3
Ryk war einen Moment eingenickt, denn die Warterei hatte sich arg in die Länge gezogen.
Zwischendurch war Conrad einmal aufgetaucht, um weitere Rationen vorbeizubringen und »nach dem Rechten« zu sehen. Seine Antworten auf ihre – sich zugegebenermaßen wiederholenden – Fragen waren immer noch von kryptischem Amüsement gewesen. Auch wollte oder konnte er keine genauen Angaben zur verbleibenden Reisezeit machen. »Dauert nicht mehr lange«, klang aus dem Mund dieses Mannes nicht sehr tröstlich. Es hatte einfach zu viel von »Lasst mich in Ruhe!«
Dann aber fuhr ein Zittern durch die Hülle der Süße Maid und das Schiff knirschte und ächzte besonders laut. Es war, als sei es mit einer anderen Masse zusammengestoßen, nur sehr langsam. Sirenen erklangen, nicht alarmierend, sondern hinweisend. Das konnte bedeuten, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren. Es konnte auch bedeuten, dass das Schiff einen lausigen Piloten hatte. In jedem Fall tat sich etwas und nur wenige Minuten später stand Conrad in der Tür, begleitet von Rita, die eine Waffe auf die Gefangenen richtete. Ihr war anzusehen, dass sie absolut keine Probleme mit einem Ausbruchsversuch hätte, denn dann würde ihr niemand vorwerfen, alle vier einfach niederzumähen.
Sie taten ihr den Gefallen nicht. Sia sah Rita sehr missfallend an. Ihre Blicke konnten zwar nicht töten, viel fehlte aber nicht. Ritas Waffe senkte sich um einige Zentimeter.
»Was passiert jetzt?«, fragte Uruhard.
»Ihr kennt den Weg«, erwiderte Conrad lächelnd. »Einfach wieder zurück.«
»Wo sind wir?«, fragte Ryk.
»Mercia-Pylon III. Anlaufstation für Crawler. Ihr wurdet angekündigt. Und ihr werdet erwartet.«
»Von den Auri?«
»Von einem. Immerhin. Das ist eine Ehre. Er schickt keinen Unterling, er kommt selbst. Ihr seid irgendwie wichtig für ihn. Er hat sehr interessiert auf meine Schilderung reagiert, wie wir euch gefunden haben. Gut, dass wir euch alle abliefern, lebend und in einem Stück.«
Conrad warf einen Seitenblick auf Rita, die ihn mit einem Grunzen quittierte. Sie war immer noch nicht überzeugt. Ihr Chef lächelte verständnisvoll.
Sie begegneten niemandem und als sie in die Schleusenkammer traten, bewahrheitete sich, was Ryk befürchtet hatte: Conrad hatte nicht die geringste Absicht, ihnen ihre Habseligkeiten zurückzugeben.
Uruhard fragte trotzdem danach, allein schon, um die Form zu wahren.
Er bekam nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln zur Antwort. Dann öffnete sich die Schleusentür und sie konnten einen Blick nach draußen werfen.
Dort war eine Halle.
Ryk starrte einen Moment und blieb stehen. Er war ein klein wenig überwältigt. Eine Halle mit schrägen Wänden, die den Raum endlos wirken ließen und einen Ausblick auf noch viel mehr von … allem boten.
Es war alles voller Menschen, geschäftigem Lärm, Stimmengewirr und sich vermischenden Gerüchen. Metallisch. Organisch. Schweiß. Parfum. Unidentifizierbar, aber ein olfaktorischer Ausdruck steter Betriebsamkeit. Reisende. Arbeiter. Wachen. Männer, Frauen, sogar vereinzelte Kinder. Viele Schiffe waren hier angedockt, eine Hälfte ihrer Hüllen ragte in den saalförmigen Bau, die andere Hälfte erstreckte sich wohl ins Weltall. Schleusen öffneten und schlossen sich. Große Maschinen verluden Kisten und Container. Es gab Flüche und Rufe und Befehle, die irgendwer befolgte oder auch nicht. Durcheinander? Vielleicht. Aber das Chaos schien System zu haben, denn es wurden Dinge vollbracht.
Ein Umschlagsplatz, ein Treffpunkt, ein Raumhafen.
Raumhafen .
Ryk ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Es erfüllte ihn mit einer großen Faszination, die für einen Moment selbst die Ungewissheit ihrer Situation überlagerte. Raumhafen . Darin lag ein wunderbares Versprechen von Weite, Spannung, Abenteuer, Vielfalt, endlosen Möglichkeiten. All das, was einem Springer normalerweise im Blut lag.
