6
Einen Tag gewährte man ihnen, um sich einzugewöhnen und sich etwas umzusehen. Die Zeit genügte nicht, um die Annehmlichkeiten ihrer Unterkunft im vollen Umfang zu erfassen, geschweige denn sie auszuprobieren, und gleichzeitig wurden ihnen die Einschränkungen ihres Aufenthaltes schmerzhaft bewusst. Sie waren keine Gefangenen, richtig frei waren sie aber auch nicht. Verließen sie die ihnen zugewiesenen Gemächer, waren sie unter ständiger Begleitung und Beobachtung. Es war nicht so, dass man ihnen ausdrücklich sagte, sie sollten sich zurückhalten. Doch die aufmerksamen Blicke der Bediensteten und das dezente Räuspern, wenn sie einen Wunsch äußerten, der am Rande des Möglichen lag, genügten bereits. Ryk empfand seinen freien Tag dennoch als interessant und anregend, und das allein schon deswegen, weil er ihm die Möglichkeit gab, sich seinen Tagträumen hinzugeben. Wie wäre es, wenn er sein ganzes Leben so verbringen könnte, umgeben von all diesen Möglichkeiten und einem Ausmaß an Bequemlichkeit, das er niemals für möglich gehalten hätte? Konnte jemand wie er ein Auri werden? Würde er vor dem Komitee bestehen, von dem der Diener erzählt hatte? Oder musste er erst noch einheiraten? Das war eine sehr seltsame Vorstellung, und das nicht nur, weil er doch eigentlich mit Sia zusammen war, irgendwie jedenfalls, soweit er das beurteilen konnte. Seit ihrer Ankunft war wenig Zeit für Zweisamkeit gewesen und dieser Zustand setzte sich auch fort, als ihr freier Tag um war und sie am nächsten Morgen mit ihrer nächsten Aufgabe konfrontiert wurden.
Etikette sollten sie lernen.
Ryk hielt nicht viel davon. Uruhard und Sia, die in etwas anderen gesellschaftlichen Kreisen aufgewachsen waren, verstanden das Grundprinzip, waren aber ebenfalls mit der Komplexität der Anweisungen überfordert. Momo war nicht nur überfordert, er nahm eine defensive Abwehrhaltung ein. Nur half es hier nicht, jemandem einen Schlag auf die Nase zu geben. Er wurde ja nicht angegriffen, er sollte nur formvollendet höflich sein. So etwas hatte bisher noch niemand von ihm verlangt.
Jedem von ihnen wurde eine Art Benimmlehrer zugewiesen. Der von Momo gab irgendwann auf und erklärte, er müsse seinem Schüler nichts beibringen. Dieser würde schweigsam in einer Ecke stehen und nichts tun oder sagen, daher war die Gefahr gering, in ein Fettnäpfchen zu treten. Hilfreich würde sein, ihn regelmäßig mit Nahrung zu versorgen, und Ryk meldete sich freiwillig, auf diese Notwendigkeit zu achten.
Momo war also schnell befreit und Ryk beneidete ihn. Er selbst hingegen wurde nunmehr auf sehr respektvolle Weise durch die Mangel gedreht, denn es wurde recht schnell klar, dass er von den restlichen drei am meisten Nachholbedarf in höflichem Umgang hatte. Und er erkannte sehr schnell, dass dies ein Thema war, für das er wenig Begeisterung aufbringen konnte.
»Es wird getanzt werden, wie auf jeder Zeremonie dieser Klasse«, erklärte ihm sein Lehrer, ein ältlicher Mann mit nasaler Stimme, der nach jedem zweiten Satz den Kopf ein wenig in den Nacken legte und Ryk schräg von oben herab ansah. Das war nicht nur eine sehr unangenehme Geste, sie führte auch zu einer sehr abgehackten Form der Kommunikation. »Können Sie tanzen? Formale Tänze? Walzer?«
»Ich höre das Wort gerade zum ersten Mal.«
»Verstehe.« Wieder der Blick. Tadelnd. Wertend. Abwertend. »Ich werde Ihnen die grundlegenden Schritte beibringen. Sie werden mit einer Dame einmarschieren, einer passenden Begleitung Ihres Alters.«
»Sia?«
»Nein, das nicht. Sie bekommen jemanden zugewiesen. Jemand, der zu Ihnen passt.«
Jemand, der auf Sie aufpasst , war die unausgesprochene Ergänzung. Dennoch, die Ankündigung weckte in Ryk eine gewisse Vorfreude. Alle Frauen seines Alters, denen er hier bisher begegnet war, hatten ein sehr gefälliges Äußeres gehabt und in den meisten Fällen war das sogar noch eine maßlose Untertreibung gewesen. Sia hin oder her, die Gesellschaft einer gut aussehenden Frau war nichts, was Ryk als unbotmäßige Belastung empfand.
