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Die engen Gänge wirkten alt und waren schlecht beleuchtet. Welch ein Kontrast zu der Welt da draußen. Das Keuchen des Atems und das Pochen des Blutes in den Ohren waren die einzigen Geräusche. Die schmerzenden Beine waren eine solche permanente Anstrengung nicht mehr gewohnt. Die engen und niedrigen Gänge wirkten bedrückend, wenn man zu lange darauf achtete und sich vorstellte, wie die eigenen Füße einen tief in die metallischen Eingeweide einer unbekannten Umgebung trugen.
Ryk dachte nicht, er rannte, konzentrierte sich auf das Vorankommen. Unten im alten Hauptquartier in der Nähe von Metropole 7 hatte er sich nicht so gefühlt, vielleicht weil er gewusst hatte, dass es nahe der Heimat war und sie jederzeit an die Oberfläche konnten. Dort gab es frische Luft und jede Menge Gegend. Aber wo war in einem Habitat »oben« und wie definierte man »Gegend«?
Die Luft war auch nicht frisch, sie roch abgestanden. Die Umwälzer hier unten arbeiteten entweder nicht oder selten oder was sie umwälzten, war einfach der Geruch von Verlassenheit, desolater Vernachlässigung, denn so sah es auch aus. Die Wände waren angelaufen, die Plastikschicht fleckig, die Lampen flackerten über ihnen, als seien sie sich ihrer eigenen Funktion und Aufgabe nicht ganz sicher. Einige waren ausgefallen und schufen mal größere, mal kleinere Flecken der Dämmerung. Es war warm hier und stickig. Ryk begann zu schwitzen und seine Festtagskleidung fühlte sich völlig unangebracht an. Die dünnen Sohlen seiner Schuhe ließen ihn den Boden auf sehr unmittelbare Weise spüren. Er sah vor sich Momo, blickte aber immer wieder zurück. Sia lief mit vollendeter, eleganter Leichtigkeit und auf ihrer Stirn stand kein Schweiß. Uruhard mühte sich. Einmal hielten sie inne, damit er verschnaufen konnte, und dann ein zweites Mal, als er erneut warnend die Hand hob, zu stark keuchend, um noch ein Wort hervorzubringen. Ganz vorne lief Rita, genervt und ungeduldig, am Ende einer ihrer Verbündeten, ein dünner Mann, der aussah, als würde er bei einer heftigen Bewegung einfach entzweibrechen. Aber offenbar hatte er eine bessere Kondition als Ryk selbst. Er stützte sogar Uruhard für einen Moment. Ein netter Junge, jedenfalls netter als Rita, die irgendwie den Eindruck erweckte, mit allem, was hier geschah, nicht einverstanden zu sein.
Und dennoch war sie bereit zu helfen. Momo musste sie erblickt und den richtigen Schluss gezogen haben. Seine Schweigsamkeit mit mangelnder Aufmerksamkeit zu verwechseln würde Ryk niemals mehr in den Sinn kommen.
Sie erreichten schließlich ein uraltes Schott, das Rita aufstieß. Dahinter befand sich ein Raum mit Tischen und Bänken, die am Boden angeschraubt waren, und zwei hinter Metallgittern verborgenen Lampen, die alles in ein fahlweißes Licht hüllten. Leer und sehr kalt, als hätte jemand eine Klimaanlage aufgedreht und zu lange laufen lassen. Der Schweiß auf Ryks Körper fühlte sich sofort unangenehm an und er unterdrückte ein kurzes Zittern, das ihm jetzt sehr unpassend erschien.
Uruhard keuchte. Er wirkte etwas bleich. Er stützte sich für einen Moment auf einen der Tische, sein Blick bat um Verzeihung, doch er sagte kein Wort. Tapferer alter Mann. Ryk schob eine Hand unter seine Achsel. Uruhard sah ihn dankbar an und nickte.
»Wird schon«, stieß er leise hervor. »Wird schon. Nur weiter.«
Rita reagierte nicht darauf. Sie ging zur nächsten Tür, lauschte und nickte dem jungen, dürren Mann zu, der seine Waffe von der Schulter nahm. Dann erst sah sie Ryk und die anderen an.
