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Es gab diese Momente im Leben, Phasen eher, die wie ein Wirbel an einem vorbeizogen. Man sog Eindrücke in sich auf und es waren so viele, so faszinierend, so anders und gleichermaßen erschütternd wie aufrührend, positiv zumeist, und am Ende, wenn man Atem holte, erinnerte man sich nicht genau daran, was eigentlich passiert war. Das Gehirn war nicht in der Lage, all die Sinneseindrücke zu verarbeiten, sie mit dem zu vergleichen, was es über die Natur des Daseins bereits wusste, und das Neue in das Alte zu integrieren. Je mehr sich dieses Neue vom Alten unterschied, desto unwirklicher wurde es, als betrachte man ein Schauspiel, aber keine Realität, deren Teil man war.
Ryk hatte sich in seinem Leben bisher nur selten so gefühlt. Als Kind vielleicht ein- oder zweimal, aber mit zunehmendem Alter war dieser Zauber verschwunden, dieses staunende Dahintreiben, für immer unter einer dicken Kruste aus Erfahrung und auch Enttäuschung verborgen. Doch diese Kruste war nun aufgebrochen und es warf ihn zurück in eine Art des Erlebens, die er seit Jahren nicht mehr für möglich gehalten hatte.
Sie wurden wie Ehrengäste empfangen.
Aufrichtig? Auf Anweisung? Wen kümmerte es?
Ein Wirbel an Aktivitäten entfaltete sich, mit ihnen im Mittelpunkt, und es war so viel, so intensiv, dass Ryk vollständig abgelenkt wurde. So etwas hatte er noch nie erlebt, so etwas war noch nie mit ihm gemacht worden. Geschmeichelt wurde ihnen. Gesäubert wurden sie. Eingekleidet. Gepudert, gesalbt, geschminkt. Gefüttert und getränkt. Diener umschwirrten sie wie summende Insekten. Bedürfnisse wurden geweckt, die er nie gehabt hatte. Dinge wurden erkannt, die er nie zuvor gesehen hatte. Möglichkeiten taten sich auf, von deren Existenz er zum ersten Mal erfuhr. Allein die Kleidung, die man ihnen brachte! Fort mit den Overalls, weg mit der tumben Zweckmäßigkeit! Was für Gewänder, welche Stoffe! Seine Wunden nahmen ihre Berührung auf seinem Körper kaum war, so einschmeichelnd umhüllten sie seine Haut, so sanft liebkosten sie selbst empfindliche Stellen.
Er sah gut aus.
Und es nahm einfach kein Ende! Mit jeder weiteren Intervention wohlmeinender Geister und taxierender Beurteilungen sah er noch besser aus. Stil! Sie sprachen über seinen Stil! Er hatte bisher gar nicht gewusst, dass jemand wie er so etwas haben konnte. Und so wurde es ihm erklärt, mit Worten, die er nie zuvor verwendet hatte.
»Junger Mann«, sagte eine nicht mehr so junge Frau, deren Hände schmal und feingliedrig wie Schmetterlinge waren, »durch Kleidung drücken Sie aus, wer Sie sind, wie Sie sein möchten und wie Sie auf andere wirken. Erst wenn die modischen Elemente harmonisch mit Ihrer Persönlichkeit korrespondieren, entstehen überzeugende, authentische Kompositionen aus Stoff. Dabei hat jede Persönlichkeit unterschiedliche Facetten, die in verschiedenen Situationen zum Tragen kommen. Sind Sie beispielsweise im Alltag vor allem ernst, verantwortungsvoll und kompetent, so ist es in einer feierlichen Zeremonie, bei einem freudigen Anlass vielleicht Ihre entspannte, fröhliche Seite, die Sie ausleben.«
»Aha«, machte Ryk. Das beirrte sie jedoch nicht, es spornte sie eher an.
»Ihr persönlicher Stil besteht aus einer Vielzahl von visuellen Elementen. Um diese zu sammeln, erstellen wir jetzt ein sogenanntes Moodboard. Wir visualisieren, was mit Ihnen und Ihrer Persönlichkeit am ehesten in Einklang zu bringen ist. Tatsächlich kann das jede virtuelle, der Vorstellungskraft und dem eigenen Erfahren entspringende Sammlung von Fotos, Objekten, Fundstücken, Stoffen, Blättern oder Zeichnungen sein, die Sie mit einer bestimmten Stimmung, Eigenschaft oder Situation verbinden und die Sie visuell anspricht. Tauchen wir ein in das Innerste Ihres Wesens, junger Mann, und geben ihm eine Entsprechung in Aussehen und Schnitt.« Sie klatschte in die Hände. »Das wird ganz, ganz toll.«
Irgendwie wurde es das auch. Seine Stärken wurden hervorgehoben, seine Schwächen überdeckt. Und nicht nur bei ihm. Alle seine Freunde wurden vom Wirbelwind umfassender Verschönerung heimgesucht, dem sie sich hilflos und fasziniert ergaben, ein Sturm, der sie in neue Höhen exquisiter optischer Verfeinerung emporwirbelte und mehr aus ihnen zu machen schien, als sie vorher gewesen waren, ohne zu negieren, was sie sein wollten. Wie sollte er es anders beschreiben?
Und so war das Ergebnis in jeder Hinsicht beeindruckend: Uruhard war nun der weise, majestätische Oheim, dessen Bart gekämmt einen sehr imposanten Eindruck machte, eine Präsenz von großer Überzeugungskraft, einem Göttervater gleich. Sein nicht gerade schlanker Leib wurde so bekleidet, dass das robenähnliche Gewand seinem Auftritt nicht nur körperliches, sondern auch intellektuelles Gewicht verlieh. Er sah jetzt wie jemand aus, den man alles fragen konnte und der auf alles eine Antwort wusste, der weise Alte, der sich seiner Weisheit in demütiger Bescheidenheit, aber nicht ohne Selbstsicherheit bewusst war. Uruhard schien von sich selbst recht eingenommen, als er die fertige Komposition betrachtete. Er strahlte jedenfalls eine stille Zufriedenheit aus.
Sia wurde, noch mehr als sonst, zur bezaubernden Schönheit, zur künstlich-natürlichen Elfe, die Eleganz, Kraft, Zerbrechlichkeit und höchste Kunst ausdrückte, mit einem Kleid, das endlos viel versprach und zugleich Kontrolle und Macht ausstrahlte – eine Kombination, die Ryk beim ersten Anblick total für sich einnahm. Ihr Erscheinungsbild akzentuierte auf eine schwindelerregende Art und Weise, was sie für ihn war, und die Tatsache, dass die herumwirbelnden Stilberater das Gleiche in ihr sahen wie er, sprach für seine eigene Menschenkenntnis. Wäre er nicht bereits in sie verliebt, in diesem Moment wäre es um ihn geschehen gewesen.
