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Als sie das Portal durchschritten, passierten Ryk zwei Dinge.
Zum einen erinnerte er sich daran, dass er den rechten Arm so halten musste, dass Theresa Alyssa Manon Æthelflæd – er durfte sie Tama nennen – bequem ihre Hand in seiner Armbeuge verankern konnte. Ihre zarte, schlanke, weiß behandschuhte und extrem anmutige Hand. Alles an Tama war zart, schlank, weiß und anmutig, ätherisch nahezu. Er hatte in der Zeit, in der sie sich kennenlernen durften – zwei Stunden seichtes Geplauder am Vortag –, ausreichend Gelegenheit gehabt, sie genau anzusehen, und das ohne Reue. Es war schließlich seine Aufgabe, ja, seine Pflicht als Gentleman, als Begleiter und, wie man sagte, Beschützer der Dame während dieser Festivität. Tama war ein Kunstwerk und obgleich Ryk sich nicht hundertprozentig sicher war, wie viel von diesem perfekten Anblick echt und wie viel modelliert war, ruhte sein Blick gar wohlgefällig auf ihr. Das Einzige, was die Perfektion störte, war die Perfektion. Sie hatte eine Vollkommenheit erreicht, die unwirklich erschien. Sia wirkte dagegen mit ihren Ecken und Kanten nahezu ordinär. Und das wiederum machte sie in Ryks Augen viel perfekter, wenn auch nur für ihn selbst.
Natürlich sagte er das Tama nicht. Er sprach ohnehin nicht viel mit ihr. Perfektion schüchterte ein. Im Einschüchtern war sie ganz gut, ohne dass sie es darauf anlegte.
Sie war die Cousine dritten Grades des neuen Herrn über Pax und die Heptarchie, eine Auri reinsten Blutes, und sie verhielt sich auch so. Es war ihr Geburtsrecht, quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Dass sie die Tatsache, Ryk begleiten zu müssen, gleichzeitig als Auszeichnung, Strafe wie auch verantwortungsvolle Aufgabe ansah, schien sie etwas zu überfordern, aber selbst diese Überforderung federte sie durch formvollendete Manieren und perfekten Umgang ab. Es gab nichts, was diese dicke, schwere Kruste wohlfeiler Zivilisation wirklich durchdrang. Sie lag wie ein Panzer um die junge Frau und würde sie alles ertragen lassen, was ihr durch die Umstände auferlegt worden war. So gesehen war Ryk gewiss nur eine kleine Herausforderung.
Die wenigen Worte, die sie vor Beginn der Feierlichkeiten miteinander gewechselt hatten, schwankten jedenfalls zwischen Fürsorge, Arroganz und Pflichterfüllung. In etwa dieser Reihenfolge, auch wenn die Erinnerung in Ryk bereits verschwamm. Dazu hatte es süßlichen Tee gegeben, fast durchsichtig, und Gebäck, fast durchsichtig, so zart, dass es zerfloss, sobald es die Zunge berührte. Passend zu Tama, deren Zerbrechlichkeit wie eine Warnung an jeden wirkte, sie auf keinen Fall zu berühren. So nahm Ryk es wahr. Es war leicht zu ertragen, da Tama gleichzeitig wahnsinnig hübsch war und wusste, wie sie ihr äußeres Erscheinungsbild mit jeder Bewegung betonte. Das entschädigte für vieles.
Außerdem hatte die Zerbrechlichkeit ein Ende, wenn es um Tamas Willen ging. Als Ryk aus Versehen in die falsche Richtung irrte, spürte er ihre Hand an seinem Arm und die Kraft, die sie ausübte, ließ keinen Zweifel aufkommen.
Tama war also das eine, was ihm passierte. Zum Zweiten wurde er überwältigt von der schieren Präsenz der Festgäste. Vor dem Portal tauchte er ein in ein Meer aus Farben, Gewändern und Gerüchen. Die bloße Präsenz von noch mehr Perfektion in dieser geballten Intensität löste bei ihm Kopfschmerzen aus. Die Halle war ohne Leute schon imposant genug, jetzt aber war sie voller Menschen, und alle sahen sie gut aus, alle befolgten die Regeln, die sie von Kindesbeinen an gelernt haben mussten. Alle waren prächtig gekleidet und obgleich Ryk in seinem Leben niemals besser ausgesehen hatte, fühlte er sich neben manchem Gewand plötzlich klein und unscheinbar. Ein Massenauflauf, auch ohne Dirigenten perfekt orchestriert, in dem alle Beteiligten um ihre Position wussten, den Weg, den sie zu gehen hatten, und die Abstände, die sie wahren mussten. Tama war wie ein Fisch im Wasser und konzentrierte sich vor allem auf die Abstände, da die Neugierde der Anwesenden manche dazu veranlasste, das eigene Distanzverhalten zu vernachlässigen.
