Vito ließ sich auf das Sofa zurücksinken. Connie saß auf seinem Schoß, und er hatte ihr einen Arm um die Taille gelegt. Sie kuschelte sich schläfrig an ihn, schaute sich dabei im Zimmer um und hörte mit anscheinend aufrichtigem Interesse zu, wie Jimmy Mancini und Al Hats über Baseball diskutierten. Jimmys Tochter Lucy saß neben ihnen und konzentrierte sich ganz auf ein »Verbinde die Punkte«-Bild in einem farbenfrohen Malbuch. Immer mal wieder schaute sie zu Connie hoch, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Freundin nicht fortgegangen war, während sie sich in ihr Bild vertieft hatte. Sie befanden sich in Vitos Wohnzimmer an der Hughes Avenue. Es war Sonntagnachmittag, der Himmel war blau, und die Temperaturen lagen bei über 20 Grad. Als Tessio durch die Tür trat, hörten Al und Jimmy auf zu streiten. Al fragte: »Sal, meinst du, die Dodgers haben eine Chance auf den Titel?« Beide Männer brachen, kaum war die Frage gestellt, in lautes Gelächter aus, denn die Dodgers konnten froh sein, wenn sie überhaupt aus dem Keller herauskamen. Tessio, ein eingefleischter Fan der Brooklyn Dodgers, ignorierte sie, setzte sich neben Lucy und betrachtete neugierig ihr Malbuch.
Aus der Küche hallte ebenfalls lautes Gelächter herüber, woraufhin Sandra mit rotem Kopf herausgestürmt kam und die Treppe hinauflief – wahrscheinlich wollte sie ins Badezimmer. Vito hatte nichts verstanden, aber er wusste, ohne fragen zu müssen, dass eine der Frauen etwas Unanständiges über Sandra und Santino gesagt hatte. Dergleichen geschah regelmäßig, seit sie ihre Verlobung bekanntgegeben hatten, und es würde bis zu ihrer Vermählung, ihrer Hochzeitsreise und darüber hinaus so weitergehen. Vito hielt sich von der Küche fern, wenn die Frauen dort kochten und miteinander schwatzten. Auf der Treppe begegnete Sandra Tom, der ihre Hand nahm und sie auf die Wange küsste. Die beiden wechselten einige Worte und ließen sich schließlich auf den Stufen nieder. Bestimmt unterhielten sie sich über Santino. Er hatte sich schon die ganze Woche in seiner Wohnung verkrochen. Sandra wollte, dass er einen Arzt aufsuchte, und Carmella stimmte ihr zu – und natürlich wollte er nicht gehen. Er ist so dickköpfig wie alle Männer, hatte Vito Carmella heute Vormittag zu Sandra sagen hören. Jetzt hielt Tom Sandras Hand, um sie zu beruhigen. Sonny wird schon wieder, hörte Vito Tom sagen, ohne ihn wirklich zu hören. Mach dir keine Sorgen. Carmella hatte Vito gedrängt, Sonny zum Arzt zu schicken, aber Vito hatte sich geweigert. Er wird sich erholen, hatte er ihr erklärt. Lass ihm Zeit.
In der Küche drehte jemand – wahrscheinlich Michael – das Radio an, und die von statischem Rauschen untermalte Stimme von Bürgermeister LaGuardia erfüllte das Haus. Vito schüttelte unwillig den Kopf. Während der Rest der Welt längst zur Tagesordnung übergegangen war und das Massaker bei der Parade einem Haufen verrückter Iren zugeschrieben hatte, die sauer waren, weil die Italiener ihnen ihre Arbeitsplätze wegnahmen – was eine Handvoll gut bezahlter Zeitungsleute gebetsmühlenartig wiederholte –, konnte LaGuardia einfach nicht davon ablassen. Er hörte sich an, als wäre auf ihn selbst geschossen worden. In der Zeitung und im Radio redete er unablässig davon, dass jetzt endlich einmal durchgegriffen werden müsste. Vito hatte das dermaßen satt, und als LaGuardia wieder davon anfing, diesen »arroganten Ganoven« den Garaus zu machen, setzte er Connie neben Lucy auf das Sofa und ging in die Küche. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Fredo den Apparat eingeschaltet hatte, aber erwartungsgemäß nicht zuhörte. Vito drehte ihn aus, wobei er an Fredo vorbeigreifen musste, der zwischen den Frauen von Genco und Jimmy am Tisch saß. Niemand schien es auch nur zu bemerken. »Wo ist Michael?«, fragte er Carmella, die neben Mrs. Columbo am Herd stand. Carmella füllte gerade die braciol’, und Mrs. Columbo formte mit den Händen kleine Fleischbällchen und tat sie in eine Pfanne mit zischendem Fett. »Oben in seinem Zimmer!«, erwiderte Carmella, und sie klang wütend. »Den Kopf in seinen Büchern, wie immer!« Als Vito sich umwandte, um zu Michael hinaufzugehen, rief Carmella ihm nach: »Er soll runterkommen! Das ist nicht gesund!«
Michael, der mit einem Buch auf dem Bett lag, wandte sich um, als sein Vater das Zimmer betrat. »Papa?«, fragte er. »Warum ist Mama sauer auf mich? Hab ich was angestellt?«
Vito setzte sich neben ihn und täschelte ihm das Bein, um ihm zu zeigen, er sich keine Sorgen machen musste, niemand war wütend auf ihn. »Was liest du da?«, wollte er wissen.