Sia nahm diese weitere Steigerung ihrer natürlichen Strahlkraft mit dem Selbstbewusstsein einer Künstlerin zur Kenntnis. Für sie war all dies nicht so ungewöhnlich, sie hatte sich vor jedem Auftritt herausgeputzt und dies war nur eine weitere Variante der Darstellung in der Öffentlichkeit. Diese innere Ruhe und Selbstverständlichkeit vermischte sich mit dem gewählten Stil zu einem beeindruckenden Ganzen, das sie mit größter Leichtigkeit zur Schau trug.
Momo stellte die Stylisten vor eine gewisse Herausforderung, doch es gab nichts, woran sie zu scheitern bereit waren. Erst einmal war es für den Defo schwer gewesen, sich mit der Idee anzufreunden, er könne etwas anderes sein als ein hässlicher, grober Klotz, nützlich zwar, aber gewiss ohne jeden ästhetischen Wert, weder für sich noch für seine Umwelt. Ein Argument, dem sich keiner seiner Fürsorger zu unterwerfen bereit war. Momo war dann, wie immer, pragmatisch an die Sache herangegangen, in dem vollen Bewusstsein, dass er in der Lage war, jede Veränderung, die man an ihm vornahm, sofort wieder rückgängig zu machen. Und so war aus dem hässlichen Entlein kein Schwan, aber doch ein sehr beeindruckendes Monument von Kraft, Macht und stoischer Ruhe geworden, ein lebendig gewordener Fels, der durch seine bloße Präsenz die Anwesenden nicht nur metaphorisch in den Schatten stellte. Momo war damit offenbar zufrieden, denn er gab einige spärliche, aber sehr positive Kommentare ab und machte keinerlei Anstalten, sich den dunkelbraunen, samtig schimmernden Anzug vom Leib zu reißen. Der Defo hatte, daran bestand kein Zweifel, die Mode für sich entdeckt. Ryk hatte es kaum für möglich gehalten.
Und er selbst? Ja, er selbst. Er wollte es fast nicht zugeben, aber er war von sich beeindruckt, und das kam nicht von ungefähr. Ryk war der jugendliche Held, der dynamische, kraftvolle Repräsentant altmodischer Männlichkeit, verbunden mit einer gewissen jugendlichen Leichtigkeit, einer Andeutung von Schalk und Frechheit und dem gewissen Verwegenen in Haltung und Kleidung. Alles in allem verbreitete er ein Charisma der Bereitschaft, das Richtige zu tun, Mut zu beweisen, die Dinge anzupacken. In vielem nicht so, wie er sich fühlte oder sah, aber Sias anerkennender Blick war die Scharade wert und für den Augenblick lebten sie alle diese schöne, gestylte und dabei so offensichtliche Lüge. Die Ernüchterung kam gewiss früh genug.
Aber nicht sofort. Erst einmal ging es in diesem Stil weiter. Gut gekleidet war das eine. Schön zu wohnen gehörte hier aber offensichtlich ebenfalls dazu. Nachdem die endlose Verhätschelung in einer ersten Aufwallung orgiastischer Aufmerksamkeit beendet war, durften sie die Vorbereitung für das Leben unter den Auri in ihren eigenen Gemächern fortsetzen.
Ihre Unterkunft war selbstverständlich ein Traum. Jeder bekam sein eigenes Zimmer. Die Einrichtung war exquisit. Alles war gepolstert und aufgehübscht. Geschmackvolle Farbkompositionen auf Decken, Teppichen, Wänden und Gardinen. Lichtspiele. Statuetten, ästhetisch ansprechend, manchmal gegenständlich, manchmal abstrakt, niemals aufdringlich oder beunruhigend. Eine innenarchitektonische Droge. Die Toiletten rochen nach frischen Blumen, die Bettdecken nach Lavendel – Ryk musste danach fragen, er hatte bis heute nicht gewusst, was Lavendel eigentlich war – und der Schrank war begehbar. Ein Schrank. In dem man herumlaufen konnte. Eines Tages würde ihm jemand erklären müssen, wozu das eigentlich gut war, aber bis dahin nahm er diese Tatsache erst einmal so hin. Er machte darin trotzdem einen Spaziergang, nur um festzustellen, dass es von den Gewändern, die er trug, noch Dutzende von Variationen gab, unterschiedlichen Anlässen angemessen. Er könnte Tage damit zubringen, sich umzuziehen.
Sie durften sich nicht lange in ihren eigenen vier Wänden aufhalten. Nach kurzer Zeit wurden sie erneut zusammengerufen, freundlich, aber mit Nachdruck, und diesmal standen persönliche Diener bereit, deren Aufgabe es war, ein weiteres Mal »letzte Hand« an ihre Schützlinge zu legen. Ryk war sich nicht sicher, ob durch die interstellaren Entfernungen die Bedeutung des Wortes »letzte« eine grundsätzliche Veränderung erfahren hatte, aber die Vermutung drängte sich ihm immer mehr auf.
Aber warum nicht die Gelegenheit nutzen, um ein paar Fragen loszuwerden?
»Warum heißt die Heptarchie Heptarchie?«, fragte er einen der Diener, die ihm eine weitere Auswahl edler Kleidungsstücke mit akribischer Geduld anlegten.
Sie standen alle vier in einem großen Raum, der als »Ankleidezimmer« bezeichnet wurde und nicht mit dem begehbaren Schrank zu verwechseln war. Von ihnen allen fühlte sich Momo nach all dem ermüdenden Scharwenzeln jetzt zweifelsohne am unwohlsten. Er sah ja durchaus sehr stattlich aus in dem weit fallenden Gewand, das man ihm umlegte, aber es passte vielleicht dann doch nicht ganz zu seinem Selbstbild. Er würde es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vielleicht sogar ablegen und damit das allgemeine Missfallen ihrer Gastgeber auslösen. Jedenfalls bewegte er sich mit subtiler Unruhe, die gar nicht zu seinem sonst so stoischen Erscheinungsbild passte.
Damit mussten sie wohl leben.
Der ältere, sehr würdevoll wirkende Mann, der gerade Ryk bediente, schien die Frage erwartet zu haben, wie sie alle wohl instruiert waren, dass die Gäste etwas seltsam seien und wenig wussten. Jedenfalls hatte sich niemand Amüsement oder gar Herablassung anmerken lassen. Er hatte eine angenehme Stimme und es gelang ihm, seine Worte mit einem ausreichend devoten Unterton zu untermalen, sodass sie nicht als herablassende Belehrung rüberkamen. Ryk war dafür recht denkbar.