Ryk jedenfalls, aufgeregt, gespannt und ein wenig ängstlich, fand es vor allem ganz wunderbar. Er sog die Atmosphäre, die auf ihn einströmte, in sich auf. Hier war Leben. Hier lag das Versprechen eines weiten Horizonts, sichtbar durch große, gewölbte Fenster, die den Blick ins Weltall freigaben.
Wunderbar .
So viele Menschen. Eine Metropole im Raum. Was für ein Ort!
Und direkt vor der Rampe der Süße Maid stand ein ganz besonderes Exemplar von Mensch, abwartend, sanft lächelnd, das sie beobachtete wie sie ihre überwältigende Umgebung.
Es musste sich um einen Auri handeln. Denn der hochgewachsene, feingliedrige Mann mit dem schmalen Kopf war ganz in Gold gekleidet. Er schimmerte und glänzte bei jeder Bewegung, ein Sinnbild permanenter Reflexion und Lichtbrechung. Er trug eine lange Tunika, die ihm bis zu den Knien reichte, darunter eine Hose, die in Schnürstiefeln steckte. Die Stiefel waren schwarz lackiert mit goldenen Verzierungen, wie zwei antike Schmuckkästchen aus Andhmergens Museum. Um seine Schultern war eine Art Cape drapiert, das keine andere Funktion als die eines modischen Accessoires zu erfüllen schien. Ein goldenes Band umschloss seinen Kopf auf Augenhöhe, einmal um den ganzen Schädel herum. Eine Art Brille? Auch nur Mode? Ryk konnte es nicht ermessen. An der Schläfe trug er ein kunstvolles Tattoo, eine herausragende Handwerkskunst, und darin eingebettet war ein funkelnder Edelstein.
Begleitet wurde der Auri – und bis er etwas anderes hörte, würde Ryk ihn so bezeichnen – von vier Menschen in Uniformen, die ebenfalls mehr herausgeputzt als zweckmäßig gekleidet erschienen. Sie hatten kurze Schwerter an den Gürteln, ganz andere Waffen als die der Wolkensamurai, und trugen Handfeuerwaffen in Holstern. Ihre Uniformjacken waren mit Epauletten geschmückt und jeder trug eine Art Halsband mit einer Metallplatte vor der Brust, auf der ein Symbol eingraviert war. Alles absolut makellos. Einer hatte ebenfalls so ein Tattoo, nicht ganz so prächtig, aber mit demselben, wunderschönen Edelstein. Möglicherweise ein Statussymbol.
Ryk fand keinen Hinweis darauf, dass die vier – zwei Männer und zwei Frauen – nicht auch mit den Waffen umgehen konnten, die sie hier zur Schau trugen. Er musste annehmen, dass diese Präsentation durchaus mit der Option verbunden war, sich auch die Uniform dreckig zu machen.
»Genug gestarrt. Folgt mir!« Conrad ging voran. Es folgten seine Gefangenen und die grimmige Rita.
Der Kommandant der Süße Maid verbeugte sich vor dem Auri. Eine so formvollendete Bewegung hätte Ryk ihm gar nicht zugetraut. Conrad, das begriff er in diesem Moment der Klarheit, hatte nicht einfach nur Respekt vor dem Goldenen. Er hatte Angst.
Ryk wusste, dass er deswegen keine Genugtuung empfinden sollte. Conrads Schaden war nicht notwendigerweise sein Nutzen, vielleicht sollte er auch besser Angst vor dem Auri haben. Höchstwahrscheinlich sogar.
Der Prächtige nahm die Verbeugung zur Kenntnis. Sie erschien ihm zweifellos gleichermaßen selbstverständlich wie angemessen.
»Conrad Atman, Crawler 73. Du hast etwas für mich?«
Die Stimme des Goldbekleideten war sanftmütig und neugierig, nein: interessiert. Auf eine etwas gelangweilte Art und Weise, das musste Ryk einräumen, aber bar jeder Aggressivität und, bemerkenswert irgendwie, ohne Arroganz. Er sah Conrad wohlgefällig an, wie ein Kind, das etwas Gutes getan hatte, den Erwartungen entsprach oder sehr folgsam gewesen war. Vielleicht war es gerade diese Haltung, die den Herrn der Süße Maid so erzürnte, denn Ryk beobachtete, wie dieser sich innerlich anspannte.
