Sonny klopfte ein Mal, öffnete die Haustür und konnte keine zwei Schritte in das Chaos hinein machen, da sprang ihm schon Connie in die Arme und schrie seinen Namen. Ihr hellgelbes Kleidchen war abgewetzt und schmutzig – offenbar war sie auf die Knie gefallen. Seidige dunkelbraune Strähnen, die sich aus ihren beiden leuchtend roten Haarspangen gelöst hatten, fielen ihr ins Gesicht. Tom schloss hinter Sonny die Tür; draußen wehte der Herbstwind Blätter und Abfälle von der Arthur Avenue auf die Hughes und an Fat Bobby Altieri und Johnny LaSala vorbei, zwei Ex-Boxern aus Brooklyn, die auf der Treppe vor dem Haus der Corleones standen, rauchten und sich über die Giants unterhielten. Connie schlang ihre dünnen Mädchenarme um Sonnys Hals und gab ihm einen lauten Kuss auf die Wange. Michael sprang von dem Tisch auf, an dem er gerade mit Paulie Gatto Dame spielte, und Fredo kam aus der Küche herbeigerannt. Urplötzlich schienen alle Leute in der Wohnung – und an diesem Sonntagnachmittag waren das nicht wenige – bemerkt zu haben, dass Sonny und Tom eingetroffen waren.
Im ersten Stock, in einem Arbeitszimmer am oberen Ende einer Holztreppe, erhob sich Genco Abbandando aus einem Ledersessel und schloss die Tür. »Sieht so aus, als wären Sonny und Tom gerade aufgetaucht.« Da jeder, der nicht taub war, den Namen der beiden bereits mehrmals gehört hatte, war diese Bemerkung unnötig. Vito, der auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch saß, strich sich die schwarzen Haare glatt, trommelte mit den Fingern auf den Knien und sagte: »Dann lasst uns weitermachen. Ich möchte meine Jungs sehen.«
»Wie ich bereits gesagt habe«, fuhr Clemenza fort, »Mariposa bekommt einen Anfall.« Er zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und schneuzte sich. »Ich hab mich erkältet«, brummte er und wedelte mit dem Taschentuch, als wollte er es Vito beweisen. Clemenza war ein stämmiger Mann mit rundem Gesicht und hoher Stirn. Sein korpulenter Körper ruhte in einem Ledersessel neben Genco. Zwischen ihnen stand ein Tischchen mit einer Flasche Anislikör und zwei Gläsern.
Tessio, der Vierte im Zimmer, stand vor einem der Fenster und schaute auf die Hughes Avenue hinaus. »Emilio hat einen seiner Jungs zu mir geschickt.«
»Zu mir auch«, sagte Clemenza.
Vito sah überrascht drein. »Glaubt Emilio Barzini etwa, wir würden seinen Whisky klauen?«
»Nein«, erwiderte Genco. »So dumm ist Emilio nicht. Giuseppe glaubt, dass wir seinen Whisky klauen, und Emilio glaubt, dass wir vielleicht wissen, wer dahintersteckt.«
Vito strich sich mit dem Handrücken übers Kinn. »Wie schafft es jemand, der so dumm ist« – er meinte Giuseppe Mariposa –, »so erfolgreich zu sein?«
»Emilio arbeitet für ihn«, antwortete Tessio. »Das hilft.«
»Ja, die Barzini-Brüder arbeiten für ihn«, bestätigte Clemenza, »und außerdem die Rosato-Brüder, Tomasino Cinquemani, Frankie Pentangeli – Madon’! Seine Capos …« Clemenza ballte die Hände, um auszudrücken, dass Mariposas Capos harte Jungs waren.
Vito griff nach dem Glas mit gelblichem Strega auf dem Tisch. Er nahm einen Schluck und stellte es wieder hin. »Dieser Mann hat Beziehungen nach Chicago. Er hat die Tattaglias in der Tasche. Politiker und reiche Geschäftsleute unterstützen ihn …« Vito öffnete die Handflächen. »Warum sollte ich mir einen solchen Mann zum Feind machen, indem ich ihm ein paar Dollar stehle?«
»Er ist ein guter Freund von Capone«, fügte Tessio hinzu. »Sie kennen sich schon ewig.«
»Frank Nitti hat jetzt in Chicago das Sagen«, gab Clemenza zu bedenken.