»Sieben Prinzipalitäten konstituieren die zentralen Nationen der Heptarchie. Sie sind die Machtzentren, in denen alle wichtigen Entscheidungen gefällt werden. Angeführt von den Auri, wenngleich mit jeweils unterschiedlichen Titeln und etwas voneinander abweichenden Strukturen, sind sie im Rat hier auf Pax vereint und haben sich einst freiwillig dem weisen Ratschluss des Obersten oder Ersten Heptarchen unterworfen, der sie alle in gütiger Einsicht zusammenführt und lenkend eingreift, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Sie regieren alle sieben nach innen autonom, entscheiden aber zusammen in allem, was gemeinsam geregelt werden muss: Flugverkehr, Ressourcenverwertung, Verwaltung des Flottendepots, Beziehungen zu den Kleinen Nationen, der Planetenbevölkerung und den Crawlern und natürlich die Hivekontrolle.«
»Was sind die Kleinen Nationen?«
Hier zeigte der Diener ein wenig Herablassung, die aber nicht auf ihn gerichtet war, sondern auf den Gegenstand seiner absolut berechtigten Frage. »Das sind die kleinen Stationen, die nicht Teil der Heptarchie sind, aus ganz unterschiedlichen, meist historischen Gründen. Auch sie werden aber von einer eigenen Schicht der Auri verwaltet, die das verbindende Glied darstellt. Darüber hinaus gibt es noch jene, die sich nicht formell unter die Herrschaft der Auri stellen. Sie … erfüllen ihre Funktion, wenn ich das sagen darf. Sie kennen Leute von dort, wenn ich die Geschichte richtig verstanden habe. Die meisten Crawler arbeiten für die Heptarchie, sind ihr aber nicht unterstellt.« Der Mann lächelte, als er an Ryk herumzupfte. »Das macht sie … flexibel.«
Das Lächeln war säuerlich. Ein Mann in seiner Position und mit seiner Aufgabe war, so vermutete Ryk, naturgemäß eher kein Freund übertriebener Flexibilität.
»Und Pax gehört zu …«
»Mercia III, der größten Prinzipalität in der Heptarchie. Gleichzeitig ist es aber neutraler Boden, da hier der Heptarch residiert. Ein buntes Völkchen lebt hier. Es wird Ihnen gefallen.«
Ryk war sich noch nicht ganz sicher, vor allem wenn die endlosen Bekleidungsrituale zu den Anforderungen seines Aufenthaltes gehören sollten.
»Diese Auri …«
»Ah, ja. Das muss Ihnen komisch vorkommen. Haben Sie auf der Erde keine Führungsebene mehr, keinen Adel oder anderweitige Herren?«
Sie mussten zugeben, dass so etwas natürlich existierte. Uruhard fand sich nun berufen, dem aufmerksam zuhörenden Diener die Struktur in den meisten Metropolen zu erläutern, und dieser machte grunzende Laute der Zustimmung. Vielleicht interessierte es ihn wirklich. Vielleicht war ihm auch nur aufgetragen worden, den niedlichen Provinznasen keinen Anlass zu geben, sich nicht ernst genommen zu fühlen.
Dann fuhr der Bedienstete selbst fort, während er weiter an Ryk herumzupfte: »Die Auri regieren die Heptarchie seit langer Zeit. Sie tun es mit Weisheit und Augenmaß. Nicht jeder ist glücklich, aber wenige sind unglücklich und niemand leidet Hunger. In einer orbitalen Gesellschaft ist die Verteilung lebenswichtiger Ressourcen das zentrale Merkmal, an dem sich eine Regierung messen lassen muss, denn hier kann man nicht einfach irgendwo anders hingehen. Man muss, wenn man sein Habitat verlassen möchte, immer alles mitnehmen: Treibstoff, Nahrung, Wasser, Atemluft. Es gibt genug von allem, aber es muss zugänglich gemacht und gerecht verteilt werden und die Auri haben dankenswerterweise diese verantwortungsvolle Aufgabe übernommen.«
Eine Mischung aus salbungsvoller Propaganda und nachvollziehbaren Fakten, wohl darauf ausgerichtet, das System in den Augen der Besucher zu legitimieren. Bei Ryk funktionierte es nicht, jedenfalls nicht richtig. Niemand, der in einer der Metropolen aufgewachsen war, ging solchen Darlegungen noch auf den Leim. Es könnte aber auch daran gelegen haben, dass die Stadtherren auf Terra in der Verteilung von Ressourcen offenbar nicht ganz so effizient waren wie die Auri, zumindest wenn man den Worten des Dieners Glauben schenken wollte. Dort gab es viele, die hungerten und unglücklich waren.
»Sind Sie ein Auri?«, fragte Sia den Mann.
Der zögerte unmerklich. Dabei berührte er, beinahe unbewusst, seine Schläfe. Er trug ein Tattoo, wie viele andere, aber es fehlte der eingelassene Edelstein. Offenbar etwas, das dem Mann schmerzhaft bewusst war. »Nein, ich diene ihnen. Ich hoffe auf den Aufstieg. Ich bin ein treuer Diener.«
»Wie wird man einer?«
Erneutes Zögern. Das war jetzt entweder gefährliches Terrain oder einfach ein Thema, das dem wunderbaren Bild, das eben gezeichnet worden war, ein paar hässliche Flecken bescheren würde. Oder es war einfach so, dass der Nichtauri mit Ambitionen ungerne darüber sprach, weil es ihn persönlich betraf.
»Man wird als Auri geboren«, sagte er dann.
»Das ist alles?«
»Man kann einheiraten.« Der Mann machte eine Pause. »Unter gewissen Bedingungen.«
»Kann man es sich verdienen? Etwas dafür tun? Sich auszeichnen?«
Der Diener nickte. »Dann darf man einheiraten.«
Sia sah den Mann scharf an. »Und die Ehegatten, die werden vorher gefragt?«
»Nun …«, kam es etwas gedehnt. Der Diener sah Sia nicht an, sondern konzentrierte sich ganz darauf, weiter an Ryk herumzuzupfen, obgleich dies nichts mehr verbesserte. »Männer schon. Frauen meistens nicht. Aber das macht nichts. Es kommt so selten vor, es ist eigentlich keine Frage, mit der sich die Auri ernsthaft befassen müssen.«
Ryk sah Sia an. Doch diese beherrschte sich. Da war er, der erste kleine Riss im goldenen Porträt allgemeiner Zufriedenheit. Es hatte ja früher oder später so kommen müssen.
»Es gibt noch das Komitee«, fügte der Diener hinzu. »Einmal im Jahr tritt es zusammen, um Würdige zu bestimmen, die auch ohne familiäre Verbindung erhoben werden. Es gibt strenge Kriterien und treuer Dienst ist eines davon.« Und der Grund, warum der Mann sich noch Hoffnungen machte. Seine Stimme war dabei etwas leiser geworden. Er hegte diese Hoffnung wohl schon länger und war offenbar ein klein wenig fatalistisch geworden, was seine Aussichten anbetraf.