Michael drehte sich auf den Rücken und legte sich das Buch auf die Brust. »Eine Geschichte von New Orleans.«
»New Orleans? Wieso denn das?«
»Weil«, erwiderte Michael und faltete die Hände über dem Buch, »das die Stadt ist, in der die meisten Menschen auf einmal gelyncht wurden. In der ganzen Geschichte der Vereinigten Staaten.«
»Das ist ja furchtbar. Und warum interessiert dich das?«
»Vielleicht schreibe ich mein Referat darüber.«
»Ich dachte, du wolltest dein Referat über den Kongress schreiben.«
»Hab’s mir anders überlegt.« Michael ließ das Buch von seiner Brust gleiten und setzte sich auf. »Darauf hab ich keine Lust mehr.«
»Warum nicht?« Vito legte Michael eine Hand aufs Bein und musterte ihn eingehend. Michael zuckte nur mit den Achseln. »Und jetzt schreibst du ein Referat über Farbige, die im Süden gelyncht worden sind?« Er zerrte an seiner Krawatte und streckte die Zunge heraus, um den Jungen zum Lachen zu bringen.
»Das waren keine Farbigen, Papa. Das waren Italiener.«
»Italiener!« Vito lehnte sich zurück und sah Michael ungläubig an.
»Früher hatten die Iren im Hafen von New Orleans das Sagen«, erklärte Michael. »Aber dann sind die Sizilianer aufgekreuzt und haben ihnen die Arbeit weggenommen.«
»Die Sizilianer befahren die Meere schon seit Tausenden von Jahren.«
»Alles war in Ordnung«, fuhr Michael fort, »bis die italienischen Gangster aufgetaucht sind, wahrscheinlich von der Mafia …«
»Mafia?«, unterbrach ihn Vito. »Was für eine Mafia? Steht das in deinem Buch? So etwas wie die Mafia gibt es nicht, jedenfalls nicht hier in Amerika.«
»Dann eben Gangster, Papa.« Michael wollte ganz offensichtlich seine Geschichte zu Ende erzählen. »Gangster haben den Polizeichef erschossen, und dann, nachdem sie freigesprochen wurden …«
»Freigesprochen«, wiederholte Vito. »Also haben sie es nicht getan, richtig?«
»Ein paar von ihnen sind freigesprochen worden, aber trotzdem haben diese Gangster es wahrscheinlich getan. Also haben ein Haufen aufgebrachter Bürger angefangen zu randalieren, sind in das Gefängnis eingebrochen und haben alle Italiener gelyncht, die sie finden konnten. Elf Italiener, und die meisten davon waren wahrscheinlich unschuldig.«
»Die meisten?«, fragte Vito.
»Ja«, sagte Michael. Er sah seinen Vater an, offensichtlich auf seine Reaktion gespannt. »Wahrscheinlich waren nur eine Handvoll Gangster an der ganzen Sache schuld.«
»Aha, ich verstehe.« Vito erwiderte Michaels Blick, bis dieser sich schließlich abwandte. »Und darüber möchtest du jetzt dein Referat schreiben.«
»Vielleicht.« Michael hob wieder den Kopf, und seine Stimme klang trotzig. »Vielleicht auch über die italienischen Veteranen im Großen Krieg, die auf Seiten der Amerikaner gekämpft haben. Das interessiert mich auch gerade. Im Krieg haben sich viele Amerikaner italienischer Herkunft ausgezeichnet.«
»Das bezweifle ich nicht. Michael …« Vito schien etwas erklären zu wollen, hielt dann inne und betrachtete den Jungen schweigend. Schließlich strich er ihm sanft über die Wange. »Jeder Mann muss seine Bestimmung finden«, sagte er, umfasste das Gesicht seines Sohnes und küsste ihn.
Michael war anzusehen, dass er innerlich mit sich rang. Dann beugte er sich vor und umarmte seinen Vater.
»Komm runter, wenn du mit Lesen fertig bist.« Vito erhob sich schwerfällig. »Deine Mutter macht braciol’.« Er küsste seine Fingerspitzen, um anzuzeigen, wie lecker die braciol’ sein würden. »Ach«, fügte er dann hinzu, als wäre ihm gerade erst etwas eingefallen, »ich habe da noch was für dich.« Er zog ein Kärtchen aus der Tasche, auf dem ein persönlicher Gruß für Michael stand, der ihn ermutigte, weiter fleißig zu lernen. Unterschrieben war sie von Bürgermeister LaGuardia. Vito reichte sie Michael, wuschelte ihm durchs Haar und ließ ihn in Ruhe.