»Herr, eher jemanden. Diese vier hier, wie berichtet. Wohlbehalten und genährt, entsprechend Ihren Anweisungen.«
Natürlich hatte es einen Kommunikationswechsel gegeben. Ihre Geschichte war bekannt, soweit sie sie erzählt hatten. Der Auri war jetzt ernsthaft interessiert. »Tretet vor.«
Das taten sie, schweigend. Dies war weder der Ort noch die Zeit, um voreilig das Wort zu ergreifen. Der Goldene musterte sie intensiv, einen nach dem anderen, und die fein geschwungenen, wie aufgemalt wirkenden Augenbrauen über seinem Brillenband waren dabei das Aktivste in seinem Gesicht. Mal zogen sie sich fragend zusammen, mal tanzten sie überrascht hoch. Momo schien so etwas wie Erstaunen in ihm hervorzurufen, vielleicht gab es hier keine Defos. Auf Sia ruhte der Blick des Mannes ein wenig länger, als würde er in ihr eine seltsam vertraute Gestalt erkennen. Was den äußeren Reiz anging, so kam sie seinen Idealvorstellungen sicher am nächsten.
»Interessant. In einem Sporenschiff hast du sie aufgesammelt?«
»Ja, Herr. Es waren blinde Passagiere. Die ersten, seit ich zurückdenken kann.«
»Gut, dass du sie nicht gleich umgebracht hast. Das Sporenschiff und seine Ladung sind sicher?«
Conrad wies auf den Crawler hinter sich. »Die Entladung ist bereits im Gange. Alles vollständig und unbeschädigt, bis auf das Großmaul.«
Der Goldene zeigte auf die vier. »Es waren blinde Passagiere an Bord, wer weiß, wie lange. Sie haben nichts beschädigt?«
»Sie wollten weg von der Erde. Es war logisch für sie, achtsam zu sein.«
»Ja. Ich zahle dir für die Ladung die üblichen Fünfhundert. Und für die vier hier noch einmal achthundert.«
»Für jeden?« In Conrads Frage schwang eine gehörige Portion Gier mit. Der Goldene lachte auf, ein perlendes Geräusch. Es klang so, wie der Wein geschmeckt hatte, den Ryk vor scheinbar ewiger Zeit in der Bar der Hybriden zu sich genommen hatte. Er wünschte sich ein wenig dorthin zurück. Es war aufregend gewesen, aber vermischt mit deutlich weniger Ungewissheit.
»Du siehst deine Chance und greifst zu, Conrad«, bemerkte der Mann anerkennend. »Ich mag das an Leuten. Es macht sie ehrlich. Keine falsche Zurückhaltung, wenn es um genug Fleisch am Knochen geht. Das respektiere ich. Und ich bin in großzügiger Stimmung. Meine älteste Tochter hatte erst gestern ihren Segenritus. Und ich wurde zum Zeremonienmeister der Inauguration ernannt, eine große Ehre.«
»Meine Glückwünsche an die verehrte Tochter«, sagte Conrad ungewöhnlich devot und mit der Andeutung einer Verbeugung.
»Wirst du zur Amtseinführung des Obersten Heptarchen kommen?«
»Ich bin leider verhindert«, erwiderte Conrad unterwürfig genug, aber in seinen Worten lag kein Bedauern.
»Wie bedauerlich. Es wird eine außergewöhnliche Zeremonie, jetzt erst recht. Ich gebe dir tausend für alle vier. Das ist ein gutes Geschäft.«
Der Goldene sagte den letzten Satz mit freundlichem, sanftem Nachdruck und die Botschaft kam bei Conrad an. Eine zweite Verbeugung, diesmal etwas deutlicher, und dann reichte er dem Mann ein kleines Gerät, das dieser kurz manipulierte. Conrad bekam es zurück, warf einen Blick darauf, nickte zufrieden und winkte seinen Gefangenen.
»Ich übergebe euch jetzt an Solos hier. Er ist Prätendent der Heptarchie und als solcher solltet ihr ihm Respekt erweisen, denn er entscheidet ab jetzt über euer Schicksal.«
Solos sah die vier an und nickte gefällig. »Sie wissen wirklich nicht, wie hier die Gepflogenheiten sind, oder?«
»Wir wissen nicht mal, wo genau wir uns befinden«, gab Sia zurück.
Solos schaute sie plötzlich interessiert an.