»Es gibt hier drei Hives, haben wir gehört«, warf nun Uruhard ein, bestrebt, das Thema zu wechseln, ehe die Kommunikationsbereitschaft der Diener einen Dämpfer erhielt.
Der Mann nickte eifrig. Darüber schien er gerne reden zu wollen. Tatsächlich hatte seine Stimme nun den Unterton von Stolz.
»Drei, in der Tat. Alle unten auf Gehenna, der Welt, um die unsere Zivilisationen kreisen.«
»Da unten wohnt niemand?«
»Gehenna ist nicht völlig unbewohnbar. Zu Zeiten der Republik halfen große Terraform-Generatoren, die Lebensbedingungen zu verbessern. Als diese ausfielen, kehrte der Planet ganz langsam zu seinen eher grenzwertigen Lebensbedingungen zurück. Es ist schwer, da unten zu überleben. Nicht unmöglich, aber schwer. Einige Unbeugsame trotzen der Natur seit Generationen, wir nennen sie die Sturmleute. Ein stolzes Völkchen, aber im Schwinden begriffen. Ein paar größere Siedlungen, viele Einsiedler. Es gibt noch ein mehr oder weniger gut funktionierendes Schienenbahnsystem und einige Straßen. Der Rest des Landes muss mit Geländefahrzeugen bewältigt werden. Keine planetare Regierung, einige lokale Anführer, aber alles eher informell.« Er zuckte mit den Schultern. »Hier oben ist das Leben einfach viel angenehmer, das merken auch die Nachkommen der alten Siedler. Mehr und mehr ziehen es daher vor, da unten nur zu leben, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Servicepersonal der Produktionsanlagen und der Hivekontrolle. Ein paar Wachen. Und eben jene, für die der Weltraum nichts ist. Solche Leute gibt es ja immer.«
Er verzog den Mund. »Ich war noch nie dort. Ich glaube nicht, dass es da etwas für mich gibt.«
Jedenfalls ganz offensichtlich keine Verdienste, die einen würdig erscheinen ließen, zum Auri aufzusteigen, dachte Ryk. Gehenna klang wie die Erde, nur ein wenig weiter in der Zukunft, wenn der Hive mit ihr fertig war. Es hörte sich nicht erfreulich an.
»Sie beherrschen den Hive?«, fragte Uruhard.
»Die Auri verwalten die drei Ableger für uns. Ein großer und zwei kleine.«
»Was kann ich mir darunter vorstellen?« Uruhard war ernsthaft interessiert.
»Wir nutzen ihre Produktionskapazitäten für Biotech, was dem Überleben unserer Habitate sehr dienlich ist, vor allem in Bezug auf die Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln. Wir füttern die Hives mit Rohstoffen, sie wandeln sie auf unser Geheiß um. Unsere medizinischen Zentren sind für fast jede Eventualität gerüstet und auch körperliche Verbesserungen sind durchaus begehrt.« Er sah Sia an. »Ein wenig wie Sie, meine Teuerste, nur … eleganter.«
Es gab, davon war Ryk absolut überzeugt, im Universum nichts und niemand Eleganteres als Sia, aber er protestierte nicht. Sia nahm die Bemerkung ohne jede erkennbare Regung zur Kenntnis. Nicht nur er bemerkte, dass, trotz aller Beflissenheit und wohlverhüllt, die Arroganz tief in dem Diener verwurzelt war, und hin und wieder blitzte diese eben durch, auch gegenüber den Ehrengästen, die zu umschmeicheln ihm aufgetragen worden war. Ein zweiter, feiner Riss im schönen Schein. Ryk musste sich wohl damit abfinden, dass dies kein Paradies war.
Die kleinen Küchlein aber, die man ihnen reichte, waren vorzüglich.
»Wie war es möglich, die Hives unter Kontrolle zu bekommen?«, wollte Uruhard wissen.
»Das fragen Sie besser mich.«
Alle Köpfe drehten sich in Richtung der Stimme. Eine Frau mit Tattoo und Edelstein betrat das Ankleidezimmer, angetan mit den goldenen Gewändern einer Auri, und sie sah darin absolut beeindruckend aus. Ihre massive, aufrechte und hochgewachsene Gestalt war die Personifizierung von Würde und Macht und ihr Charisma beinahe erdrückend. Die Diener jedenfalls schrumpften zu bloßen Abbildern ihrer selbst zusammen und setzten ihre Arbeit schweigsam und demütig fort.
Die Frau aber lächelte gewinnend. Sie hatte fleischige Wangen, die im Licht der Lampen schimmerten. Ihre dunkelbraunen Haare, gelockt und perfekt frisiert, durchzogen zwei weiße Strähnen, ein Symbol von Seniorität, bewusst hineindrapiert. An den Fingern trug sie schwere Ringe, besetzt mit Edelsteinen oder zumindest sehr überzeugenden Imitaten. Diese Frau hielt mit ihrem Status nicht hinter dem Berg. Sie war ein Symbol und eine Repräsentantin der Auri.
»Ich bin Godgifu, die Gelehrte. Ich wurde Ihnen, glaube ich, von Solos angekündigt.« Sie sah die Diener an und winkte. »Ich denke, das sollte genügen. Ich habe vor, mit meinen Gästen einen kleinen Rundgang zu machen.«
Auf ihr Wort hin verschwanden die Diener leise, nur mit einem sanften Rascheln, und unter Verbeugungen. Eben noch voller Betriebsamkeit, herrschte nun völlige Stille im Ankleidezimmer, ein seltsamer Vorgang, sehr schnell und gut orchestriert und sicher ewig eingeübt. Ryk schaute sich noch einmal erstaunt um. Wohin waren sie nur alle so schnell verschwunden?
Godgifu sah sie alle prüfend an, wie eine Lehrerin beim Examen. Sie wirkte zufrieden, wenngleich nicht begeistert. Jemand wie sie fand überall noch etwas zu kritisieren, niemand war perfekt, niemand würde jemals ihre strengen Qualitätsmaßstäbe vollständig erfüllen. Aber ihre Zufriedenheit war gewiss Lob genug, mehr als ein Normalsterblicher jemals würde erreichen können. Man sollte ihr wohlwollendes Urteil demütig annehmen.
Seltsam, welche Assoziationen mit dem Auftreten einer einzigen Person und einem simplen, bewertenden Blick geweckt werden konnten.