Dafür war er ihr dankbar.
Wie viele waren es? Tausend Gäste? Zweitausend? Niemand sagte ihm, wie viele, und er wagte es nicht, Tama nach ihrer Meinung zu fragen, um nicht einen dieser strafenden, abfälligen Blicke zu provozieren. Als er das Portal mit ihr an seiner Seite durchschritten hatte, blieb er jedenfalls unwillkürlich stehen, mehr oder weniger schockiert von dieser hochkonzentrierten Dosis an Etikette und Eleganz.
»Idiot!«, zischte Tama fast unhörbar. »Wir stehen im Weg!«
Sie brachte es fertig, das zu sagen und gleichzeitig ein demütiges Lächeln auf den Lippen zu bewahren. Ryk beobachtete das mit großer Faszination und vergaß darüber erneut, sich in Bewegung zu setzen.
»Autsch!«, entfuhr es ihm. Sie hatte ihn gekniffen. An Kraft mangelte es ihr nicht.
Er machte einige Schritte in die Halle hinein. Er wurde immer wieder angeschaut, vielleicht ein wenig angestarrt, aber nie so lange und so intensiv, dass es gegen die Etikette verstoßen hätte. Und wenn doch, bemerkte er es möglicherweise einfach gar nicht.
»Wohin?«, flüsterte er. Er hatte sofort den Überblick verloren.
»Idiot! Erinnere dich. Tisch 87, Plätze drei und vier.«
Er erinnerte sich. Natürlich war hier alles wohlgeordnet und auch die Sitzordnung war keinesfalls dem Zufall überlassen worden. Je weiter vorne man saß, desto höher war der gesellschaftliche Rang, noch einmal nuanciert durch die Auswahl der Tischnachbarn. Einer der Gründe, warum Tama Ryks Gesellschaft tapfer ertrug, war die angenehme Tatsache, dass ihr gesellschaftliches Ansehen durch ihn tatsächlich stieg. Allein oder mit einem der üblichen Begleiter hätte sie maximal eine untere dreistellige Tischnummer erreicht, nicht ganz hinten, aber im letzten Drittel des Raums, weit von der Büste entfernt, unter der eine Art Bühne aufgebaut worden war. Der exotische Gast aber genoss zumindest momentan große Aufmerksamkeit und das brachte Tama nach vorne und in Kontakt mit Leuten, die sich sonst etwas außerhalb ihrer Kreise bewegten.
Das war bestimmt toll. Glaubte Ryk. Was genau daran so erstrebenswert war, verstand er noch nicht richtig und es blieb ihm nichts anderes übrig, als Tama einfach zu glauben, die ihm beteuerte, es sei so. Zumindest für sie.
Sie fanden Tisch 87 und setzten sich auf die Plätze drei und vier. Ryk entsann sich der geltenden Regeln, zog den Stuhl zurück und deutete eine Verbeugung an. Er fühlte sich steif, seltsam und unelegant, während seine Begleiterin wie ein flatternder Kolibri mit zielsicheren, filigranen Bewegungen nahezu ohne Mühe auf den Sitzplatz glitt, eine fließende Routine, die Selbstsicherheit und viel Übung zeigte. Niemand bemerkte es außer ihm, denn alle waren routiniert, elegant, geübt und darauf konzentriert, den schönen Schein zu wahren. Ryk war akzeptiert, seine Anwesenheit als interessante Exotik eingepreist und wenn er nicht ganz so perfekt agierte, fand das wohlwollende Entschuldigung. Und wenn es eine peinliche Situation geben sollte, würde Tama auf ihn aufpassen und das richtige Wort zur richtigen Zeit finden. Dass das genau ihre Funktion war, daran ließ sie keinen Zweifel und Ryk hoffte nur, dass er ihr nicht zu viel Mühe bereitete.