»Nitti glaubt, dass er in Chicago das Sagen hat«, entgegnete Genco. »In Wirklichkeit hat Ricca das Heft in der Hand, seit Capone im Knast sitzt.«
Vito seufzte vernehmlich, und die drei Männer schwiegen sofort. Mit einundvierzig hatte sich Vito noch immer sein jugendliches Aussehen bewahrt: sein dunkles Haar, seine breite Brust und seine muskulösen Arme, seine olivfarbene Haut, die von keinerlei Falten verunstaltet wurde. Obwohl er etwa im gleichen Alter war wie Clemenza und Genco, wirkte er zehn Jahre jünger als sie und zwanzig Jahre jünger als Tessio, der schon bei seiner Geburt wie ein alter Mann ausgesehen hatte. »Genco, Consigliere. Ist es möglich, dass er so stupido ist? Oder …« Vito unterstrich die Frage mit einem Achselzucken. »Oder führt er etwas anderes im Schilde?«
Genco dachte über diese Möglichkeit nach. Genco war ein schlanker Mann mit einer Hakennase, der stets ein wenig nervös wirkte. Er litt fortwährend unter agita, so dass er alle paar Stunden zwei Magentabletten in Wasser auflöste und wie einen Whisky hinunterkippte. »Giuseppe ist nicht so dumm, dass er nicht begreift, was die Stunde geschlagen hat. Er weiß, dass die Prohibition demnächst aufgehoben wird, und diese Geschichte mit LaConti – ich glaube, dass er sich in Position bringen will, damit er das Heft in der Hand hat. Aber die Sache mit LaConti ist noch nicht vorbei …«
»LaConti ist bereits tot«, unterbrach ihn Clemenza. »Er weiß es nur noch nicht.«
»Er ist noch nicht tot«, erwiderte Genco. »Es wäre ein Fehler, einen Mann wie Rosario LaConti zu unterschätzen.«
Tessio schüttelte den Kopf, als täte ihm ausgesprochen leid, was er jetzt sagen musste. »LaConti steht mit einem Bein im Grab.« Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Innentasche seines Jacketts. »Die meisten seiner Männer sind bereits zu Mariposa übergelaufen.«
»LaConti ist erst dann tot, wenn er tot ist!«, bellte Genco. »Und wenn das passiert, müssen wir aufpassen! Sobald die Prohibition aufgehoben ist, hat Giuseppe uns alle unter der Knute. Er wird bestimmen, wo’s langgeht, und den Rest vom Kuchen so aufteilen, dass er das größte Stück abbekommt. Mariposas Familie wird die mächtigste in New York sein – und auch sonst überall.«
»Mit Ausnahme von Sizilien«, bemerkte Clemenza.
Genco ignorierte ihn. »Aber wie gesagt, LaConti ist noch nicht tot, und bis Giuseppe ihn erledigt hat, gibt es für ihn nichts Wichtigeres.« Genco zeigte auf Tessio. »Was bedeutet, dass er glaubt, du würdest seinen Whisky klauen. Oder du«, sagte er an Clemenza gewandt, »oder wir alle«, sagte er zu Vito. »Er hat es aber nicht darauf abgesehen, mit uns Ärger anzufangen. Jedenfalls nicht, solange die Sache mit LaConti noch offen ist. Aber er möchte, dass die Überfälle aufhören.«
Vito zog eine Schreibtischschublade auf, nahm eine Kiste Nobili-Zigarren heraus und wickelte eine davon aus. Zu Clemenza sagte er: »Bist du mit Genco einer Meinung?«
Clemenza faltete die Hände über dem Bauch. »Mariposa hat keinen Respekt vor uns.«
»Er hat vor niemand Respekt«, bestätigte Tessio.