»Sie sehen präsentabel aus«, fasste sie dieses Urteil in Worte und es passte so gut zu Ryks eigenen Interpretationen, dass er sich über die erstaunliche Entwicklung seiner Menschenkenntnis Gedanken zu machen begann. »Kommen Sie mit, ich bringe Sie zum Audienzsaal. Den sollten Sie sich als Erstes ansehen. Keine Sorge, Sie müssen sich vor niemandem verbeugen. Er ist leer, bis auf einige Bedienstete, die die Zeremonie vorbereiten. Solos hat Ihnen davon erzählt?«
»Eine Inauguration«, sagte Uruhard.
»Sehr richtig. Regierung ist ewig, nur die Gesichter wechseln. Morgen bekommen wir ein neues Gesicht und alle werden es sich ansehen und darin die unablässige Kontinuität der Auri erkennen. Und weil uns das ein Gefühl von Sicherheit gibt, bauen wir ein großes Ritual drumherum und essen mehr, als wir eigentlich vertragen. Die menschliche Natur, unverändert seit Millennien. Sie werden unsere Gäste sein und daran teilnehmen. Es wird Sie etwas ermüden, aber nutzen Sie die Gelegenheit, mehr über die Art der Auri zu lernen.«
»Sie sind Historikerin«, stellte Uruhard fest. »Jeder Historiker stöhnt über die Unbelehrbarkeit der Menschen.«
Godgifu lachte auf, ein kehliges Lachen, das tief aus ihrer voluminösen Brust zu kommen schien.
»Das gefällt mir. Kommen Sie. Sie werden es nicht bereuen. Pax kann einem viel beibringen.«
Sie drehte sich um und ging los, in der felsenfesten Erwartung, dass man ihr folgen würde. Und selbstverständlich war diese absolut berechtigt.
Es gab zur Erleichterung ihrer Fortbewegung überall Laufbänder. Nicht dass Ryk etwas gegen einen Fußmarsch hatte, aber seit ihrer umfassenden Vorbereitung trug er Make-up und er wusste nicht, wie dieses sich mit Schweiß vereinbaren ließ. Er wollte nicht wie ein zerlaufenes Gemälde aussehen. Glücklicherweise waren die Auri sehr bequeme Menschen und die Laufbänder durchzogen das palastartige Gebäude wie Adern. Man kam überallhin. An Geschäften und Cafés vorbei, Boulevards entlang, an deren Rändern Waren und Dienstleistungen feilgeboten wurden, die Ryk nicht alle zweifelsfrei identifizieren konnte. Es gab nur wenige Passanten, aber wer sich einfand, war aufwendig gekleidet, geschminkt und bewegte sich wahlweise würdevoll oder graziös. Ryk selbst kam sich bei jeder Regung wie ein Trampel vor. Wahrscheinlich lernten die Kinder hier von klein auf bereits, wie man sich richtig verhielt, wie man Hände und Arme und Beine so bewegte, dass es dem Beobachter ein Wohlgefallen war. Er hatte eine gute Koordination seiner Gliedmaßen, das brachte seine bisherige Profession mit sich, aber es fehlte ihm an Eleganz, das war ihm schmerzlich bewusst.
Momo war zu beneiden. Niemand erwartete von ihm leichtfüßiges Getänzel. Er stapfte vor sich hin und das Einzige, was man ihm ansah, war das immer noch spürbare Unwohlsein ob seiner reichlich drapierten Kleidung, die er mehr wie Gepäck trug. Der Defo wirkte auf eine sehr unwillige Weise beeindruckend und die Passanten sahen vor allem ihn an. Sie starrten natürlich nicht. Ryk vermutete, das würde dem feinen Ton widersprechen.
Aber die Gruppe fiel auf.
Möglicherweise hatte sich ihre Existenz ohnehin herumgesprochen. Besuche von der Erde dürften eher unüblich sein.
Bögen, Portale, Säulen, kleine Brücken über künstlichen Bächlein, Springbrunnen. Ryk wusste gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Die Architektur der Auri war auf Abwechslung, gleichzeitig aber auf die Repräsentation von Luxus und Macht ausgerichtet, ohne dabei allzu protzig zu wirken. Es gab vieles, was einfach nur angenehm fürs Auge war, das beruhigte und die Gedanken streichelte wie die sanfte Hand einer Geliebten. Es war eine Umgebung, die nur bei jenen Aggressionen auslöste, die mit einer Überdosis Lieblichkeit nicht zurechtkamen. Für alle anderen war es einfach nur schön und Ryk spürte, wie die feinen Risse, die ihn so beunruhigt hatten, überdeckt wurden durch diese Schönheit. Wer solche Umgebungen schuf, mit so viel Sorge und Achtsamkeit, der mochte nicht in allem perfekt sein, aber doch in vielem und, das war vielleicht nicht ganz unwichtig, konnte Ryk möglicherweise ein gutes Leben anbieten.
Ein gutes Leben .
Manchmal war das doch schon ausreichend. Der Gedanke setzte sich in ihm fest.
»Durch dieses Portal«, sagte die Gelehrte. »Sie sind autorisiert, so lange Sie in meiner Nähe bleiben. Aufschließen bitte. Nicht trödeln.«
Sie kamen in einen großen Saal. Es wurde, als sie eintraten, entweder tatsächlich einige Grad kühler oder es wurde nur dieser Eindruck vermittelt. Sie legten die Köpfe in den Nacken, um die domartige Kuppel zu sehen, die durch transparente Streifen einen Blick ins Weltall ermöglichte. Ryk erinnerte sich an den Anflug. Dieses Gebäude hatte im Zentrum von Pax gestanden. Der Boden war blank poliert und spiegelte etwas trübe, aber wenn man genau hinsah, konnte man die Sterne darin widerscheinen sehen. An den Wänden hingen Stoffbahnen, bedruckt mit kunstvollen Mustern, in Hellbraun und Ocker gehalten. Dazwischen hingen Gemälde. Ob sie tatsächlich von Hand gemalt worden waren, konnte er nicht beurteilen. Sie zeigten Szenen, in denen prächtig aussehende Männer und Frauen im Kreise anderer prächtig aussehender Männer und Frauen standen und etwas erklärten oder befahlen oder aufmerksam zuhörten. Es schien nur drei oder vier Posen zu geben, die sie alle auf ihre Weise wiedergaben. Es waren gewiss reale Menschen, historische Gestalten, aber sie waren gleichzeitig Symbole ihrer Position.
»Wandteppiche«, sagte die Auri, als sie die fragenden Blicke bemerkte. Dann lächelte sie, vielleicht eine winzige Spur zu mitleidig, um als nur verständnisvoll durchzugehen. »Sie sind sehr alt. Die Gemälde zum Teil ebenfalls, je nachdem, wen sie darstellen. Das Heptarchenporträt in der Großen Halle wird immer ein Jahr nach Amtsantritt angefertigt.«
Für jemanden wie Andhmergen Kros war »sehr alt« sicher ein für sich stehendes Qualitätsmerkmal, Ryk jedoch fand, dass ein Gegenstand schon etwas mehr zu bieten haben sollte als Alter. Die eingewobenen Muster in den Teppichen ergaben keinen gegenständlichen Sinn, aber sie waren angenehm fürs Auge, so viel musste Ryk zugeben. Damit passten sie ja zu allem, was er bisher hier erblickt hatte. Die Gemälde hingegen wurden nach mehrmaligem Betrachten schnell langweilig.