Ihre Tischnachbarn waren ein weiteres Pärchen, deutlich älter, Senioren fast, würdevoller noch als Uruhard in seinen besten Tagen, Mann und Frau mit nahezu undurchdringlichen Mienen, die jede ihrer Gesten musterten, jedes Wort hörten und höflich, aber distanziert auf die Floskeln reagierten, die nun einmal gesagt werden mussten. Steinerne Monumente, für einen Moment fleischgeworden, aber jederzeit wieder bereit, zu den Denkmälern der Ehrwürdigkeit zu werden, die sie nun einmal waren. Die Frau mit dem mächtigen, hochgeschobenen Busen ließ ein Medaillon auf ebendiesem ruhen, ein funkelnder Juwel, eingelassen in eine goldene, fein ziselierte Fassung. Beides glitzerte im Licht der Lampen bei jeder Bewegung wie ein Stern, implantiert in die gepuderte und gecremte, wie Plastik aussehende Haut des beeindruckenden Dekolletés. Er fand eine schöne Entsprechung in der kleineren Variante an ihrer Schläfe und Ryk musste dieses Schmuckstück immer wieder anstarren. Nach einiger Zeit merkte er, wie die Dame ihn dabei beobachtete und seine Verlegenheit mit einem nahezu maliziösen Lächeln und einem betonten Wimpernschlag kommentierte, lautlos und eindeutig. Sie trug das Medaillon, so erschien es Ryk, damit ihr junge Männer auf den Busen starrten. Er wusste nicht, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte, und so zwang er seinen Blick zur Seite. Das war plötzlich so gar nicht mehr ehrwürdig.
Es gab auch sonst viel zu sehen.
Der Saal füllte sich. Hin und wieder, wenn eine besonders illustre Persönlichkeit erschien, wurde sie durch einen Zeremonienmeister angekündigt. Das allgemeine Gemurmel erstarb für einen Moment, Köpfe drehten sich, es wurde genickt und gelächelt. Damit war der notwendige Respekt ausgedrückt. Dann wurde es wieder lauter bis zur nächsten Ankündigung, immer wieder eingeläutet durch den Schlag eines Stabes auf den Fußboden, der mit solcher Wucht ausgeführt wurde, dass Ryk die Erschütterung an seinem Platz zu spüren meinte. Die Namen sagten ihm alle nichts. Aber sie klangen gut. Es gab hier nichts und niemanden, was nicht gut klang. Außer vielleicht »Ryk«. Das war in dieser Umgebung schon sehr wenig.
»Sie sind von der Erde, nicht wahr?«, fragte die Matrone mit dem Medaillon. Sie hatte eine tiefe, vibrierende Stimme voller Verheißung.
Ryk hatte das Gefühl, auf einem Marktstand zu stehen, eine zum Verkauf angebotene Ware, die es zu begutachten galt. Er schaute Tama an, die seinen Blick ungerührt erwiderte. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten, zumindest nicht jetzt. Sie war dafür da, ihn vor echten Gefahren zu beschützen, vor allem vor seiner eigenen Peinlichkeit. Die Matrone konnte sicher ganz gut auf sich selbst aufpassen. Also nickte er und zwang sich zu einem Lächeln.
»Das bin ich.«
Die Frau holte tief Luft, etwas zu tief, um nur als Ausdruck des Bedürfnisses nach Sauerstoff zu gelten. Ryk zwang sich, nicht auf das Medaillon und dessen natürliches Biotop zu schauen. Es fiel ihm recht schwer.
»Es muss eine wilde, ungezügelte Welt sein!«
Die Betonung lag irgendwie auf »ungezügelt« und enthielt Konnotationen, die Ryk sehr unangenehm waren. Er zögerte mit einer Antwort und entschied sich, einfach möglichst wenig zu sagen. Dem Eindruck, auf der Erde würden alle Leute sich nur gegenseitig umbringen und Sex haben, wollte er aber doch widersprechen. »Wir haben große Städte«, sagte er. »Wir haben Gesetze.«
Solche und solche
, fügte er in Gedanken hinzu.
Die Frau wirkte ein wenig ernüchtert. Also besann sie sich auf die andere Emotion, die ihr zur Verfügung stand: ein klein wenig Arroganz. »Aber keine Raumfahrt und keine Hochtechnologie, sagt man.«
»Nur noch Reste. Der Zusammenbruch hat uns härter getroffen als Pax, das kann man so sagen. Der Zusammenbruch war intensiv und es hat eine Weile gedauert, bis wir aus den Resten wieder eine Zivilisation aufbauen konnten. Sie ist gewiss nicht perfekt, aber wir sind organisiert und wir kommen zurecht, auch ohne den Hive zu beherrschen.«
Der Blick der Matrone verschleierte sich, wurde verträumt. Da hatte er wieder etwas bei ihr ausgelöst.
»Eine Welt, in der der Stärkere überlebt. Wo kraftvolle Durchsetzungskraft zählt, wo der pure Überlebenswille jeden über alles erhebt. Eine Welt, in der die ehernen Grundprinzipien des Lebens gelten, alles, was uns aus fernster Vergangenheit von unseren Ahnen mit auf den Weg gegeben wurde. Wo die Kraft des Blutes jede oberflächliche Konvention durchdringt und überwindet. Eine Welt, in der klar ist, wer das Sagen hat: Derjenige, der bereit ist, die Hand gegen den Nächsten zu erheben, um Leib und Gut und die Nächsten zu verteidigen. Ein Leben, das reiner ist als unseres hier. Reiner! Es ist beinahe beneidenswert.«
Die Stimme der Frau hatte einen sehnsuchtsvollen Unterton bekommen und Ryk fiel nichts anderes ein, als sie irritiert anzusehen. Ein Leben unter der Herrschaft von Leuten wie dem Sire als »rein« zu bezeichnen und die alltägliche Gewalt in den Metropolen als etwas Erstrebenswertes wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Die Matrone hatte zweifelsohne einen an der Klatsche und die Blicke, die ihr männlicher Begleiter ihr zuwarf, sprachen Bände.