»Darüber hinaus können Sie im öffentlichen Umgang, vor allem bei der Zeremonie, nicht tun und lassen, was Sie wollen«, fuhr der Benimmlehrer fort. »Ich möchte das wirklich ganz klar sagen: Sie müssen Regeln befolgen. Der Anzug wurde Ihnen ja schon angepasst. Keine Umhänge oder Schleier, Sie müssen sich bewegen können. Alles hat seine Reihenfolge. Eines nach dem anderen, nach festen Gesetzmäßigkeiten. Das beginnt schon beim Eintreten.«
»Ich halte der Frau die Tür auf!«, wollte Ryk sein Wissen unter Beweis stellen. Davon hatte er mal gehört.
Der Mann nickte langsam, offenbar überrascht darüber, dass sein Schützling irgendetwas wusste. Er zwang sich sogar zu einem anerkennenden Lächeln. Die abgrundtiefe Hilflosigkeit in Ryks Blick aber musste ihm auffallen. Der Lehrer holte tief Luft und hob dozierend einen Zeigefinger, um die ungeteilte Aufmerksamkeit seines unwilligen Schützlings zu erhalten.
»Grundsätzlich ist es zwar richtig, wenn ein Herr seiner Begleiterin die Tür aufhält, jedoch sollte er stets den Raum zuerst betreten. In unserem Falle wird es nicht nötig sein, denn die Saalportale sind weit geöffnet und Sie schreiten einfach hindurch. Die Dame geht rechts an der Hand oder dem Arm des Herrn. Der Arm ist besser, nicht zu vertraulich, Sie kennen sich ja noch nicht so lange. Die Hände sollten dabei mindestens auf Hüfthöhe sein. Die rechte Hand der Dame rafft dabei meist ihr Kleid, die linke Hand des Herrn ruht gewöhnlich auf seinem Rücken.« Er demonstrierte es. Ryk fand, dass das sehr seltsam aussah. »Eine Dame sollte niemals ohne Begleitung durch einen Saal gehen, sie sollte immer von einem Gentleman oder einer weiteren Dame begleitet werden. Sollte es einem Paar nicht möglich sein, nebeneinander eine Treppe hinauf- oder hinunterzuschreiten, so gilt: Hinauf geht die Dame voran, hinab der Herr.« Der Lehrer tänzelte demonstrativ. Seine Bewegungen waren bemerkenswert geschmeidig. »Niemals sollte ein Herr sitzen, wenn eine Dame bei ihm steht. Er sollte sich dann stets erheben. Sitzplätze sind vorrangig für die Damen reserviert, sodass sich sitzende Herren bitte erheben und der Dame ihren Platz überlassen, falls diese sich niederzulassen wünscht. Sollte einer Dame etwas herabfallen, sollte sich stets ein Herr finden, der sich geehrt fühlt, der Dame den betreffenden Gegenstand aufzuheben. Die Dame sollte den Gegenstand nur im äußersten Notfall selbst aufheben und dabei in die Knie gehen und sich unter keinen Umständen bücken. Es ist Ihre Aufgabe, junger Mann, solche peinlichen Situationen zu vermeiden. Obacht, immer Obacht!«
Er sah Ryk prüfend an. »Haben Sie das verstanden?«
Verstanden hatte er es. Er hatte es sich aber nicht gemerkt und es war zu befürchten, dass exakt das von ihm erwartet wurde. Allein diese kurze Kette an Instruktionen löste bereits massive Überforderung in ihm aus. Man konnte also im Grunde nur Fehler begehen. Fehler über Fehler. Es Momo gleichzutun und einfach nur starr irgendwo zu sitzen erschien ihm plötzlich wie die weitaus attraktivere Alternative.
