Giuseppe Mariposa wartete am Fenster, die Hände auf den Hüften, den Blick auf das Empire State Building gerichtet. Um die Spitze des Gebäudes sehen zu können, die nadelgleiche Antenne, die den blassen blauen Himmel durchbohrte, beugte er sich vor und presste das Gesicht gegen die Scheibe. Er hatte miterlebt, wie dieses Gebäude errichtet worden war, und erzählte den Jungs immer wieder gerne, dass er einer der letzten Gäste gewesen war, die im alten Waldorf-Astoria zu Abend gegessen hatten, jenem prächtigen Hotel, das einmal dort gestanden hatte, wo jetzt das höchste Gebäude der Welt aufragte. Schließlich trat er vom Fenster zurück und wischte sich Staub von seinem Jackett.
Unter ihm, auf der Straße, hockte ein grobschlächtiger Mann in Arbeitskleidung auf einem Karren mit Metallschrott, der gemächlich der nächsten Ecke entgegenfuhr. Er hielt eine schwarze Melone über das Knie gestülpt und ließ verschlissene Lederzügel über die Flanken eines Pferdes mit Senkrücken schnalzen. Giuseppe schaute zu, wie der Karren vorbeirollte. Als er um die Ecke bog, nahm er seinen Hut vom Fenstersims, hielt ihn sich vor die Brust und betrachtete sein Spiegelbild in der Glasscheibe. Sein Haar war weiß geworden, aber immer noch dicht und voll, und er strich es mit der Handfläche glatt. Dann rückte er den Knoten seiner Krawatte zurecht und zog sie gerade, damit sie sich oberhalb der Weste nicht aufbauschte. Hinter ihm, in einer halbdunklen Ecke der leeren Wohnung, versuchte Jake LaConti zu sprechen, doch Giuseppe hörte nur ein kehliges Murmeln. Als er sich umdrehte, kam Tomasino gerade ins Zimmer geschlurft, eine braune Papiertüte unter dem Arm. Wie immer war sein Haar zerzaust, obwohl Giuseppe ihm schon hundertmal gesagt hatte, er solle es kämmen, und wie immer hatte er eine Rasur dringend nötig. Alles an Tomasino wirkte ungepflegt. Giuseppe musterte ihn mit einem verächtlichen Blick, den Tomasino, wie gewöhnlich, nicht bemerkte. Seine Krawatte war locker, sein Kragen aufgeknöpft und sein zerknittertes Jackett blutbefleckt. In seinem Hemdausschnitt waren schwarze Haarbüschel zu sehen.
»Hat er was gesagt?« Tomasino zog eine Flasche Scotch aus der Papiertüte, schraubte sie auf und trank einen tiefen Schluck.
Giuseppe warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war halb neun Uhr morgens. »Sieht er so aus, als könnte er etwas sagen, Tommy?« Jakes Gesicht war übel zugerichtet. Das Kinn hing ihm fast auf der Brust.
»Ich wollte ihm den Kiefer nicht brechen«, sagte Tomasino.
»Gib ihm was zu trinken«, erwiderte Giuseppe. »Vielleicht hilft das ja.«
Jake lag halb auf dem Boden, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt, die Beine über Kreuz. Tommy hatte ihn um sechs aus seinem Hotelzimmer gezerrt, und er hatte noch immer den schwarz-weiß gestreiften Seidenpyjama an, in dem er gestern Abend zu Bett gegangen war. Allerdings fehlten jetzt die oberen beiden Knöpfe, und darunter kam die muskulöse Brust eines Mittdreißigers zum Vorschein, etwa halb so alt wie Giuseppe. Tommy kniete sich hin und hob Jakes Kopf leicht an, damit er ihm Scotch einflößen konnte. Giuseppe schaute aufmerksam zu, weil er wissen wollte, ob der Schnaps Wirkung zeigen würde. Er hatte Tommy runter zum Wagen geschickt, um den Scotch zu holen, nachdem Jake ohnmächtig geworden war. Der Junge hustete, und Blut spritzte ihm über die Brust. Seine Augen waren zugeschwollen, und er sagte etwas, das unverständlich gewesen wäre, hätte er nicht immer und immer wieder dieselben Worte wiederholt, während Tommy ihn verprügelte. »Er ist mein Vater.« Es klang wie Er’s mah Vad’.