»Für Giuseppe sind wir nur ein Haufen finocch’s.« Clemenza rutschte unruhig auf seinem Sessel herum und wurde leicht rot. »Nicht besser als die irischen Rowdys, die er aus dem Geschäft gedrängt hat – kleine Möchtegerne. Ich glaube, dass es ihm egal ist, ob er sich mit uns anlegt oder nicht. Der hat mehr Jungs auf der Straße, als er brauchen kann.«
»Dem widerspreche ich nicht«, sagte Genco und trank seinen Anislikör aus. »Mariposa ist dumm. Er hat vor niemand Respekt. Das alles stimmt. Aber seine Capos sind nicht dumm. Sie werden dafür sorgen, dass er sich zuerst um die Sache mit LaConti kümmert. Bis das vorbei ist, sind diese Whiskydiebstähle nur Nebensache, nichts weiter.«
Vito zündete seine Zigarre an und wandte sich an Tessio. Im Erdgeschoss rief eine der Frauen etwas auf Italienisch, und einer der Männer rief zurück, was lautes Gelächter auslöste.
Tessio drückte seine Zigarette in dem schwarzen Aschenbecher auf dem Fenstersims aus. »Giuseppe hat keine Ahnung, wer ihm den Whisky klaut. Er droht uns, aber er wird abwarten, was passiert.«
Genco stand kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Vito, das ist eine ganz klare Botschaft! Wenn wir von ihm stehlen, sollten wir besser damit aufhören. Wenn nicht, sollten wir besser herausfinden, wer dahintersteckt, und dem ein Ende machen – in unserem eigenen Interesse. Seine Capos wissen, dass wir nicht so dumm sind, uns wegen ein paar Dollar mit ihnen anzulegen, aber sie wollen sich auf die Sache mit LaConti konzentrieren, und wir sollen währenddessen die Drecksarbeit für sie machen. So müssen sie sich nicht darum kümmern, und ich würde wetten, dass die Barzinis auf diese Idee verfallen sind.« Er holte eine Zigarre aus seiner Jacketttasche, riss die Verpackung auf. »Vito, hör auf deinen Consigliere.«
Vito schwieg, bis Genco sich wieder beruhigt hatte. »Wir arbeiten jetzt also für Jumpin’ Joe Mariposa.« Er zuckte mit den Achseln. »Wie kommt es«, fragte er in die Runde, »dass niemand weiß, wer hinter diesen Überfällen steckt? Sie müssen den Whisky doch an jemand verkaufen, oder?«
»Sie verkaufen ihn an Luca Brasi«, sagte Clemenza, »und der verkauft ihn an die Speakeasys in Harlem.«
»Warum räumt Giuseppe dann nicht diesen Luca Brasi aus dem Weg?«
Clemenza und Tessio sahen einander an, als hofften sie, der andere würde zuerst reden. Schließlich war es Genco, der das Wort ergriff. »Luca Brasi ist ein Tier. Er ist groß, so stark wie zehn Mann und völlig verrückt. Mariposa hat Angst vor ihm. Alle haben Angst vor ihm.«
»Il diavolo!«, sagte Clemenza. »Vinnie Suits schwört, er habe gesehen, wie Brasi aus nächster Nähe einen Schuss ins Herz einsteckte und einfach aufgestanden und weitergelaufen ist, als sei nichts geschehen.«
»Ein Dämon aus der Hölle«, sagte Vito und lächelte, als würde ihn das amüsieren. »Wie kommt es, dass ich von diesem Kerl bisher noch nichts gehört habe?«
»Er ist nur ein kleiner Gauner«, erwiderte Genco. »Mehr als vier, fünf Leute hat der nicht. Die haben sich auf Raubüberfälle spezialisiert, und dann haben sie noch die Lotterie am Laufen, die sie den Iren abgenommen haben. Bisher hat er kein Interesse gezeigt, seinen Einflussbereich zu vergrößern.«
»Wo macht er seine Geschäfte?«, fragte Vito.
»Im irischen Viertel zwischen der Zehnten und Elften und oben in Harlem«, antwortete Tessio.
