schloss die Finger um den Holzgriff. Mehrere Minuten lang beobachtete er die Tür. Seine Gedanken rasten, und er konnte seine Füße einfach nicht dazu bringen, sich in Bewegung zu setzen. Er schwitzte und hatte das Gefühl, als würde ihm gleich übel. Er atmete tief durch. Dann zog er den Schalldämpfer aus seiner Jackentasche. Nach kurzem Zögern holte er auch die Pistole hervor und schraubte den Schalldämpfer darauf. Schließlich steckte er sie wieder weg, aber er bewegte sich noch immer nicht von der Stelle, sondern wartete in dem schweren Nebel, den Blick auf die Tür gerichtet, aus der jeden Moment Bobby treten und ihn mit einem Lachen hereinbitten würde.
Sonny rieb sich die Augen mit den Handballen. Als er hörte, wie Eileen Caitlin anschrie – sie klang außergewöhnlich ungeduldig –, überquerte er ohne weiter darüber nachzudenken die Gasse und schob den Schraubenzieher zwischen Türrahmen und Schloss. Die Tür ging problemlos auf, und er trat in den stillen, dunklen Flur, in dem es nach Zimt roch. Unter der Tür zu Bobbys Zimmer war ein Streifen Licht zu sehen. Direkt über sich hörte er Wasser laufen und Caitlin in das Badezimmer trippeln und wieder hinaus. Er zog die Pistole aus der Tasche, steckte sie wieder ein und zog sie wieder heraus und schob die schmale Tür auf. Bobby hatte sich wie erwartet mit einem Buch in der Hand auf der Liege ausgestreckt. Die Nachttischlampe hatte einen neuen orangefarbenen Schirm. Bobby ließ vor Schreck das Buch fallen, wollte aufspringen, erstarrte, hob das Buch auf, ließ sich wieder auf das Bett sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wie bist du denn hier reingekommen?«, fragte er.
Sonny, der die Pistole auf Bobby gerichtet hatte, ließ sie sinken und lehnte sich an die Wand. Mit seiner freien Hand rieb er sich die Augen. »Himmel Herrgott, Bobby …«
Bobby kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Sonny, was soll das?«
»Was meinst du wohl? Du hast auf meinen Vater geschossen.«
»Das war ein Versehen.« Cork musterte Sonny eingehend. Betrachtete sein Gesicht. »Clemenza hat dir nichts ausgerichtet, hab ich recht?«
»Was denn?«
»Eileen hat ihm eine Nachricht zukommen lassen. Für dich. Sonny, er weiß, was auf der Parade passiert ist.«
»Ich weiß, was auf der Parade passiert ist. Ich war dort, oder hast du das schon vergessen?«
Bobby strich sich das Haar aus der Stirn und kratzte sich am Kopf. Er trug Khakihosen und ein blaues Arbeitshemd, das bis zum Bauch aufgeknöpft war. Sein Blick ruhte auf der Pistole in Sonnys Hand. »Ein Schalldämpfer«, sagte er und lachte. »Sonny, es war ein Versehen – ich wollte deinen Vater nicht treffen. Ich hab diesen Idioten Dwyer hinter Vito auftauchen sehen, also hab ich abgedrückt und Vito erwischt. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich auf deinen Vater schießen würde?«
»Ich hab gesehen, wie du auf meinen Vater geschossen hast.«
»Schon klar, aber ich hab auf Dwyer gezielt.«
»Zugegeben«, sagte Sonny und rieb sich erneut die Augen, »ein besonders guter Schütze warst du noch nie.«
»Ich war nervös«, erwiderte Bobby, als müsste er seine Schießkünste verteidigen. »Da hat es nur so Kugeln gehagelt. Gott sei Dank hab ich ihn nur an der Schulter getroffen.« Wieder betrachtete er die Pistole in Sonnys Hand. »Du bist hergekommen, um mich zu töten. Herrgott, Sonny!«
Sonny rieb sich über den Nasenrücken und schaute zur Decke, als stünden die Worte, die er suchte, dort geschrieben. »Ich muss dich töten, Bobby«, seufzte er schließlich. »Selbst wenn du die Wahrheit sagst. Niemand wird dir glauben, und wenn ich ihnen erzähle, dass ich dir glaube, seh ich wie ein Schwächling aus. Wie ein Trottel.«
»Du würdest wie ein Trottel aussehen? Hab ich dich richtig verstanden, Sonny? Du willst mich umbringen, damit du nicht wie ein Trottel aussiehst?«
»Sie würden mich alle für schwach halten. Und für dumm. Bei meiner Familie hätte ich nie wieder was zu melden.«
»Und deshalb legst du mich um?« Bobby war anzusehen, wie verblüfft er war. »Herrgott noch mal, Sonny, du kannst mich nicht umbringen, selbst wenn du glaubst, dass du das musst. Das ist doch so was von albern.«
»Es ist nicht albern.«
»Und ob.« Allmählich klang Bobby wütend, obwohl er noch immer, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, auf seiner Liege lag. »Du kannst mich nicht umbringen, Sonny. Wir kennen uns schon, seit wir jünger waren als Caitlin. Wem machst du da was vor? Du kannst mich doch nicht erschießen, weil deine Familie dich sonst für einen Dummkopf hält!« Er versuchte in Sonnys Augen zu lesen. »Du wirst mich nicht töten. Genauso gut könntest du dich selbst umbringen.«
Sonny hob die Pistole, richtete sie auf Bobby – und musste feststellen, dass sein Freund recht hatte. Er konnte nicht abdrücken. Er wusste, dass er dazu nie in der Lage sein würde. Und Bobby schien das auch zu wissen.