Dominierend in dem beachtlichen Saal aber war die Empore am Kopfende und an ihrem Abschluss, halb mit der Wand verschmolzen, der überdimensionierte Oberkörper einer männlichen Gestalt, wie aus einem Bergmassiv herausgehauen, deren Augen unter buschigen Brauen auf die Weite der Halle starrten und jede Bewegung zu verfolgen schienen.
Sie alle starrten zurück und Godgifu erlaubte ihnen einen Moment der Kontemplation und stillen Bewunderung.
»Sehen Sie genau hin«, forderte sie ihre Gäste dann noch auf. »Er trägt eine Uniform.«
»Eine Uniform der Unionsflotte«, stellte Uruhard fest. »Die Dienstgradabzeichen eines Admirals. Wer ist das?«
»Das ist der Gründervater von Pax und damit indirekt auch der Heptarchie, wenngleich er ihre Gründung wohl nicht mehr miterlebt haben dürfte. Admiral Rothbard. Man sagte mir, der Name sei auch auf der Erde wohlbekannt.«
Die Gelehrte schaute sie lauernd an, oder zumindest erwartungsvoll. Natürlich hatte sie von Solos alles erfahren, was es über die Absichten der Besucher zu berichten gab. Ihr Auftritt hier war wohlkalkuliert und effektiv.
Ryk stieß den Atem aus, von dem er erst jetzt merkte, dass er ihn angehalten hatte. So war das bei ihm, war er sehr konzentriert, vergaß er das Atmen. Irgendwann entsann sich sein Körper dann dieser lebenswichtigen Funktion und holte das Unterlassene nach. Es wirkte dann so, als würde Ryk permanent stöhnen und ächzen, dabei war er nur ganz bei der Sache. Das verstand nur nicht jeder.
Godgifu lächelte sie an, nun eher interessiert. »Sie haben uns ja von Ihrer spannenden Idee erzählt und wir haben, natürlich nur aus Sicherheitserwägungen heraus, beim Eintrittsscan die alten Codekarten in Ihrem Besitz gefunden.« Sie hob abwehrend die Hände, ehe jemand etwas sagen konnte. »Sie können sie behalten. Sie sind wirkungslos. Es dürfte keinen Zugangspunkt mehr in der Heptarchie geben, an dem auch nur eine von ihnen funktioniert. Ich würde sie mir natürlich gerne mal ansehen, aus rein wissenschaftlichem Interesse, aber auch das wäre nur eine freundliche Bitte, keine Anordnung.«
Sia warf Uruhard einen bezeichnenden Blick zu, dieser nickte und holte das kleine Bündel der hochkomplexen Karten hervor. Er zögerte einen Moment, dann reichte er sie der Auri. Diese nahm die Relikte mit allen Anzeichen ehrlichen Respekts entgegen. Verteilt in der Halle standen mit weißen Hussen versehene Stehtische. Sie ging zu einem, verteilte die Karten darauf und betrachtete diese eingehend.
»Sehr schöne Stücke«, sagte sie dann. »Falls Sie sie nicht mehr brauchen, ich biete Ihnen einen sehr, sehr guten Preis dafür an. Wir haben ein Museum, in dem wir diese Dinge ausstellen und sie wären eine feine Ergänzung unserer Sammlung.«
»Bis auf Weiteres würden wir sie gerne behalten«, erwiderte Uruhard.
Godgifu nickte. »Natürlich, das verstehe ich. Aber mein Angebot ist ernst gemeint. Was haben Sie mit diesen Karten vor? Ich meine, ich würde es wirklich gern aus Ihrem eigenen Mund hören. Der gute Solos, ehrwürdig und weise, wie er ist, kann, was diese Dinge angeht, manchmal etwas spöttisch wirken. Ich bin Historikerin und sehr daran interessiert, was Sie vorhaben.«
Ryk fand die Worte ermunternd. Godgifu mochte ihre Idee als »spannend« bezeichnet haben, bekanntermaßen ein Wort, das recht freundlich ausdrückte, was für einen Blödsinn man beabsichtigte, aber ihr fachliches Interesse wollte er nicht in Abrede stellen. Und vielleicht wusste sie doch etwas, das ihnen dienlich sein konnte.
»Sie kennen die Legende vom Letzten Admiral?«, fragte Uruhard.
Die Auri wies auf die gigantische Büste, die den Saal dominierte. »Er ist für uns keine Legende, sondern eine sehr reale, wenngleich weit entfernte und manchmal arg mystifizierte historische Gestalt. Um ihn ranken sich viele Geschichten. Tatsache ist, dass er nach dem vollständigen Zusammenbruch der Union instrumentell dafür verantwortlich war, dass hier im System des Flottendepots die Reste der Menschheit eine neue Heimat fanden, die sie zu dem aufbauten, was Sie alle nun mit eigenen Augen bewundern dürfen.«
»Rothbard war also tatsächlich hier?«
Die sanfte Bewunderung in Uruhards Stimme war nicht zu überhören. Godgifu quittierte sie mit einem geschmeichelten Lächeln, als sei sie selbst für diese historische Tatsache verantwortlich. Ryk sah den ehemaligen Wachtmeister kurz an. Uruhard verstand es, mit dieser Frau zu reden.
»Er war Kommandant des Depots, als die Erde fiel und der letzte Widerstand zusammenbrach. Er lebte hier und unseres Wissens starb er auch hier.« Die Frau sah sie alle mitleidig an. »Nicht irgendwo in einer fernen Festung, angefüllt mit Wunderwaffen gegen den Hive. Er starb hier, an Altersschwäche, nachdem er den Grundstein für die Errichtung von Pax und damit für das Überleben der Menschheit als aktive und erfolgreiche Zivilisation gelegt hatte. Das sagen zumindest unsere Aufzeichnungen. Ich will einräumen, dass in den Wirren des Wiederaufbaus so einiges verschwunden ist oder gelöscht wurde, aber dennoch glaube ich, dass wir ein recht gutes Bild von den damaligen Ereignissen haben.«
»Er errichtete eine Zivilisation, die niemals all die anderen Welten besucht hat?«, fragte Ryk ungläubig. »Niemals anderen helfen wollte? Die den Zusammenbruch dazu nutzte, um sich von allem abzukapseln?« Er wollte nicht vorwurfsvoll klingen. Er tat es aber. Es war ihm nicht einmal richtig peinlich. Das war einfach etwas, das ihm nicht in den Kopf wollte.