»Also gut.« Vito nickte, um anzudeuten, dass die Diskussion damit beendet war. »Ich werde mich um diesen demone kümmern.«
»Vito«, sagte Genco, »Luca Brasi ist niemand, mit dem man vernünftig reden kann.«
Vito wandte sich zu Genco um, blickte jedoch geradewegs durch ihn hindurch.
Genco ließ sich nach hinten gegen die Lehne fallen.
»Sonst noch etwas?« Vito schaute auf seine Taschenuhr. »Das Abendessen wartet bereits auf uns.«
»Ich hab furchtbar Hunger«, sagte Clemenza, »aber ich kann nicht bleiben. Meine Frau hat ihre Familie eingeladen. Madre ’Dio!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Genco musste laut lachen, und sogar Vito konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Clemenzas Frau war genauso schwergewichtig wie er, und sie hatte in ihrer Ehe eindeutig die Hosen an. Ihre Familie war dafür bekannt, dass sie gerne herumschrie und sich über alles Mögliche heftige Wortwechsel lieferte, von Baseball bis Politik.
»Eine Sache noch«, sagte Tessio. »Wenn wir schon bei den Iren sind. Ich hab gehört, dass sich da eine Gruppe herausbildet. Die O’Rourke-Brüder sollen sich mit den Donnellys und Pete Murray getroffen haben und noch mit ein paar anderen. Ihnen passt nicht, wie sie aus ihren alten Geschäften gedrängt wurden.«
Vito tat das mit einer Kopfbewegung ab. »Die einzigen Iren, um die wir uns Sorgen machen müssen, sind Cops und Politiker. Die Leute, von denen du da sprichst, das sind Straßenschläger. Wenn die versuchen, sich zu organisieren, lassen sie sich eh nur volllaufen und bringen sich gegenseitig um.«
»Trotzdem«, beharrte Tessio. »Das könnte ein Problem werden.«
Vito warf Genco einen fragenden Blick zu.
»Behalt sie erst mal im Auge«, sagte Genco zu Tessio. »Wenn du sonst noch was hörst …«
Vito erhob sich von seinem Stuhl und klatschte in die Hände – das Treffen war beendet. Er drückte seine Zigarre in einem Kristallaschenbecher aus, trank den letzten Schluck Strega und folgte Tessio durch die Tür und die Treppe hinunter. Sein Haus war voll von Verwandten und Freunden. Im Wohnzimmer am Fuß der Treppe befanden sich Richie Gatto, Jimmy Mancini und Al Hats mitten in einer Diskussion über die Yankees und Babe Ruth. »Il bambino!«, rief Mancini, bevor er Vito die Treppe herunterkommen sah. Gemeinsam mit den anderen Männern stand er auf. Al, ein elegant gekleideter kleiner Mann Mitte fünfzig, rief laut zu Tessio: »Diese cetriol’s wollen mir erzählen, Bill Terry sei ein besserer Manager als McCarthy!«
»Memphis Bill!«, erwiderte Genco.
Clemenza rief ebenso laut: »Die Yanks liegen fünf Spiele hinter den Senators!«
Und Tessio sagte: »Die Giants haben den Sieg schon so gut wie in der Tasche.« Sein Tonfall legte nahe, dass er darüber nicht eben glücklich war, schließlich war er ein eingefleischter Fan der Brooklyn Dodgers, aber so war es nun mal.
»Pa«, sagte Sonny, »wie geht es dir?« Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und umarmte Vito.
Vito tätschelte Sonny den Nacken. »Wie läuft es bei der Arbeit?«
»Gut!« Sonny deutete auf die offene Tür zwischen Wohn- und Esszimmer, durch die gerade Tom trat, Connie auf dem Arm und Fredo und Michael rechts und links neben sich. »Schau mal, wen ich mitgebracht habe«, sagte er.
»Hallo, Pa!« Tom setzte Connie auf dem Sofa ab und ging zu Vito hinüber.