»Klar, wissen wir.« Tomasino sah zu Giuseppe hoch. »Loyal ist er ja. Das muss man ihm lassen.«
Giuseppe ging neben Tomasino in die Hocke. »Jake. Giacomo. Ich finde ihn so oder so.« Er zog ein Taschentuch hervor, um kein Blut an die Hände zu bekommen, als er das Gesicht des Jungen anhob, damit der ihn ansah. »Deinen alten Herrn. Rosarios Zeit ist gekommen, das ist alles. Dagegen kannst du nichts tun. Rosarios Zeit ist um. Verstehst du mich, Jake?«
»Sì«, sagte Giacomo, die einzige Silbe, die er deutlich aussprechen konnte.
»Gut«, erwiderte Giuseppe. »Wo ist er? Wo zum Teufel versteckt sich der Hurensohn?«
Giacomo versuchte seinen gebrochenen rechten Arm zu bewegen und stöhnte vor Schmerzen.
»Jetzt verrat uns schon, wo er ist, Jake!«, brüllte Tomasino. »Verdammte Scheiße, was ist nur los mit dir?«
Giacomo versuchte die Augen zu öffnen, als wollte er unbedingt sehen, wer ihn da anschrie. »Er’s mah Vad’.«
»Che cazzo!« Giuseppe warf die Hände in die Höhe. Er musterte Jake, lauschte auf seinen pfeifenden Atem. Von der Straße hallten die Rufe der Kinder herauf, die dort Fangen spielten, und wurden dann wieder leiser. Bevor Giuseppe die Wohnung verließ, warf er Tommy einen vielsagenden Blick zu. Vor der Tür wartete er, bis er den dumpfen Knall eines Schalldämpfers hörte, ein Geräusch wie ein Hammerschlag auf Holz. Kurz darauf, als Tommy zu ihm in den Flur hinauskam, fragte er: »Bist du sicher, dass du ihn erledigt hast?« Er setzte den Hut auf und schob ihn sich in die Stirn.
»Was denkst du denn, Joe?«, entgegnete Tomasino. »Weiß ich etwa nicht, was ich tu?« Als Giuseppe nicht antwortete, verdrehte er die Augen. »Seine Schädeldecke ist weg. Sein Gehirn ist über den ganzen Boden verteilt.«
Am oberen Absatz der Treppe, die zur Straße hinunterführte, blieb Giuseppe stehen. »Er wollte seinen Vater nicht verraten. Dafür hat er Respekt verdient.«
»Er hat was weggesteckt«, stimmte Tomasino ihm zu. »Trotzdem, du hättest mich an seine Zähne ranlassen sollen. Glaub mir, da redet jeder.«
Giuseppe zuckte mit den Achseln – wahrscheinlich hatte Tommy recht. »Er hat ja noch einen anderen Sohn. Machen wir da irgendwelche Fortschritte?«
»Bisher nicht. Kann sein, dass er sich zusammen mit Rosario versteckt hält.«
Giuseppe ließ sich das noch einen Moment durch den Kopf gehen, bevor sich seine Gedanken wieder Jake LaConti zuwandten. Es war unmöglich gewesen, aus dem Jungen rauszubekommen, wo sein Vater war. »Weißt du was, Tommy? Ruf die Mutter an und erklär ihr, wo sie ihn finden kann.« Er hielt inne, dachte nach und setzte hinzu: »Wir besorgen ihr einen guten Leichenbestatter, der ihn wieder präsentabel macht, dann können sie ihn ordentlich beerdigen.«
»Ich bezweifle ja, dass jemand den wieder hinkriegt, Joe.«
»Wie heißt noch mal der Leichenbestatter, der bei O’Banion so gute Arbeit geleistet hat?«
»Ja, ich weiß, wen du meinst.«
»Hol den!« Giuseppe tippte Tomasino mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Ich bezahle alles. Die Familie muss davon nichts wissen. Sag ihm, er soll seine Dienste kostenlos anbieten, weil er ein Freund von Jake war, irgendwas in der Art. Das können wir doch tun, oder?«
»Klar. Das ist nobel von dir, Joe.« Tomasino tätschelte Giuseppe den Arm.
»Also gut«, sagte Giuseppe. »So viel dazu.« Und er lief die Treppe hinunter, wobei er, wie ein kleiner Junge, immer zwei Stufen auf einmal nahm.