»Sind Sie froh, von dort entkommen zu sein?«, fragte die Frau.
»Ich bin nicht entkommen«, erwiderte Ryk in einer plötzlichen Aufwallung von Patriotismus, obgleich er irgendwie schon exakt das getan hatte und eine Rückkehr nicht sehr weit oben auf seiner Wunschliste stand. »Aber ich bin froh, es heil hierhergeschafft zu haben. Wir alle sind das. Wir sind ein Risiko eingegangen, weil wir ein Ziel vor Augen hatten. Wir sind nicht einfach so
weggelaufen.«
»Ihre Begleiterin ist bemerkenswert«, wechselte die Frau das Thema. »Ich höre, sie ist eine Sängerin.«
»Das stimmt.«
»Und ein Cyborg. Wir haben Prothesen. Bei Verletzungen.« Die Frau machte eine Pause. »Ihre Freundin ist ja eher eine … krude Komposition. Na ja, man muss gewiss mit dem arbeiten, was man hat. Ich bin sicher, wir werden hier, wenn es an der Zeit ist, das eine oder andere … reparieren können. Sie wird sich gewiss darüber freuen.«
Das klang abfällig und wertend. Nein, es war richtiggehend beleidigend. Ryk nahm es persönlich. Er holte tief Luft und versuchte, das plötzlich aufbrandende Rauschen seines Blutes in seinen Ohren zu ignorieren. Diese Frau testete seine Selbstbeherrschung und war sich dessen entweder gar nicht oder sehr bewusst, denn ihr maliziöses Lächeln verließ ihre Lippen zu keinem Zeitpunkt. Doch Ryk hatte sich geschworen, hier nicht den Provinztrampel zu geben. Er war nicht so perfekt in allem wie die anderen Gäste, nicht so elegant in Aussehen und Ausdruck, aber er würde die stille Erwartung dieser »Dame«, sich hier zum Affen zu machen, nicht erfüllen.
Also lächelte er sie an und neigte den Kopf. »Sie ist etwas Besonderes und sehr bewundert auf der Erde. Eine Künstlerin von Rang. Sie soll während der Zeremonie singen, nach der Inauguration. Der neue Heptarch selbst hat darum gebeten.«
Der Alten entglitten die Gesichtszüge etwas. Das hatte sie nicht gewusst. Auch Ryk hatte davon erst an diesem Morgen erfahren. Sia hatte Solos, der hier als Zeremonienmeister fungierte, etwas vorgesungen und wie zu erwarten gewesen war, hatte es seine Wirkung nicht verfehlt. Und so war ihr diese besondere Ehre zuteilgeworden. Offenbar wollte der frischgebackene Oberauri die Tatsache der Gegenwart dieser exotischen Gäste bis zur Neige melken, um damit die Zeremonie zu etwas Besonderem zu machen. Betrachtete Ryk die Reaktion dieser Frau, würde das auch gelingen. Er verspürte ob ihrer irritierten Überraschung eine plötzliche, wenngleich sicher unangemessene Genugtuung.
Die Alte wandte sich ab. Sie schaute ihren Mann an. Sag doch auch mal was
. Er war klug genug zu schweigen.
Tama beugte sich zu Ryk und spitzte die Lippen. »Estella Ealhswith Amanda Erica ist eine unangenehme Person«, flüsterte sie ihm zu. »Es erfreut mich, dass du ihr Unbehagen bereitet hast. Ich mag sie nicht. Niemand mag sie. Nicht einmal ihr Gatte, der jedem nur leidtut. Schau ihn dir an.«
Ryk sagte nichts, warf dem Gatten einen kurzen, forschenden Blick zu und merkte, dass dieser ihn – vielleicht war es auch nur Einbildung – im gleichen Moment anerkennend ansah. Estella Ealhswith hingegen starrte betont würdevoll auf die gigantische Büste von Admiral Rothbard, zweifelsohne in der Erwartung, dass dieser ihre Indignation teilen würde, wäre er nur noch am Leben.
Ein Gong ertönte.