»Gut. Jetzt noch einmal zum Tanzen. Tanzen ist wichtig«, ermahnte der Lehrer ihn nun. »Halten Sie die Augen offen, junger Mann, um richtig zu agieren und zu reagieren. Sollte eine Dame es nicht wünschen zu tanzen, so zeigt sie dies im Regelfall an, indem sie ein Glas, einen Fächer oder einen anderen Gegenstand gut sichtbar in der Hand hält. Zeigt sie dies nicht an und wird aufgefordert, so gilt eine Ablehnung als unhöflich. Der Herr eskortiert die Dame auf die Tanzfläche und verbeugt sich leicht vor Tanzbeginn. Die Dame macht einen kleinen Knicks. Der Herr bringt die Dame nach dem Tanz wieder zu ihrem Platz und bedankt sich bei ihr für die Ehre des Tanzes. Sie dankt dann für gewöhnlich kommentarlos mit einem Lächeln und einem leichten Nicken. Erwarten Sie keine weitere Kommunikation, aber lehnen Sie diese auch nicht ab. Beginnen Sie ein Gespräch nur, wenn Sie mit einem Lächeln oder Kopfnicken ein aufforderndes Signal bekommen haben. Ausnahme: Sie loben Auftreten und Aussehen der Tanzpartnerin oder die Gestaltung und den Schmuck des Ballsaals. Das ist jederzeit akzeptabel.«
Da war wieder der Blick. »Verstanden?«
Ryk nickte ganz, ganz langsam. Warum zum Teufel sollte er auf die Idee kommen, die verdammte Inneneinrichtung zu lobpreisen? »Muss ich denn tanzen?«
»Nein. Sie sind von außerhalb, es wird niemand von Ihnen erwarten, dass Sie herumlaufen und die Damen auffordern. Aber es könnte sein, dass neugierige Damen Sie zum Tanz bitten. Da gibt es kein Nein. Die Herren sagen niemals Nein, das wäre grob unhöflich. Und Sie sind interessant, junger Mann. Exotisch. Viele Damen werden bestrebt sein, Sie kennenzulernen. Richten Sie sich darauf ein.«
Das waren wahrscheinlich eher schlechte Nachrichten.
Es ging in diesem Tonfall weiter: meist geduldig, oft ein wenig genervt und sehr detailreich. Ryk wurde in eine Welt eingeführt, in der menschliches Zusammensein durch ein umfassendes Regelwerk bestimmt wurde, das genau definierte, was schicklich war und was nicht. Er ahnte, dass diese Regeln nicht pauschal für alle Bewohner von Pax galten. Er ahnte auch, dass sich selbst unter den Auri niemand permanent an diese Vorgaben hielt. Es war eher zu vermuten, dass sie für spezielle Anlässe vorbehalten waren, Anlässe, die einem höheren Zweck dienten.
Die Inaugurationszeremonie fiel zweifellos in diese Kategorie.
Ryk hörte zu. Er tat, was man ihm vormachte. Etwas verbeugen hier, die Körperhaltung einstudieren, die Tonlage wohlmoduliert, höfliches Interesse heucheln, Abstände kalkulieren, Bewegungsgeschwindigkeit einhalten. Körperausdünstungen kontrollieren. Das Gebot, auf keinen Fall in Gesellschaft einer Dame zu furzen, blieb ihm lebhaft im Gedächtnis, er erkannte intuitiv den gesellschaftlichen Nutzen dieses Gebots.
Als die Lektionen irgendwann beendet waren und die Lehrer sich höflich und erschöpft zurückzogen, saßen sie zusammen in einer Art Wohnzimmer, das ihre vier Schlafräume miteinander verband, und nahmen ein spätes und leichtes Abendessen ein. Eine Automatik schaltete die Lichter des Habitats herunter, um Nacht zu simulieren. Es war anstrengend gewesen und sie alle fühlten sich müde, dennoch kamen sie nicht umhin, noch einmal über die Ereignisse des langen Tages zu reden. Dabei ging es allerdings weniger um die Lektionen, sondern mehr um die Umstände ihres Aufenthaltes.
»Die Auri sind so etwas wie eine herrschende Schicht«, sagte Uruhard, der zugab, die vielen Verhaltensregeln auch nicht besser verinnerlicht zu haben als Ryk. Allein Sia konnte alles herunterbeten, aber sie hatte dafür auch eingebaute Hilfen. Sie vergaß nichts und niemanden. »Und diese Etikette ist ihr Erkennungsmerkmal. Genauso wie das Tattoo mit dem Edelstein als eine Art Rangabzeichen dient – wie bei den Wolkensamurai in Metropole 7. Damit schotten sie sich anderen gegenüber ab und definieren ihre eigene herausgehobene Stellung. Nur wer dazugehört, muss sich gewissen Ritualen unterwerfen, die demnach gleichermaßen Leid wie Privileg sind.«
»Wir sind also jetzt Teil dieser Schicht?«, fragte Ryk verwirrt. Er fühlte sich absolut nicht so.