»Eine schöne Stimme haben Sie, mein Kind.«
»Ich bin Sängerin.«
»Gesang wird hier hochgeschätzt. Wer Talent hat, bekommt Kredit. Sie werden die Gelegenheit bekommen, das Ihre unter Beweis zu stellen. Jetzt folgen Sie mir aber erst einmal. Ich habe viele Fragen … und Sie wahrscheinlich auch. Ich bin bereit, Sie alle bis auf Weiteres nicht als Bedrohung einzustufen.« Er sah prüfend von einem zum anderen. »Bis auf Weiteres bedeutet, dass ich annehmen möchte, dass Sie sich ordentlich verhalten und keinen Ärger machen werden. Dann sollen Sie auch gut behandelt werden. Ich versichere Ihnen aber, dass meine Toleranz für Ärger nicht allzu hoch ist. Halten Sie sich an meine Anweisungen und Sie sind auf der sicheren Seite.« Solos machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie mir folgen wollen.«
Conrad verabschiedete sich. Rita hatte ihre Waffe bereits eingesteckt, als sie sich Solos genähert hatten. Beide warfen den vieren einen letzten Blick zu. Conrad wirkte teilnahmslos. Rita aber sah an Ryk und seinen Freunden vorbei auf Solos, und wenn ihn nicht alles täuschte, waren ihre Augen voller Hass.
Solos merkte es nicht oder es war ihm völlig egal.
Er blieb höflich, lächelnd, nicht aggressiv. Aber die Wachen behielten die vier genau im Auge. Ryk spürte keine unmittelbare Bedrohung, eher ein Unwohlsein und er nutzte ihren Fußmarsch, um sich weiter mit der Umgebung vertraut zu machen. Dies war ein belebter Ort, ein Platz des Handels, ein Verkehrsknotenpunkt, das war klar. Aber die Menschen, die er beobachten konnte, stellten offenbar auch einen Querschnitt der Gesellschaft dar. Manchen sah man Armut und Vernachlässigung an, die Kleidung war in einem schlechten Zustand, die Gesichter schmal und die Körper ausgemergelt. Der Schritt dieser Menschen war schleppend, sie standen in kleinen Gruppen oder einzeln an bestimmten Orten, als ob sie darauf warteten, dass etwas mit ihnen geschehen würde. Vielleicht boten sie ihre Arbeitskraft an. Jedenfalls waren sie nicht unaufmerksam und schauten immer wieder in die Richtung der Andockbuchten, hoffnungsvoll und resigniert zugleich. Andere, besser gekleidet, eilten geschäftig umher, mit einem Ziel vor Augen oder mehreren, mit Dokumenten befasst, manchmal in Begleitung eines dienstbaren Geistes. Keine Müßiggänger, kein Flanieren, sondern gespannte Konzentration. Ryk kannte diesen Ausdruck in Gesicht und Körperhaltung, hier jagten Leute nach dem, wovon man nie genug haben konnte: nach Reichtum, Profit, nach Geld, nach dem, wovon Conrad einen Bonus erhalten hatte, der ihn für einen Moment sehr zufrieden hatte aussehen lassen. Womit verdiente man in der Heptarchie sein Geld? Was war, wenn sie hierbleiben mussten und am Ende ihrer Reise angelangt waren? Ryk konnte nicht singen. Er sah sich bereits in der Gruppe der abgerissenen Gestalten stehen, hungrigen Blickes nach einer Arbeit Ausschau haltend. Falls Solos ihnen die Freiheit geben würde, Geld zu verdienen oder bei dem Versuch zu scheitern. Dass sie aber jetzt, in diesem Moment, Gefangene waren, Menschen, für die der Goldene sogar eine offenbar beachtliche Summe bezahlt hatte, daran bestand wohl kein Zweifel.
Ihnen wurden teils verstohlene, teils offene Blicke voller Neugierde zugeworfen. Es war keine Feindseligkeit darin, soweit Ryk das beurteilen konnte. Sie sahen nicht völlig fremdartig aus. Ihre Overalls waren von einem Schnitt, der vielen hier ähnelte, einfach praktisch und nicht auffällig. Doch vor allem Momo wurde immer wieder angestarrt. Gab es hier tatsächlich keine Defos? Er war jedenfalls derjenige, der die größte Aufmerksamkeit, das meiste Fingerzeigen und Getuschel auf sich zog. Momo selbst ertrug dies mit seiner üblichen, stoischen Gelassenheit. Er schien sich sicher zu fühlen.
Ihr Fußmarsch endete an einem Portal, vor dem Wachen standen. Es öffnete sich, als Solos näher kam, und die Wachsoldaten beäugten die Besucher misstrauisch. Die Anwesenheit des Goldenen allein aber schien Legimitation genug zu sein. Als sie hindurchtraten, ebbte die Betriebsamkeit um sie herum sofort ab. Es wurde ruhig. Nahezu kontemplativ. Das lag gewiss auch an der plötzlich veränderten Umgebung.
Sie standen in einer weiteren Halle. Auch Solos hatte in seinen weiten, raumgreifenden Schritten innegehalten und beobachtete ihre Reaktion. Er schien mit den weit aufgerissenen Augen und dem stillen Staunen seiner Schutzbefohlenen sehr zufrieden zu sein, wenn man das leichte Lächeln auf seinen Lippen so deuten wollte.