»Na, na!«, machte Godgifu und wackelte mit dem Zeigefinger. »Nicht so schnell, junger Mann. Es ist natürlich verständlich, dass Sie sich nicht wohl bei dem Gedanken fühlen. Sie haben mehr von uns erwartet, nicht wahr? Oder soll ich sagen – mehr von Admiral Rothbard?«
Ryk senkte den Blick.
»So kann man es auch sagen.«
Die Historikerin zeigte erneut auf die Büste. »Admiral Rothbard selbst hat es verboten. Sein erstes Gesetz. Seine Worte in der Rede, die im Grunde vieles sagte, was bis heute noch Gültigkeit hat: ›Bleibt im System! Zerstört die Überlichtantriebe!‹ Wir hatten unsere Freiheit errungen, weil wir es geschafft hatten, den Hive zu beherrschen. Wir wollten niemanden mehr auf uns aufmerksam machen. Rothbard selbst hielt es für wichtiger, hier die Keimzelle zum Überleben der Menschheit zu schützen, als sich da draußen in unwägbare Gefahren zu begeben. Gefahren, die uns dann doch noch das Genick gebrochen hätten. Wem hätte es etwas genutzt, wenn wir daran gescheitert wären? Die letzte Chance auf ein Überleben der Zivilisation hätte sich aufgelöst und diesmal aus eigenem Verschulden, eigener Überheblichkeit.« Sie sagte es ohne jede Bitte um Entschuldigung in der Stimme, ganz von der Richtigkeit ihrer Worte und der damals getroffenen Entscheidungen erfüllt. »Wir beherrschen den Hive. Er funktioniert und er signalisiert durch seine Sporenschiffe den anderen Hives: ›Mir geht es gut. Alles läuft nach Plan. Kümmert euch nicht um mich.‹ Das würde sich schnell ändern, wenn wir mit Raumschiffen auf ehemaligen Welten der Union auftauchen würden.« Sie schüttelte entschieden ihren Kopf. »Das wäre Selbstmord. Oder zumindest ein verdammt hohes Risiko. Erwarten Sie das von uns, Sie alle? Hätten Sie damals so gehandelt? Es war eine schwere Entscheidung, aber zweifelsohne die richtige.«
Ryk wollte auf diese Frage nicht antworten, denn egal was er sagte, es würde falsch sein. Er wollte auch nicht, dass die Hoffnung, die er sich mühsam erarbeitet hatte, durch solche Äußerungen gleich wieder zerstört wurde. Andererseits … warum nicht ein wenig zerstörte Hoffnung, wenn er dafür die Möglichkeit erhielt, an diesem Ort leben zu dürfen? War das wirklich eine so schlechte Aussicht?
Er würde mit seinem endgültigen Urteil noch abwarten. Aber wenn sich herausstellen würde, dass ihr Weg hier endete … warum eigentlich nicht? Er sah die anderen an. Dachten sie ebenfalls so? Er behielt seine häretischen Gedanken wohl besser erst einmal für sich.
»Admiral Rothbard hat Aufzeichnungen hinterlassen?«, fragte Uruhard.
Die Gelehrte war nun erleichtert, dass sie dieses etwas emotional aufgeladene Thema wieder verlassen durfte. Sie schenkte dem Mann ein dankbares Lächeln und nickte. »Ein ganzes Museum voll. Wir haben ein umfassendes Archiv. Es steht Ihnen natürlich offen. Lassen Sie uns nur erst die Inaugurationszeremonie hinter uns bringen.« Die Frau zeigte ihnen in einer um Verständnis heischenden Geste die Handflächen. »Sie müssen etwas Geduld mit uns haben, gerade in dieser historischen Stunde. Die ganze Stadt steht derzeit Kopf. Alle schauen auf die Zeremonie, es gibt kein anderes Thema in den Straßen. Es lähmt sogar Handel und Wandel. Es kommt nicht oft vor, dass wir alle Zeugen eines solch historischen Ereignisses werden. So schnell stirbt ein Heptarch nicht und so schnell wird es auch keinen neuen geben. Dazu kommen dann noch Besucher von Terra … Die Nachricht verbreitet sich bereits in Windeseile. Der künftige Heptarch persönlich hat nach Ihnen gefragt. Ich gebe zu, er will sich etwas in Ihrem Ruhm sonnen.« Godgifu senkte die Stimme, sie nahm einen beinahe verschwörerischen Tonfall an. »Er ist als Person ein wenig … spröde. Ich will nicht sagen langweilig, aber er ist niemand mit allzu viel Charisma.« Sie lächelte sofort wieder. »Das ist gar nicht so schlimm. Wer sich nicht allzu viel auf sein Auftreten und seine gesellschaftliche Wirkung einbildet, ist meist ein ganz ordentlicher Anführer. Eitelkeit schadet oft nur.«
Ryk erinnerte sich an den Sire und kam nicht umhin, ein Körnchen Wahrheit in ihren Worten zu finden.
Die Frau klatschte in die Hände. »Ich zeige Ihnen jetzt noch etwas. Ihre Enttäuschung tut mir schon etwas weh. Sie sollen sich wohlfühlen und ich erzähle Ihnen hier Sachen, die Ihre Träume und Ziele zumindest infrage stellen. Das geht natürlich gar nicht. Hier, es gibt eine zweite Halle neben dieser. Und von dort haben wir eine wunderbare Aussicht auf ein ganz besonderes Schmuckstück. Hier entlang. Einfach mir nach.«
Ihnen blieb ja im Grunde gar nichts anderes übrig. Momo grunzte etwas, es klang unwillig, auf eine sehr moderate und zurückhaltende Art und Weise. Dem Defo wurde all dies wahrscheinlich langsam zu viel.
Sie betraten, wie angekündigt, eine zweite Halle mit einem kunstvoll zusammengesetzten Mosaikboden, der überlebensgroße Gestalten zeigte, die Dinge taten. Ryk versuchte zu erkennen, was genau, aber es blieb ihm weitgehend ein Rätsel. Die zweidimensionalen Figuren, zusammengesetzt aus kleinen Steinchen – zumindest wurde dieser Eindruck erweckt –, hielten allerlei Gerätschaften in Händen, deren Zweck der Springer nicht kannte. Es wurde sicher eine Geschichte erzählt, möglicherweise aus der Gründerzeit, irgendetwas Heldenhaftes über Aufbau und Beharrlichkeit. Ryk erwartete nicht weniger als das und es war ja auch berechtigt. Hier hatte man so einiges erreicht.