»Nein, wir sind Gäste. Besondere Gäste, denen die Chance gegeben wird, sich richtig zu verhalten, um einen vermeidbaren Eklat zu verhindern. Unsere exotische Herkunft ist vermutlich eine einmalige Eintrittskarte. Aber wenn wir die Erwartungen nicht erfüllen, wird diese Lektion in Etikette wahrscheinlich unsere einzige gewesen sein. Sobald wir nicht mehr neu sind und auch sonst keinen Unterhaltungswert haben …« Uruhard ließ den Satz in der Luft hängen.
»Gut«, kommentierte Momo und es kam sicher aus der Tiefe seines Herzens.
»Welche Erwartungen sind das genau?«, wollte Ryk wissen. Es war bezeichnend, dass er keine sofortige Antwort bekam.
Schließlich seufzte Uruhard und zuckte mit den Schultern. »Ryk, mir fällt wirklich nur das eine ein: Wir sind amüsant«, sagte er leise. »So lange wir amüsant sind, man uns herumreichen kann und unsere Gesellschaft eine interessante Abwechslung ist, so lange haben wir einen gewissen Wert. Das ist meine Interpretation. Sia?«
Die Hybride blinzelte. In einer Hand hielt sie ein Glas aus Kristall, in dem ein grünlicher Saft schimmerte.
»Ich habe auch keine bessere. Aber ihr habt doch Godgifus Reaktionen bemerkt, oder? Ich habe genau darauf geachtet. Unser Interesse an Rothbard und dieser dummen, alten Legende, wie sie sie so gerne abtut, hat sie stärker beunruhigt, als sie zeigen wollte. Sie war zu schnell dabei, es abzutun und es uns auszureden.«
Ryk hatte das nicht gemerkt, wollte es aber nicht zugeben und nickte daher nur bedeutungsvoll.
»Du meinst, es steckt etwas dahinter?«
»Ich meine, dass vieles von dem, was wir zu sehen bekommen, nur schöner Schein ist.« Jetzt war es an Sia, bedeutungsvoll in die Runde zu schauen, und instinktiv ahnte Ryk, dass sie damit auf die Nachricht von Rita anspielte, die ganz sicher auch Uruhard und Momo kannten. Alle verhielten sich vorsichtig. Es war nicht abwegig anzunehmen, dass man ihnen hier zuhören würde. »Man zeigt sich von seiner besten Seite und präsentiert uns den höchsten Luxus. Es fühlt sich wie Gastfreundschaft an, aber …«
Es war möglicherweise Bestechung, schoss es Ryk durch den Kopf. Es war ihm fast peinlich, nicht selbst darauf gekommen zu sein.
»Wir werden unseren Plan nicht aufgeben«, stellte Uruhard fest. »Wir werden weiterhin versuchen, den Letzten Admiral zu finden, richtig? Egal was man uns hier anpreist und verspricht. Richtig?«
Er fragte etwas zu intensiv nach. Spürte er, was in Ryk vorging, welche Gedanken er hegte – oder hatte er sie gerade selbst und wollte durch die Gruppe von ihnen abgebracht werden? Eine nur allzu menschliche Reaktion.
Der ehemalige Wachtmeister sah in die Runde. Sia nickte sofort, auch Momo signalisierte seine Zustimmung. Ihm gefiel es hier bisher am wenigsten.
Ryk musste sich beherrschen, nicht zu lange zu zögern und damit aufzufallen. Dann beugte er sich dem Gruppenzwang und nickte ebenfalls. Ein wenig fühlte er sich dabei, als würde er seine Freunde betrügen. Es gefiel ihm hier. Das Leben, der Wohlstand, die gelassene Selbstsicherheit der Auri. Die Idee, selbst einmal zu ihnen zu gehören, war nicht so abwegig und enthielt in der Tat eine große Verheißung. Doch er wusste auch, dass er das mit den anderen nicht würde diskutieren können. Jedenfalls nicht offen. Und im Grunde nicht einmal mit sich selbst, denn eine Versuchung konnte sich rasch in einen Fluch verwandeln und dann war da nichts mehr als die Enttäuschung naiver Träume. Aus dem Alter, so wollte er es gerne von sich glauben, war er heraus. Das machte ihn nicht nur etwas traurig, sondern auch zornig auf sich selbst.
In Zorn, Traurigkeit und Verheißung vergingen die Tage bis zur großen Zeremonie.