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Das war es ohne Zweifel. Eine Halle, gefüllt mit einer künstlichen Parklandschaft, unter einer Kuppel, die einen direkten Blick in das umgebende Weltall ermöglichte. Wege führten durch geschmackvoll angelegte Bepflanzungen, ein künstlicher Bach flüsterte von einer Wand zur anderen, überspannt von sehr grazil aussehenden Brücken – Brückchen, wenn man es genau beschreiben wollte – und versehen mit kleinen, sanft sprudelnden Wasserfällen. Ryk sah Bäume, nicht viele, aber mit weit ausladendem Blätterdach, die in der Halle verteilt standen und Schatten spendeten. Weiße Holzbänke waren überall verteilt. Leute saßen darauf, alle in farbige Gewänder gekleidet, die von goldenen Schärpen und Gürteln gehalten wurden. Die Geräuschkulisse war wie die Umgebung: sanft, anheimelnd, unaufdringlich, angenehm. Niemand war laut, niemand rannte, man flanierte in Respekt vor der Kunst, die dieser Anlage zugrunde lag und die offenbar niemand durch unbotmäßiges Verhalten beleidigen wollte. Über allem lag eine heitere, entspannte Atmosphäre. Ryk spürte in sich das plötzliche Verlangen, sich auf eine der Bänke zu setzen, die Beine auszustrecken und vielleicht ein kleines Picknick zu machen. Darin war er nicht alleine. Auf in der Halle verteilten Rasenflächen saßen manche, die ein Tuch ausgebreitet hatten und hier ihre Pause verbrachten. Ryk nahm zumindest an, dass es sich um eine Pause handelte. Schloss man von der Betriebsamkeit der Andockhalle auf die Uhrzeit, dann war dies die Zeit für Arbeit und Handel. Recht betrachtet wirkten hier aber alle sehr entspannt und niemand hatte es eilig. Vielleicht doch keine Pause. Vielleicht die Lebensweise von Menschen, die auf Kosten der Arbeit anderer lebten.
Mit diesem Gedanken legte sich ein Schleier des Zweifels über Ryks Wahrnehmung. Er wollte es so nicht sehen. Es war alles so schön, so friedlich, so wohlgeordnet. Ein Ort, der seiner Vorstellung eines Paradieses nahekam. Ryk wehrte sich gegen die Gefahr plötzlicher Ernüchterung. Dennoch, sein bisheriges Leben hatte ihn gelehrt, dass diese meist unausweichlich war.
Und so dämpften Misstrauen und die Voreingenommenheit eines Lebens in Metropole 7 die anfängliche Begeisterung. Ryk sah diesem vergehenden Moment beinahe kindlicher Faszination mit Bedauern nach. Es war ein köstlicher Augenblick gewesen, den er sich selbst verdorben hatte. Ryk fühlte sich ein wenig verraten. Er führte wirklich kein sehr schönes Leben. Und es legte einen steten Schatten auf alles, was er sah.
»Folgen Sie mir. Hier entlang.« Solos ging voraus. Bemerkenswerterweise waren seine Wachen verschwunden. War dies ein Vertrauensbeweis oder standen den Bewohnern dieser Kuppel andere Methoden zur Verfügung, Unbotmäßigkeit zu ahnden? Ryk hatte nicht die Absicht, Probleme zu bereiten. Er traute sich kaum, den Rasen zu betreten, an dem sie jetzt gemeinsam vorbeispazierten.
»Es ist sehr schön hier«, sagte Sia und es klang aufrichtig. Auch sie konnte sich der Faszination dieses Ortes nicht entziehen.
»Und es ist nicht einmal Pax«, erwiderte Solos. »Unsere Hauptstadt stellt das hier weit in den Schatten. Dies ist Provinz.« Er lächelte. »Auf der Erde muss es nicht mehr besonders schön sein. Wir haben gar keine Vorstellung davon, wie es dort aussieht. Viele werden sehr begierig sein, mehr darüber zu erfahren. Ist Terra noch stark vom Krieg gegen den Hive gezeichnet?«
»Das kann man so sagen.«
»Es gibt noch Städte?«
»Ja, aber es geht allen immer schlechter.«
Solos runzelte die Stirn. »Das wird vielen von uns nicht gefallen. Wir haben ja alle tief in unserem Herzen die Hoffnung, dass die Erneuerung der Menschheit von der alten Heimat ausgeht. Da wird sich so manche Illusion in Wohlgefallen auflösen. Illusionen sind aber manchmal sehr wichtig. Wir werden die Wahrheit vorsichtig kommunizieren müssen. Terra ist noch sehr lebendig in unserer Kultur.«
»Sie haben nie versucht, die Heimatwelt zu erreichen?«, wollte nun Uruhard wissen, offenbar ermutigt durch die umgängliche Art ihres Gastgebers.