Die eine Wand der Halle war ein gigantisches Panoramafenster, nach Ryks Schätzung zwanzig Meter hoch und gut dreißig Meter breit, mit einem Gitternetz sehr feiner, kaum sichtbarer Metallstreben versehen, um es zu stabilisieren. Der atemberaubende Ausblick war bewusst auf eine Andockklammer gerichtet, in der ein Raumschiff hing, eine Hülle von schlichter Eleganz, wie ein lang gezogener Tropfen, mit einem viereckigen Block am Heck, dessen abgerundete Kanten sich recht harmonisch in das Gesamtbild einfügten. Ryk war fasziniert. Das war kein alter Crawler und auch kein irgendwie ekliges Sporenschiff, das war ein richtiges Raumschiff.
Er trat ganz nah an die Scheibe, drückte sich fast die Nase platt und blendete für den Moment alles um sich herum aus.
Es war wahnsinnig cool.
Er spürte eine plötzliche kindliche Begeisterung. Erstaunlich, was der bloße Anblick in ihm auslöste. Er wollte nicht nur auf dieses Schiff, er wollte es fliegen. Er wollte damit ablegen. Den Letzten Admiral aufsuchen? Seinetwegen gerne. Aber gerne auch ganz woandershin. Überallhin. Die Spannung, die er bei diesem Gedanken empfand, verband sich mit einer Sehnsucht. Es war mehr als nur Fernweh und Entdeckergeist. Es war auch mehr als Nostalgie, als das Bedürfnis, die gute alte Zeit wieder zum Leben zu erwecken. Es war das Verlangen, dieses wunderbare, perfekte Instrument zu nutzen, es zu beherrschen und sich ihm gleichzeitig völlig auszuliefern, Teil seiner Maschinerie zu werden wie auch es zu benutzen.
Er fand gar nicht die richtigen Worte für dieses Gefühl. Es war in jedem Fall besser als Sex. Gut, beinahe. Aber nahe dran.
Ryk betrachtete die Hülle intensiv. Die Beschriftung war gut zu erkennen.
»Das ist die Marcus Aurelius «, sagte die Historikerin. »Sie ist in einem ganz wunderbaren Zustand, von einem Team unter einem speziell abgestellten Kurator ständig gewartet. Wir verwenden große Mühe darauf und sind sehr stolz.«
»Wer war Marcus Aurelius?«, fragte Ryk.
Godgifu zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht ein berühmter Politiker der Union oder ein Feldherr. Oder ein Künstler oder Gelehrter. Jemand, der es wert war, ein Schiff nach ihm zu benennen. Dies ist eine Originalkorvette aus der Zeit der Union, das Ordonnanzschiff von Admiral Rothbard. Damit flog er durch die Galaxis, damals, als das noch möglich und nötig war. Seit jener Zeit liegt es hier, erhalten als Museum. Ein Erinnerungsstück an jemanden, der für uns ein weitaus konkreterer Held war als für Sie alle. Wir sollten es beizeiten gemeinsam besuchen, finden Sie nicht?«
»Von damals? Konserviert?«, fragte Sia.
»Es hat doch seinen Überlichtantrieb?«, fragte Uruhard.
Godgifu sah von einem zum anderen und schüttelte dann nachsichtig den Kopf. »Ich sehe schon, Ihr kleiner Traum lässt Sie nicht in Ruhe. Ja, das Schiff ist gut erhalten, aber ich bezweifle, dass der Überlichtantrieb noch funktioniert. Selbst wenn, es gibt niemanden mehr, der ihn bedienen könnte. Die Elektronik ist weitgehend inaktiv. Sie benötigen entweder einen qualifizierten Navigator oder Piloten oder eine der alten Künstlichen Intelligenzen. Oder haben Sie auf der Erde gelernt, ein Raumschiff zu fliegen?«
Ja, da war ein spöttischer Unterton. Ein wenig waren sie auch für die Historikerin sehr entfernte und etwas verwilderte Verwandte. Ryk ließ sich den in ihm aufsteigenden Zorn nicht anmerken.
»Nein«, sagte Sia ganz ruhig. »Aber diese Schiffe hatten doch eine KI eingebaut.«
»Ja, das ist korrekt. Doch die KIs sind verboten und die der Marcus Aurelius wurde gelöscht.«
»Verboten? Warum?«
»Die KIs haben sich in der Aufbauphase unserer Kolonie als sehr treu gegenüber der alten Union erwiesen. So treu, dass sie sich gegen unsere Pläne stellten, für uns zu bleiben und den alten Konflikt nicht wieder aufleben zu lassen. Wir mussten uns gegen sie wehren, trotz aller Probleme, die sich daraus ergaben. Es war überlebensnotwendig. Sie wurden alle gelöscht.« Godgifus Stimme klang nun traurig. »Ich hätte diese hier gerne erhalten. Die KIs wussten so viel. Mit ihnen sind unersetzliche Kenntnisse verschwunden und ich denke manchmal, wir waren damals zu voreilig, zu radikal. Aber es ist zu spät, sich jetzt noch darüber zu grämen. Es ist alles verloren. Ich verstehe die Entscheidung, bedaure sie aber zutiefst, wenngleich auch aus anderen Gründen als Sie.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ein Museumsschiff. Nicht mehr und nicht weniger. Ein wichtiges Symbol, ein Band zur Vergangenheit. Wir können es uns gerne nach der Zeremonie anschauen. Es wird Ihnen gefallen. Man kann an Bord etwas essen. Die Originalnahrungsautomaten funktionieren noch. Nährbrei, wie ihn Admiral Rothbard genossen hat.«
Sie überließ sie noch einige Momente ihren Gedanken, dann mahnte sie zum Aufbruch. Godgifu begleitete eine sehr schweigsame Gruppe zurück zu ihrer Unterkunft. Ryk war vielleicht am ehesten bereit, sich mit der schlechten Nachricht abzufinden, die die Historikerin ihnen soeben überbracht hatte. Sia und Uruhard, deren Gesichtsausdrücke er mittlerweile ganz gut deuten konnte, waren von einem tiefen Trotz erfüllt. Das würde nicht helfen. Es war wahrscheinlich viel sinnvoller, da draußen im System nach einem flugfähigen Raumschiff zu suchen, das sie ihrem Ziel näher brachte. Vielleicht hielten die Crawler noch eine alte Einheit verborgen oder es fand sich noch etwas in den Resten des Flottendepots, soweit es noch nicht geplündert war. Die Marcus Aurelius war ihnen vom Schicksal als unerreichbare und letztlich verdorbene Frucht vor die Nase gehängt worden. Sich um sie zu kümmern würde reine Zeit- und Energieverschwendung sein, davon war Ryk nunmehr überzeugt.
Oder er versuchte zumindest, das zu denken, um seine eigene Enttäuschung zu verarbeiten.
Es würde nichts mehr nützen. Sie standen am Ende einer Sackgasse.