Er hatte kaum messbare Konsequenzen. Flanierende Paare bewegten sich einen winzigen Hauch schneller auf ihre zugewiesenen Sitzplätze zu. Das allgemeine Rascheln weit ausladender Kleider wurde dazu um eine winzige Nuance lauter. Auch durch das Portal schienen die Nachzügler nun mit etwas mehr Eifer zu strömen, ohne dabei ihre Würde und Eleganz zu gefährden. Ryk schaute nach vorne. Auf der Empore versammelten sich allmählich Würdenträger, die noch prächtigere Kleidung als die Gäste trugen und noch würdevoller dreinblickten, lebenden Statuen gleich, auch wenn Ryk sich fragte, wie das überhaupt möglich war. Jetzt erblickte er auch Solos unter den dort Versammelten. Der Auri war zweifelsohne eine Persönlichkeit von außergewöhnlichem Rang. Er wurde mit offensichtlichem Respekt behandelt. Jemand, der hier das Sagen hatte. Um ihn herum scharwenzelte Personal, das auf den kleinsten Wink des Meisters reagierte. Er gab seine Anweisungen mit Diskretion und mit der gleichen Diskretion wurden sie ausgeführt. Egal was auch schiefgehen mochte, die dicke Patina von Würde durfte niemals angekratzt werden. So viel verstand Ryk mittlerweile von der Zivilisation der Auri.
Der Gong ertönte ein zweites Mal.
Die Geschwindigkeit der Gäste erhöhte sich nun signifikant. Damen zogen ihre männlichen Begleiter am Arm, dezent natürlich, aber erkennbar, und Herren bekamen einen gehetzten Gesichtsausdruck, wenn sich ihre Begleiterinnen irgendwo festgequatscht hatten. Stühle scharrten über den Boden, als sich viele auf einmal setzten und erstmals die Zahl der Sitzenden die der Stehenden und Flanierenden überstieg. Die mächtigen Flügeltüren der Portalzugänge wurden langsam geschlossen, ein unmissverständlicher Hinweis. Ein paar sehr verspätete Gäste mussten sich in höchst unwürdiger Eile durch die sich verkleinernden Öffnungen quetschen, was ihnen abfällige Blicke bescherte, die sie mit peinlich gesenkten Häuptern zur Kenntnis nahmen. Sie hatten es eben nicht anders verdient.
»Gleich beginnt es«, flüsterte Tama Ryk zu. »Bist du aufgeregt, geschätzter Ryk?«
Ryk wusste nicht genau, weswegen er aufgeregt sein sollte, von der angespannten Stimmung, die sich über die Menge legte, einmal abgesehen. Er war einmal dabei gewesen, als ein neuer Stadtherr in sein Amt eingeführt worden war, und er erinnerte sich an Freibier. Ansonsten war es nicht sonderlich spektakulär gewesen.
»Worauf muss ich achten?«, fragte er also zurück, um eine Antwort zu vermeiden.
»Schau einfach nur nach vorne. Die Zeremonie dauert nicht länger als eine Stunde, danach gibt es Essen und Tanz und wir müssen hier nicht mehr herumsitzen. Es wird eine Rede gehalten und dann wird jemand für den Segen auserwählt. Wenn dieser Teil der Ernennung vorbei ist, sind alle gleich viel entspannter.«
Tama schien sich vor allem auf den entspannten Teil des Anlasses zu freuen, wenngleich die Aussicht auf Tanz bei Ryk eher gemischte Gefühle auslöste. Ihm waren einfache Tanzschritte vermittelt worden, die allereinfachsten, und obgleich sein Lehrer ihm ein gewisses Rhythmusgefühl nicht absprechen wollte, würde er neben einer wahrscheinlich perfekten Tänzerin wie Tama wie ein Tölpel aussehen. Er hatte die notwendige Körperbeherrschung, ein Resultat seiner Arbeit als Springer, aber die rechte Eleganz ließ er wohl vermissen. Dass er sich dieser gesellschaftlichen Verpflichtung aller Voraussicht nach nicht würde entziehen können, nahm er mit zunehmendem Fatalismus zur Kenntnis, denn Tama war bei ihm und es war klar, dass sie tanzen wollte, komme, was da wolle.
Der dritte Gong. Etwas länger und lauter als die beiden Vorgänger.
Schlagartig herrschte andächtige Stille. Alle Augen richteten sich nach vorne. Dort hatten in einem Halbkreis die diversen Notabeln endgültige Aufstellung genommen. Scheinwerfer erhellten die Szenerie, ohne ein allzu grelles Licht zu produzieren. Es hustete nicht einmal jemand. Aus der Mitte des Halbkreises trat Solos nach vorne und verbeugte sich vor der Versammlung. Er sagte erst nichts und schaute würdevoll, bis er sich der absolut ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden versichert hatte.