Solos schüttelte traurig den Kopf.
»Die Sporenschiffe des hiesigen Hives fliegen in eine ganz andere Richtung und wir haben nie versucht, das gleiche Experiment zu wagen wie Sie. Sehr bewundernswert übrigens. Meinen Respekt haben Sie sich damit verdient. Ansonsten gibt es keine überlichtschnelle Raumfahrt mehr. Was wir haben, sind die alten Crawler sowie die Systemschiffe der Heptarchie. Dafür schlachten wir das Flottendepot aus, dessen Vorräte langsam zur Neige gehen. Viele alte Truppenboote und Kleinfrachter. Die Überlichtschiffe sind alle bei Terra vernichtet worden, im letzten großen Kampf gegen den Hive. Es gibt ein Museumsstück, das werde ich Ihnen zeigen. Aber ansonsten … nein, wir sind seit langer Zeit von Terra abgeschnitten. Hier, durch diese Tür.«
Sie betraten einen schön eingerichteten Raum mit mehreren Sesselgruppen und einem weichen Teppich, der ihre Schritte fast schon federn ließ. An den Wänden hing abstrakte Kunst in einer angenehmen Farbauswahl, ohne jede wirklich gegenständliche Darstellung. Aber die geografischen Formen wirkten beruhigend, zumindest auf Ryk, der nie zuvor eine Affinität zu Gemälden verspürt hatte – wahrscheinlich, weil man ihnen in Metropole 7 so gut wie nie begegnete. Selbst Andhmergens Museum enthielt mehr Korkenzieher als Bilderrahmen, von deren Inhalt einmal ganz zu schweigen.
Auf Einladung von Solos setzten sie sich. Ryk versank beinahe in dem tiefen Sessel. Kaum hatte sein Körper die weichen Polster berührt, empfand er eine tiefe Müdigkeit. Die Strapazen der Reise machten sich nun bemerkbar.
»Ich habe viele Fragen«, sagte der Mann. »Und Sie haben sicher Hunger und Durst. Erlauben Sie mir, Sie alle zu einem Imbiss einzuladen.«
Irgendwer hatte das gehört, denn Türen öffneten sich und Bedienstete trugen Tabletts herein, deren Last von Ryk mit einer plötzlich aufwallenden Gier betrachtet wurde. Uruhard, Theosius und Meister Dahn hatten ihn ein wenig verdorben, was die Pflichten und Freuden der Nahrungsaufnahme anging. Es sah so aus, als sei Solos gewillt, dieses Niveau zu halten. Die kleinen Speisen waren mundgerecht angerichtet und sahen sehr vielversprechend aus. Ryk konnte nicht alles aus dem Angebot sofort einwandfrei identifizieren, aber er ging von der festen Annahme aus, dass man sie – jedenfalls bis auf Weiteres – nicht vergiften wollte.
Sie schwiegen für einige Minuten, drängende Fragen und bohrende Nachfragen hin oder her, denn die Einladung war ausgesprochen worden und wurde akzeptiert. Als Getränke wurden diverse Säfte angeboten, kein Alkohol, was erst einmal darauf schließen ließ, dass Solos an einer nüchternen Diskussion interessiert war. Wenn es hier entspannende Drogen gab, dann hoffte Ryk, dass man ihnen diese zu einem späteren Zeitpunkt anbieten würde. Er war durchaus geneigt, ein solches Angebot ebenfalls anzunehmen.
Es war alles ganz köstlich. So viele Geschmacksvarianten, so viele Konsistenzen, so viele Kombinationen. Eine Explosion der Gaumenfreuden. Für einige Zeit konnte sich Ryk auf nichts anderes konzentrieren.
»Sie sind also von der Erde geflohen? Sind die Lebensumstände dort so unerträglich geworden?«, nahm Solos schließlich nach einer Phase der Geduld den Faden wieder auf.
»Man kann noch dort leben, aber es ist schwer«, sagte Sia nun zögerlich und sah ihre Gefährten fragend an. Uruhard und Ryk nickten ihr zu. Es ergab keinen Sinn, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Solos schien zumindest bereit, ihnen zuzuhören, und im Zweifel würde er sie nur auslachen, wenn ihm etwas zu absurd erschien. Das war zu verschmerzen. »Aber es gibt einen anderen Grund, warum wir die Reise gewagt haben. Conrad wird es Ihnen möglicherweise bereits geschildert haben: Unser Ziel ist es, den Letzten Admiral zu suchen.«
Solos schaute sie an. Erst schien er gar nicht zu verstehen, wovon sie sprach, dann aber nickte er sehr langsam und gemessen. Er wirkte nicht amüsiert. Er wirkte nicht verärgert. Er machte plötzlich den Eindruck eines Vaters, dessen Kinder einen berechtigten, aber leider unerfüllbaren Wunsch geäußert hatten.