Vito umarmte ihn und hielt ihn dann an der Schulter. »Was hast du denn hier zu suchen, solltest du nicht studieren?«
In dem Moment kam Carmella aus der Küche. Sie trug eine große Platte mit Antipasti: zusammengerollte Scheiben capicol’ mit leuchtend roten Tomaten, schwarzen Oliven und Stücken frischen Käses. »Er braucht etwas Ordentliches zu essen!«, rief sie. »Von dem Mist, den sie ihm da vorsetzen, verkümmert noch sein Gehirn! Mangia!« Sie trug die Platte zum Tisch, bei dem es sich eigentlich um zwei Tische handelte, die aneinandergestellt worden waren. Eine rote und eine grüne Tischdecke waren darübergelegt.
Tessio und Clemenza entschuldigten sich und mussten erst ein halbes Dutzend Hände schütteln und ebenso viele Umarmungen erwidern, bevor sie gehen konnten.
Vito legte Tom die Hand auf den Rücken und führte ihn ins Esszimmer, wo die anderen Männer Stühle an den Tisch schoben, während die Frauen die Gedecke auflegten und weitere Tabletts mit Antipasti und Brot sowie rote und gelbe Karaffen mit Öl und Essig hereintrugen. Jimmy Mancinis Frau, kaum über zwanzig, war mit den anderen Frauen in der Küche zugange. Sie bereiteten die Tomatensoße mit Fleisch und Gewürzen zu, und alle paar Minuten war ihr hohes, gackerndes Lachen zwischen den Stimmen der älteren Frauen zu hören, die einander Geschichten über ihre Familien und Nachbarn erzählten. Carmella am Küchentisch hinter ihnen beteiligte sich ebenfalls an der Unterhaltung, während sie Teigstreifen schnitt, die sie über große Stücke Ricotta legte und dann die Ränder mit einer Gabel festdrückte. Sie war schon früh aufgestanden, um den Teig vorzubereiten, und bald würde sie die Ravioli in den großen Topf mit kochendem Wasser werfen. Neben ihr am Tisch war Anita Columbo, eine von Carmellas Nachbarinnen, schweigend damit beschäftigt, die braciol’ vorzubereiten, während Anitas Enkelin Sandra, eine Sechzehnjährige mit rabenschwarzem Haar, die erst vor kurzem aus Sizilien herübergekommen war, leicht angebräunte Kartoffelkroketten auf einem hellblauen Servierteller anrichtete. Sandra war ebenso schweigsam wie ihre Großmutter, obwohl sie ein einwandfreies Englisch sprach, das sie von ihren Eltern gelernt hatte, die bei Anita in der Bronx aufgewachsen waren.
Auf dem Wohnzimmerteppich spielte Connie mit der gleichaltrigen Lucy Mancini, die bereits doppelt so viel auf die Waage brachte, obwohl sie kaum größer war. Sie saßen in einer Ecke und spielten leise mit Puppen und Teetassen. Michael Corleone, dreizehn und in der achten Klasse, stand im Wohnzimmer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er trug ein schlichtes weißes Hemd mit einem Stehkragen, saß am Tisch und hatte die Hände vor sich gefaltet. Gerade hatte er allen Anwesenden erklärt, dass er bis zum Ende des Jahres in Amerikanischer Geschichte ein »umfangreiches« Referat schreiben musste und dass er »in Betracht zog«, es über die Teilstreitkräfte der USA zu verfassen: das Heer, die Marineinfanterie, die Marine, die Luftwaffe und die Küstenwache. Fredo Corleone, der sechzehn Monate älter war als Michael und in eine Klasse über ihm ging, rief: »Hey, stupido! Seit wann gehört die Küstenwache zu den Streitkräften?«
Michael warf seinem Bruder einen Blick zu. »Schon immer«, sagte er und schaute dann zu Vito.