»Die Trauerrede auf den verstorbenen obersten Auri. Das wird jetzt alles ziemlich altmodisch klingen«, wisperte Tama Ryk zu. Er nickte. Der Alte ging, der Neue kam und diese Zeremonie stellte das verbindende Element dar. Das Konzept verstand er.
Solos sprach. Seine Stimme hatte eine durchdringende Schärfe, ohne jedoch ihre würdevolle Distanz zu verlieren. »Das also kündigten uns die schweren Sonnenstürme, die unaufhörlichen Strahlenschauer und die außergewöhnliche Schwankung der Gravitation an: dass unser gnädigster Heptarch Creoda vom Irdischen scheiden würde! Selbst die Elemente trauerten über seinen Hingang. Der Sternenhimmel war in Dunkel gehüllt, die Luft erstarrte ständig in schwerer Trägheit, die Habitate erschütterten unter Beben und waren Energieschwankungen ausgesetzt. Warum auch sollte nicht selbst die Welt trauern, dass jählings ein Herrscher dahingerafft werden sollte, durch den das harte Los dieser Welt so gern Linderung erfuhr, indem er die Vergehen, ehe er sie strafte, verzieh? Nun ist er freilich hingegangen, eine Königsherrschaft anzutreten, ohne die alte niederzulegen, sondern sie nur zu vertauschen, kraft seiner Frömmigkeit in die Gezelte der geheiligten Vorfahren aufgenommen, in jenes himmlische Habitat, wo er jetzt weilt. Aber so viele ließ er gleichsam des Schutzes beraubt zurück, in erster Linie seine Söhne und Töchter im Geiste und in der Gemeinschaft. Doch nein, sie sind dessen nicht beraubt: Er ließ sie ja als Erben seines Frommsinns zurück. Sie sind dessen nicht beraubt: Er erwarb ihnen ja der Vorfahren Gnade und der Auri unverbrüchliche Treue. Gerade Letzteren lieferte er den Beweis, dass die Vorfahren die Tugend segnen, die Regellosigkeit hingegen strafen.«
Ryk hatte wirklich Probleme, der Rede zu folgen. Sie war auf eine seltsame Art gedrechselt, die Sätze ineinandergleitend wie sich verschränkende Gliedmaßen, sodass er manches Mal den roten Faden verlor. Eine ritualisierte Sprache, die Alter und Ehrwürdigkeit ausstrahlte, die die Rede aber auch für den Unvoreingenommenen – oder Ungebildeten – nur schwer verständlich machte. Es war klar, dass Solos den Verstorbenen pries und seine besondere Tugendhaftigkeit und Pflichterfüllung herausstellte. Ryk verstand zumindest das und schlecht über Tote zu reden hatte er noch nie für eine gute Idee gehalten. Leider war es aber auch so, dass die Eloge offenbar ein langes und reiches Leben würdigte, ein Leben, das in vielen Details enthüllt wurde, was aus der Rede eine sehr, sehr lange Angelegenheit machte.
Und eine sehr ermüdende. Solos’ gleichbleibender Tonfall, der sich in seinen Intonationen nur dann änderte, wenn irgendwann ein abschließendes Satzzeichen auftauchte, machte es den Zuhörern nicht einfacher. Doch Ryk vermutete, dass er nur so und nicht anders reden durfte. Hier gab es ja schließlich für alles Regeln.
Irgendwann tat ihm der Hintern weh. »Wie lange noch?«, flüsterte er. Im Gegensatz zu Tamas Gewisper war seines natürlich zu hören und die ältliche Dame warf ihm einen Blick zu, der zu Herzstillständen führen konnte. Tama legte ihm eine Hand auf den Unterarm, dann tastete sie mit ihrem Zeigefinger nach seinem Handrücken und malte etwas. Eine 18. Achtzehn was?
Er sah sie verwirrt an. Tama buchstabierte. K-a-p-i-t-e-l. Achtzehn Kapitel. Kein Buch sollte so lang sein und eine Rede erst recht nicht. Auch die Aussage half nicht. Wie sollte er herausfinden, wann ein Kapitel endete und das neue begann?
Ryk versuchte einfach, nicht mehr richtig zuzuhören. Es gelang ihm bemerkenswert gut. Er sah sich um und suchte mit seinen Blicken nach Sia, Uruhard und Momo. Die beiden Ersteren waren irgendwo im Meer der Tische untergetaucht, Momo aber überragte alles und jeden. Die Auri hatten ihm einen speziellen Stuhl aufgestellt, sodass er einigermaßen bequem saß, aber für ihn musste die endlos mäandernde Eloge auf einen Verstorbenen, der ihnen völlig unbekannt war, besonders anstrengend sein. Der Defo saß mit steinerner Miene und nahezu bewegungslos auf seinem Stuhl und starrte ins Leere. Neben ihm hockte eine junge Frau mit dem hilflosesten Gesichtsausdruck, den Ryk jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Sie hatte von Momo absolut nichts zu befürchten, wusste aber auch nichts mit ihm anzufangen und wenn sie ihre Pflichten auch nur halb so ernst nahm wie Tama, war das für sie gewiss ein Problem. Eines aber wusste er: Momo würde nicht tanzen – und es gab niemanden, der ihm das übelnehmen würde.