»Du enttäuschst mich wirklich«, sagte Bobby. »Mir bricht es das Herz, dass du geglaubt hast, du könntest das tun.« Er starrte Sonny wütend an und fügte dann hinzu: »Das sieht dir nicht gleich, Sonny. Wie kommst du nur darauf, du könntest so etwas tun?«
Sonny hielt die Pistole weiter auf Bobbys Brust gerichtet. »Ich muss, Corr. Ich hab keine andere Wahl.«
»Red dir keinen solchen Quatsch ein. Natürlich hast du eine andere Wahl!«
»Nein, hab ich nicht.«
Cork bedeckte die Augen mit den Händen und stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus. »Du bist dazu einfach nicht in der Lage«, sagte er, ohne Sonny anzuschauen. »Selbst wenn du dumm genug bist zu meinen, du müsstest es tun.«
Sonny ließ die Pistole sinken. »Ihr Iren. Reden schwingen könnt ihr alle.«
»Ich sag dir nur die Wahrheit. Die Wahrheit ist die Wahrheit, selbst wenn du zu dumm bist, sie zu begreifen.«
»Du hältst mich für dumm?
»Das hast du gesagt, Sonny.« Sonny hatte das Gefühl, mit einem unlösbaren Problem zu ringen. Er betrachtete die Pistole, die er in der Hand hielt, und sah dann wieder Cork an. Obwohl seine Augen sich bewegten, war er ansonsten wie erstarrt. Während die Sekunden verstrichen, wurde seine Miene immer finsterer. Schließlich sagte er: »Ich bin vielleicht dumm, Bobby, aber wenigstens ist meine Schwester keine Hure.«
Cork erwiderte seinen Blick und lachte. »Was redest du da?«
»Ich rede über Eileen. Mensch, Kumpel, ich vögel schon seit Jahren mit ihr.«
»Was ist nur in dich gefahren?« Cork setzte sich auf. »Warum sagst du so was zu mir?«
»Weil es wahr ist, du irischer Idiot. Ich hab mit Eileen drei Mal die Woche eine Nummer geschoben, und das schon seit …«
»Halt’s Maul, du verlogene Ratte!« Cork blickte zur Decke, wo im Bad noch immer das Wasser lief, als würde er befürchten, Eileen oder Caitlin könnten sie hören. »Das ist nicht komisch, falls du das meinst. Eileen würde sich niemals mit deinesgleichen einlassen, und das wissen wir beide.«
»Da irrst du dich.« Sonny stieß sich von der Wand ab – endlich konnte er wieder die Beine bewegen. »Eileen ist so was von geil. Am liebsten bläst sie mir …«
In dem Moment sprang Cork auf, und fast hätte er Sonny erreicht, bevor dieser die Pistole hob und abdrückte. Der Schuss klang dumpf, wie ein Hammerschlag auf Gips. Ein Glasbaustein zersplitterte, die Scherben trafen den orangefarbenen Lampenschirm, und die Lampe fiel zu Boden. Sonny warf die Pistole beiseite und fing Cork auf. Dabei sah er den unfassbar großen Blutfleck auf Corks Rücken und wusste mit Gewissheit, dass er tot war; die Kugel war ihm durchs Herz gegangen und wieder ausgetreten – jetzt steckte sie in dem Glasbausteinfenster, das auf die Gasse hinausging. Sonny nahm sich die Zeit, Cork auf das Bett sinken zu lassen und ein offenes Buch auf die Wunde über seinem Herzen zu legen, um sie vor Eileen zu verbergen, die bereits die Treppe heruntergeeilt kam und Bobbys Namen rief.
Sonny hatte die Gasse erreicht und war durch das Tor gerannt, bevor er ihren Schrei hörte. Sie schrie nur ein Mal, laut und lange, bevor sie verstummte. Er stürzte zu seinem Wagen, stieg ein und ließ den Motor an. Dann drückte er die Tür wieder auf und übergab sich auf das Pflaster. Während er davonfuhr, strich er sich mit dem Arm über den Mund. Sein Kopf war von einem merkwürdigen Summen erfüllt, und immer wieder hörte er Eileens Schrei und das dumpfe Bellen der Pistole, und einen verrückten Moment lang glaubte er, die Kugel hätte nicht nur Bobby getroffen, sondern auch ihn. Verwirrt blickte er auf seine Brust, und als er sah, dass sein Hemd voller Blut war, erschrak er zutiefst, bis ihm klar wurde, dass das Bobbys Blut war und nicht sein eigenes, ihm war nichts passiert, mit ihm war alles in Ordnung – und dann stellte er fest, dass er nicht zu seinem Apartment fuhr, wie er vorgehabt hatte, sondern Richtung Hafen, zum Fluss. Er wusste nicht, warum, aber er ließ es geschehen. Irgendetwas zog ihn dorthin – und es gelang ihm erst, sich wieder ein wenig zu beruhigen und einigermaßen klar zu denken, als er den Wagen am Wasser geparkt hatte und dort im Dunklen saß, den Blick über den Fluss hinweg auf die Lichter der Stadt gerichtet. Allmählich ließen die Geräusche in seinem Kopf nach, das Summen und Eileens Schrei und der gedämpfte Schuss, den er nicht nur hörte, sondern in seinen Knochen und in seinem Herzen spüren konnte.