»Depp!« Fredo gestikulierte mit einer Hand, während er mit der anderen einen seiner Hosenträger umklammert hielt. »Die Küstenwache ist ganz bestimmt nicht Teil der Armee.«
»Das ist aber komisch, Fredo.« Michael lehnte sich zurück und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Bruder zu. »Dann steht in der Broschüre, die ich von der Musterungsstelle bekommen habe, also etwas Falsches.«
Als der ganze Tisch in Gelächter ausbrach, rief Fredo seinem Vater zu: »Hey, Pa! Die Küstenwache gehört nicht zu den Streitkräften, stimmt’s?«
Vito, der am Kopf des Tisches saß, schenkte sich aus einem einfachen Krug Rotwein ein. Das Alkoholverbot bestand noch immer, aber in der Bronx gab es nicht eine einzige italienische Familie, die zu ihrer Sonntagsmahlzeit keinen Wein trank. Nachdem Vitos Glas voll war, schenkte er Sonny ein, der direkt links neben ihm saß. Rechts von ihm stand Carmellas leerer Stuhl.
Tom antwortete an Vitos Stelle. Er legte Fredo den Arm um die Schulter und sagte: »Mikey hat recht. Allerdings hält sich die Küstenwache aus den größeren Konflikten heraus.«
»Siehst du«, sagte Fredo zu Michael.
»Und wenn schon«, erwiderte Michael laut. »Wahrscheinlich schreibe ich mein Referat über den Kongress.«
Vito nickte ihm aufmunternd zu: »Vielleicht wirst du irgendwann selbst dem Kongress angehören.«
Michael lächelte, während Fredo etwas vor sich hin murmelte, dann kamen Carmella und die anderen Frauen herein und stellten zwei große Schüsseln mit Ravioli in Tomatensoße auf den Tisch sowie Platten mit Fleisch und Gemüse. Beim Anblick des Essens redeten alle aufgeregt durcheinander, und während die Frauen ausschöpften, wurde laut gescherzt. Nachdem jeder seine Portion bekommen hatte, hob Vito sein Glas und sagte: »Salute!«, woraufhin alle es ihm gleichtaten und sich dann über das Sonntagsmahl hermachten.
Wie immer redete Vito während des Essens nicht viel. Um ihn herum unterhielten sich seine Verwandten und Freunde angeregt, doch er aß langsam, nahm sich Zeit, ließ sich Soße und Pasta, Fleischbällchen und braciol’ auf der Zunge zergehen und nahm tiefe Schlucke von dem Rotwein, der den weiten Weg aus der Heimat gekommen war, um seinen Sonntagstisch zu schmücken. Ihm gefiel es nicht, wie andere am Tisch, vor allem Sonny, das Essen hinunterschlangen. Vito hatte den Eindruck, dass sie sich mehr auf das konzentrierten, was geredet wurde, als auf die Mahlzeit. Das ärgerte ihn, aber anmerken ließ er sich davon nichts, denn er wusste, dass er es war, der aus der Reihe fiel. Er tat gerne eines nach dem anderen, schenkte allem die nötige Aufmerksamkeit. In vieler Hinsicht unterschied er sich grundlegend von den Menschen, die ihn großgezogen hatten und unter denen er lebte. Das war ihm durchaus bewusst. Wenn es um Sex ging, war er stets äußerst zugeknöpft, während seine Mutter und die meisten anderen Frauen, die er kannte und liebte, mit Begeisterung derbe Zoten rissen. Carmella verstand Vito und achtete darauf, was sie sagte, wenn er in Hörweite war, doch einmal war er an der Küche vorbeigekommen, die voller Frauen gewesen war, und hatte Carmella eine vulgäre Bemerkung über die sexuellen Vorlieben einer anderen Frau machen hören. Das war ihm noch Tage später unangenehm gewesen. Vito war ein zurückhaltender Mensch – seine Landsleute dagegen waren für ihre Direktheit und Emotionalität bekannt, jedenfalls unter Verwandten und Freunden. Er aß langsam, und während er aß, hörte er aufmerksam zu.