»Ja, Conrad deutete an, dass Sie eine … seltsame Geschichte auf Lager hätten. Diese Legende ist uns natürlich auch bekannt, sie ist ebenfalls ein wichtiger Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Ich bringe Sie gerne mit einigen unserer Historiker zusammen, die dazu eine informiertere Meinung abgeben können als ich. Aber es ist in der Tat nur das: ein Mythos, der spannend ist, vielleicht sogar inspirierend – aber ohne jede Grundlage. Ich sage nicht, dass er kein Körnchen Wahrheit enthalten könnte, aber es ist alles so lange her … und im Laufe dieser Zeit wurde aus der realen Geschichte eines realen Menschen ein schönes Märchen.«
Solos schüttelte fast traurig den Kopf.
»Ich würde mir wünschen, es wäre anders. Sie haben eine alte Geschichte aus den Ruinen Terras mitgebracht. Ich will Ihnen weder den Glauben noch die Hoffnung nehmen. Aber ich befürchte, dass Sie hier am Ende Ihres Weges angekommen sind.« Er lächelte wieder und breitete die Arme aus. »Das muss ja keine schlechte Nachricht sein. Wir heißen Sie als besondere Gäste in der Heptarchie willkommen. Wir respektieren Terra und unsere gemeinsame Geschichte. Ich verspreche Ihnen, es soll Ihnen an nichts fehlen. Sie können nicht mehr zurück und Sie können nicht mehr weiter. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie darüber nachdenken, hier Ihre neue Heimat zu finden. Es gibt wahrlich schlimmere Orte, um zu leben. Wahrlich.«
Erneut Blicke stummer Übereinkunft. Sia schwieg und nickte. Sie würden die Details ihrer Mission und die Informationen, die sie im verschütteten Hauptquartier auf der Erde erfahren hatten, bis auf Weiteres für sich behalten. Vielleicht waren die von Solos erwähnten Historiker in der Lage, ihr Anliegen etwas ernster zu nehmen. Auch Ryk spürte nur etwas Trotz in sich, keine Enttäuschung. Mit so einer Reaktion war wohl zu rechnen gewesen.
»Was wird nun mit uns geschehen? Uns ist nicht entgangen, dass Sie Conrad für uns bezahlt haben«, fragte Ryk.
»Nein, das haben Sie missverstanden – und ich hätte es sogleich erklären sollen, glaube ich.« Solos lächelte um Entschuldigung bittend. »Ich habe Conrad bezahlt, weil er einen Vertrag mit der Heptarchie hat. Er räumt Sporenschiffe aus und liefert uns alles an interessanten Artefakten, das er am Rande des Systems findet, vor allem im Raumschifffriedhof. Es gibt feste Raten und Zuschläge für besonders interessante Funde. Nun sind Sie alle keine Artefakte, aber auf jeden Fall besonders interessant. Sie fallen nicht hundertprozentig in den Gebührenkatalog, deswegen haben wir etwas verhandelt.« Solos grinste aufmunternd. »Sie sind nicht mein Besitz. Ich sorge nur dafür, dass das Interesse an Ihnen sich für alle lohnt. Was hätten Sie in Crawlertown anfangen sollen? Das ist ein ungemütlicher Ort, der keine Freuden bietet.«
Ehe Ryk die logische Frage anschließen konnte, fuhr der Mann fort: »Ich lade Sie alle in die Hauptstadt der Heptarchie ein. Wir nennen sie Pax, weil sie uns den Frieden bringt und die Quelle unserer Einheit ist.«
Er sah sich um, registrierte die Verständnislosigkeit und nickte, mehr zu sich selbst.