Beneidenswert.
Dann sprach Solos seine letzten Worte und blickte noch einmal salbungsvoll in die Runde. Es gab höflichen, wenngleich gedämpften Applaus, dem sich Ryk mit einem gewissen Enthusiasmus anschloss. Dann beugte er sich zu Tama und flüsterte: »Was kommt jetzt?«
»Die Ernennungszeremonie.«
»Wieder eine Rede?«
»Eine kurze. Das segnende Salbungsopfer ist der zentrale Aspekt.«
Ryk sah sie verwirrt an, er konnte sich darunter so gar nichts vorstellen. Doch Tama schien alleine dieses Wort mit einer gewissen erwartungsvollen Erregung zu erfüllen, denn sie schaute nun ganz konzentriert zur Empore. Der Halbkreis der Notabeln hatte sich derweil aufgelöst, die Damen und Herren strebten auf vorbereitete Sitzplätze in der Nähe zu. Allein Solos blieb stehen und dann brachten zwei Bedienstete einen mächtigen Sessel, der eher an einen Thron erinnerte, und stellten ihn mittig ab. Er wirkte sehr massiv, mit einem blau schimmernden Polster, auf dem sich irisierende Lichteffekte abzeichneten, als die Träger ihn mit aller Bedachtsamkeit abstellten. Sicher würde der neue Heptarch dort bald standesgemäß Platz nehmen. Das kurz aufwallende Gemurmel in der Halle ebbte ab, als sich aller Augen interessiert nach vorne richteten. Eine seltsame Spannung erfüllte die Halle, eine Atmosphäre, der sich auch Ryk nicht entziehen konnte. Er starrte auf die Empore und beobachtete, was nun geschehen würde.
»Ich rufe den neuen Obersten aller Auri, den Heptarchen, den hochehrwürdigen Samson Ceolred Darian Erik zu mir auf die Empore. Grüßt den Ernannten! Grüßt den Ehrwürdigen!«
Und wie aus einem Munde sagten die Versammelten: »Wir grüßen ihn.«
Ein schlaksiger Mann mittleren Alters trat vor, angetan mit einer bemerkenswert simplen, schneeweißen Robe, bestieg gemessenen Schrittes die Bühne und verbeugte sich respektvoll vor Solos, nahm aber nicht auf dem Thron Platz, wie Ryk eigentlich erwartet hatte, sondern stellte sich neben den Zeremonienmeister hinter die Sitzgelegenheit.
Solos wandte sich an ihn: »Seid Ihr, Samson Ceolred Darian Erik, bereit und imstande, das Euch zugewiesene Amt zu erfüllen, bis dass der Tod Euch von Eurer Aufgabe entbindet?«
»Das bin ich.«
»Das ist er!«, sagten alle im Chor und Ryk fuhr ein Schauer über den Rücken. Niemand konnte sich dem ritualisierten Zauber dieser Zeremonie entziehen, außer vielleicht Momo.
»Wollt Ihr als Heptarch weise und gerecht urteilen und die Bestimmung der Menschheit erfüllen, wie es uns vom ehrwürdigen Rothbard auferlegt wurde?«
»Das will ich.«
»Das will er!«, kam die vielstimmige Antwort.
»Seid Ihr bereit, Eure Herrschaft mit dem Segen zu beginnen und damit die Traditionen der Vorväter ehren?«
»Das bin ich.«
»Das ist er!«, erscholl es ein drittes Mal und beinahe hätte Ryk diesmal mitgemacht. Er konnte sich gerade noch beherrschen.
»Wir haben seine Antwort gehört und wir haben ihn bestätigt«, rief Solos. »Sein Leben und seine Kraft gehören den Auri und der Heptarchie.«
»Den Auri und der Heptarchie!«, sagte der Chor der Anwesenden.
»So wollen wir Samson Ceolred Darian Erik segnen und auf den Weg schicken.«
»Wir segnen ihn!«, bekräftigten die Versammelten.
Solos drehte sich um, den Rücken nun der Halle zugewandt, legte den Kopf in den Nacken und sah zu der großen Büste auf, die hinter ihm aufragte, das Abbild von Admiral Rothbard, der auf sie alle gleichermaßen streng wie gnadenvoll hinabsah.