»Vito«, sagte Carmella nach einer Weile. Sie bemühte sich, gelassen zu bleiben, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen. »Gab es da nicht etwas, das du uns sagen wolltest?«
Vito berührte die Hand seiner Frau und ließ den Blick über den Tisch schweifen. Die Gattos und Mancinis und Abbandandos sahen ihn neugierig an, ebenso seine Familie, seine Söhne Sonny und Tom, Michael und Fredo. Selbst Connie, die am anderen Ende des Tisches neben ihrer Freundin Lucy saß, musterte ihn erwartungsvoll.
»Liebe Familie, liebe Freunde«, sagte Vito und machte mit seinem Glas eine Handbewegung, die die Abbandandos einschloss, »ich möchte diese Gelegenheit ergreifen und euch alle wissen lassen, dass ich auf Long Island ein Stück Land gekauft habe, nicht allzu weit weg, in Long Beach. Dort lasse ich Häuser für meine Familie und einige meiner engsten Freunde und Geschäftspartner bauen.« Er nickte in Richtung der Abbandandos. »Genco und seine Familie werden mit uns nach Long Island ziehen. Nächstes Jahr um diese Zeit werden wir hoffentlich dort einziehen können.«
Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Carmella und Allegra Abbandando lächelten als Einzige, denn sie hatten beide schon die Grundstücke und die Entwürfe der Architekten gesehen. Die anderen schienen unsicher, wie sie reagieren sollten.
»Pa, meinst du wie ein Gehöft? Alle Häuser dicht beieinander?«, fragte Tom.
»Sì! Esattamente!«, erwiderte Allegra und verstummte sofort wieder, als Genco sie unwirsch ansah.
»Es handelt sich um sechs Grundstücke«, fuhr Vito fort, »und im Laufe der Zeit werden wir auf allen Häuser errichten. Im Moment werden dort Häuser für uns, die Abbandandos, Clemenza und Tessio gebaut und ein weiteres für unsere Geschäftspartner, wenn wir sie in der Nähe haben möchten.«
»Es wird von einer Mauer umgeben sein«, sagte Carmella, »wie eine Burg.«
»Wie eine Festung?«, fragte Fredo.
»Sì«, antwortete Carmella und lachte.
»Was ist mit der Schule?«, wollte Michael wissen.
»Macht euch keine Sorgen«, erwiderte Carmella. »Ihr werdet dieses Schuljahr noch hier abschließen.«
»Können wir hinfahren?«, rief Connie. »Und uns alles anschauen?«
»Bald«, sagte Vito. »Wir werden einen Ausflug unternehmen. Einen ganzen Tag lang.«
»Der Herr meint es gut mit Ihnen«, sagte Anita Columbo. »Aber wir werden Sie auch vermissen.« Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Ohne die Corleones wird hier nichts mehr so sein, wie es war.«
»Für unsere Freunde werden wir immer da sein«, sagte Vito. »Das verspreche ich Ihnen.«
Sonny, der ungewöhnlich schweigsam gewesen war, schenkte Anita ein strahlendes Lächeln. »Keine Angst, Mrs. Columbo. Sie glauben doch nicht etwa, dass ich Ihre hübsche Enkelin aus den Augen lassen werde!«
Sonnys Dreistigkeit brachte alle am Tisch zum Lachen – alle außer Sandra, Mrs. Columbo und Vito.
Als das Gelächter verstummt war, sagte Vito zu Mrs. Columbo: »Verzeihen Sie meinem Sohn, Signora. Er ist mit einem guten Herzen und einem losen Mundwerk gesegnet.« Um diese Bemerkung zu unterstreichen, gab er Sonny einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.
Vitos Worte und der Klaps provozierten erneutes Gelächter, und auch Sandra lächelte schüchtern. Mrs. Columbos abweisende Miene hellte sich jedoch nicht im Mindesten auf.
Jimmy Mancini, ein großer Kerl Anfang dreißig, hob sein Weinglas. »Auf die Corleones! Möge Gott sie segnen und erhalten! Möge die Familie wachsen und gedeihen!« Er hob sein Glas noch höher, sagte: »Salute!«, und trank einen tiefen Schluck. Alle am Tisch taten es ihm nach, riefen: »Salute!«, und tranken.