»Latein. Eine schon lange ausgestorbene Sprache. Es war ein Hobby unserer Vorfahren, sich aus den alten Aufzeichnungen zu bedienen. Sie stellt eine Verbindung zur Vergangenheit her und hilft uns dabei, nicht völlig abgetrennt zu sein, uns zu erinnern. Sie haben ja schon gehört, dass das für uns durchaus von Bedeutung ist. In Pax findet in einigen Standardtagen eine wichtige Zeremonie statt. Der Oberste Heptarch wird in sein Amt eingeführt. Seine Vorgängerin starb vor einigen Wochen und ein Nachfolger ist gefunden. So etwas passiert nicht oft, in diesem Amt pflegt man sehr alt zu werden. Jetzt aber stehen uns Tage voller Feierlichkeiten und Freude bevor. Mit einem begleitenden Kulturprogramm. Für das ich unter anderem die Verantwortung trage. Ich bin so etwas wie der Zeremonienmeister der ganzen Festlichkeiten.«
Solos breitete die Arme aus. »Ich sage es Ihnen ganz offen: Sie sind meine Attraktion. Die Arbeit ist einfach. Sie erzählen Ihre Geschichte. Sie besuchen einige Partys und Empfänge. Sie sind Ehrengäste der Inauguration. Ich reiche Sie ein wenig herum, so kann man das wohl sagen.« Er hob eine Hand. »Sie werden dafür entlohnt. Schaffen Sie sich eine Basis für Ihr Leben. Knüpfen Sie Kontakte zu wichtigen Leuten, die Ihnen helfen können, hier weich zu landen. Ein Gewinn für uns alle.«
»Und ein Angebot, das wir nicht ablehnen können«, murmelte Sia.
»Warum sollten Sie auch?«, erwiderte Solos leichthin. »Sie werden niemals mehr ein besseres bekommen. Und wenn Sie tatsächlich diesem alten Traum nachjagen wollen, so werden Sie in Pax am ehesten auf jene treffen, die Ihnen weiterhelfen können … oder die Sie davon überzeugen werden, es aufzugeben und sich eher hier häuslich einzurichten.« Er beugte sich nach vorne, die Stimme nun intensiv, beinahe hypnotisch. »Sie können sich ein neues Leben aufbauen, nachdem Sie der darniederliegenden Erde entflohen sind. Eine echte Chance, keine wilde Spinnerei. Nehmen Sie das ernst, zumindest als Option. Es wäre unklug, wenn Sie auf Ihrem Weg nicht auch nach links und rechts schauen würden, oder?«
Unklug, ja. Ryk erkannte die Logik in den Worten des Mannes. Er fühlte sich dennoch manipuliert. Vielleicht auch benutzt, eine Jahrmarktattraktion, am Nasenring durch die Arena geführt. Niemand empfand gerne so. Er schaute auf das Tablett mit den Speisen. Er war satt.
Er ermahnte sich, nicht ungerecht zu urteilen. Niemand wollte ihm an den Kragen. Es hätte auch schlechter kommen können. Ryk atmete tief ein. Er sollte versuchen, das in den Vordergrund zu stellen. Unzufriedenheit konnte einem in der Tat leicht den Blick für die Alternativen verstellen.
Auch die anderen schienen zu diesem Schluss gekommen zu sein. Sie nickten, entweder beifällig oder ergeben, sicher nicht richtig enthusiastisch, aber Solos schien das auch nicht zu erwarten. Er lächelte zufrieden.
»Sie haben doch sicher auch Fragen an mich. Welche liegt Ihnen besonders auf dem Herzen?«
Uruhard war der Schnellste, obgleich sie alle endlos viel wissen wollten. »Sie haben gesagt, dass die Sporenschiffe von hier nicht zur Erde fliegen, sondern woandershin.«
»Das ist korrekt. Wir wissen nicht, wohin. Wir haben uns, ehrlich gesagt, nie dafür interessiert.«
»Sie haben aber einen Hive hier?«
»Drei. Einen Haupthive und zwei kleinere, unten auf der einzig bewohnbaren Welt dieses Systems. Es waren mal zwei, aber die zweite ist durch den Krieg verseucht. Schmutzige Bomben in der Endphase.« Als er das sagte, schaute er Momo an. Solos ahnte zumindest, warum dieser so aussah, wie er aussah.
»Sie sind passiv wie auf Terra? Ich meine, was tun sie?«, fragte Uruhard.
Solos lächelte. »Soweit ich Sie verstanden habe, ist die Situation auf Terra eine der fragilen Koexistenz auf Kosten der Menschheit. Hier ist es anders. Wir haben etwas geschafft, was andere wahrscheinlich nie vollbracht haben.«
»Was wäre das?«
Der Mann erhob sich. »Der Hive beherrscht niemanden. Wir beherrschen den Hive.«
Dann zeigte er auf die halb vollen Tabletts. »Essen Sie noch etwas. Entspannen Sie sich. Wir brechen in einer Stunde nach Pax auf. Warten Sie hier, ich lasse Sie abholen.«
Und damit wandte er sich ab, offenbar nicht mit der Absicht, weitere Fragen zu beantworten. Die eine Antwort mussten seine Gäste erst einmal sacken lassen.
Er war sich der Wirkung seiner Worte gewiss bewusst.