»Wer soll auserwählt sein?«, fragte er das steinerne Antlitz.
Ryk reckte den Hals. Saß da nicht jemand auf der Büste? Hatte er nicht einen Schatten gesehen, die Andeutung einer Bewegung? Er könnte sich auch irren.
Aber es war egal, denn wie auch immer es gemacht wurde, das Antlitz antwortete. Es antwortete tatsächlich, mit einer weit in die Halle tragenden, männlichen Stimme, und nannte einen Namen:
»Theresa Alyssa Manon Æthelflæd!«
Tama stieß einen leisen, kieksenden Schrei der Freude aus und klatschte die Hände zusammen, fand aber sofort ihre antrainierte Selbstbeherrschung wieder.
Ryk starrte sie überrascht und verständnislos an. Er beobachtete die helle Begeisterung seiner Begleitung, als sie sich erhob, Ryk noch einmal abwesend zuwinkte, im Geiste bereits da vorne und weit weg von ihrem Schützling. Estella Ealhswith Amanda Erica sah sie neidisch an, die Lippen aufeinandergepresst, der Doppelkinnansatz in erregter, fast schon zorniger Wallung. Tama hatte es, das war klar, in ihren Augen nicht verdient. Neid vermischte sich, vermutete er, mit der Trauer über eine verlorene Jugend. Er glaubte instinktiv, dass alte Matronen nicht nach vorne auf die Empore gerufen wurden.
Was genau sie nicht verdient hatte, begriff Ryk noch nicht richtig. Es musste aber etwas Wunderbares sein, denn es gab viele neidische Blicke, die Tama auf ihrem Weg nach vorne zur Empore begleiteten.
Dort stand sie dann, den Kopf geneigt, und nach einer kurzen Aufforderung durfte sie sich auf den Thron setzen. Es herrschte jetzt eine fast andächtige Stille im Saal, nachdem eben noch ein Raunen die Luft erfüllt hatte.
Solos trat lächelnd zur Seite und machte eine auffordernde Geste in Richtung des neuen Heptarchen, der diese mit einem würdevollen Nicken beantwortete. Beide schwiegen, es war ein Moment der Stille, der den gesamten Saal mit plötzlicher Intensität zu lähmen schien. Man hätte eine Nadel fallen hören, es war, als hätten alle den Atem angehalten, und da merkte Ryk, dass er exakt das gerade tat. Er ließ die Luft ganz vorsichtig entweichen, um ja keinen Lärm zu machen.
Samson Ceolred Darian Erik trat neben den Thron.
Etwas blitzte auf.
Ein Messer lag in seiner Hand. Und mit einer schnellen, fachmännischen Bewegung schnitt er Tama die Kehle durch.
Ryk blieb das Herz stehen. Die Blutfontäne schoss aus dem Hals der jungen Frau, ein sanftes Gurgeln wurde hörbar, ein Zucken ging durch ihren Leib, dann sackte ihr Körper kraftlos zusammen, das prächtige Kleid in rotes Nass getränkt, und sie starb.
Ryk starrte. Ihm wurde schwindelig, schlecht, er konnte es nicht glauben, bewegte sich nicht, sagte nichts, gefangen in einem Schock des Unglaubens, des Entsetzens. Sein Herz pochte, das Atmen fiel ihm schwer, als ob ein schwerer Druck sich auf seinen Brustkorb gelegt hätte. »Das …«, stieß er hervor, kreidebleich, um sein Bewusstsein ringend. »Das …«
Dann brandete Applaus auf.
Alle klatschten begeistert. Manche erhoben sich. Hochrufe erschollen, als der Heptarch die blutige Klinge in die Luft reckte. Seine Robe, eben noch von makellosem Weiß, war mit Blut bespritzt. Neben ihm stand Solos klatschend und dem Mann anerkennend zunickend. Alle schienen sie hocherfreut, wie bei einer höchst gelungenen Zirkusdarbietung.
Ryk war überwältigt von Unverständnis, Entsetzen, Abscheu und einer plötzlich in ihm aufbrandenden wilden Trauer, die die Übelkeit, die ihn erfasst hatte, nur noch verstärkte.
Die Alte an seinem Tisch wandte sich Ryk zu und nickte anerkennend. Sie klatschte so heftig, dass das angedeutete Doppelkinn unter ihrem fleischigen Gesicht in steter Erschütterung war.
»Sie ist gut gestorben. Eine würdige Zeremonie.« Dann seufzte sie. »Ach, wäre ich nur jung genug gewesen. Dann wäre ich möglicherweise erwählt worden.«
Ryk aber, der nur halb hinhörte, übergab sich auf den Tisch.