»Ich habe dafür gestimmt, euch da rauszuholen. Ihr könnt mir später danken. Jetzt gehen wir raus, aber wir müssen schnell sein, denn unser Zeitfenster schließt sich. Die Auri sind Trottel, aber sie sind viele und das Überraschungsmoment ist verflogen. Hört auf mich. Tut, was ich sage. Keine Zeit für Fragen.«
Ryk wollte nichts fragen, er wollte erst einmal nur überleben. Sie alle nickten unisono. Ehe jemand etwas erwidern konnte, riss Rita die Tür auf. »Rennt! Mir nach!«
Sie stolperten ins Freie und wurden bemerkt. Starren, Schreie des Erstaunens. Aufgeregte Passanten, die auf Schirme schauten, dann auf die Bewaffneten, untermalt durch das Heulen von Sirenen. Ein Boulevard in Pax, voller Leute, alle festlich gekleidet, aber mittlerweile definitiv nicht mehr in festlicher Stimmung. Gesichter wandten sich ihnen zu. Überall herrschte Angst, so viel Angst. Es folgte ein allgemeines Zurückweichen. Jemand rief eine Warnung, jemand schrie erneut, mit einem panischen Crescendo in der Stimme. Momo verursachte gewiss Furcht bei den Uneingeweihten und die beiden Gewehre identifizierte ein jeder als Gefahr.
Sie rannten wieder.
Die Passanten wichen zurück. Kinder wurden aus dem Weg gezogen. Erneut eine Sirene. Ihretwegen? Wegen allem. Hier herrschte Chaos.
»Hier!«
Rita verlor keine Zeit und wusste, wohin es ging. Den Boulevard entlang in eine Seitengasse. Noch mehr Schreie, noch mehr zurückweichende Passanten mit schreckgeweiteten Augen. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. In Metropole 7 hätte sich jemand gefunden, der das Risiko eingegangen wäre, um sich eine Belohnung abzuholen, jemand mit einer Waffe, einer Klinge, der sich sagte: »Den ganz hinten, den greif ich mir, das gibt was.« Doch die Bürger von Pax hatten zu viel zu verlieren, um sich dieser Gefahr auszusetzen. Sie waren all das nicht gewohnt. Sie waren zivilisiert, sie schlitzten nur junge Frauen auf Thronsesseln auf.
Ryk lief und spuckte auf den Boden.
»Rein da! Jetzt macht schon!«
Ein Laden, ein kleines Kaufhaus, hell erleuchtet, mit Kunden und Verkäufern, Letztere sofort mit Kommunikatoren vor dem Mund, doch Rita ignorierte sie alle. Sie hetzten die Regalwände entlang und stießen zu langsame Kunden zur Seite. Einer stolperte und riss die Auslagen mit sich. Waren kullerten zu Boden, Ryk musste springen, um nicht zu stolpern, und er fluchte unterdrückt. Dann waren sie hindurch und landeten in einem Lagerraum mit noch mehr Regalen, aber glücklicherweise ohne Kundschaft.
Sie wurden erwartet. Von einem älteren Mann im Overall mit gemütlichem Gesicht, runden Wangen und Backenbart. Uruhards Cousin, mindestens. Er war die Ruhe selbst, lebender Kontrapunkt zu dem Chaos. Aus irgendeinem Grunde fühlte sich das für Ryk falsch an.
»Ihr habt euch Zeit gelassen«, sagte er zur Begrüßung.
Rita stieß ein Schnaufen aus. »Wo?«
»Da, über die Rampe. Wir verladen sofort.«
»Die Sicherheitskräfte sind gleich hier.«
»Ich verschwinde, sobald ihr durch seid. Grüß Eze von mir. Für die Freiheit! Für die Revolution!«
Er machte eine Geste, die der dürre Junge erwiderte. Rebellen. Ryk hatte es geahnt. Und die Crawler waren Teil der Bewegung. Das wunderte ihn nicht.
Rita nickte und dann führte sie die Gruppe schnurstracks die Rampe hinauf, die in einem Raum endete. Nein, Moment. Kein Raum. Ryk sah es, als sie eintraten. Metallwände, massiv und düster, ein leerer Container, nicht mehr und nicht weniger. In Metropole 7 gab es alte, die Menschen als Häuser nutzten. Hier nicht. Kaum waren sie alle drin, schloss der Alte die beiden Metalltüren, ein Riegel knirschte. Licht flackerte auf, als Rita eine Taschenlampe einschaltete. Wie die Fliegen scharten sich alle um die schwache Beleuchtung, die unheilvoll auf den Gesichtszügen der Frau schimmerte.
»Wir setzen uns. Festhalten. Gut festhalten!«
Die Warnung kam keine Sekunde zu früh. Der Container schwankte, Ryk wurde gegen die Wand gedrückt, etwas schlug gegen die Metallwand und Uruhard fluchte.
»Jemand verletzt?«, fragte Sia.
»Meine Würde, sonst geht es«, entgegnete Uruhard, etwas arg gepresst.
»Festhalten!«, sagte Rita scharf. »Tastet die Wände ab. Es gibt dort Metallgriffe. Wir werden verladen.«
»Worin?«, fragte Ryk, der einen der Griffe gefunden hatte und sich an ihm festklammerte. Er spürte Sias Hand, wie sie sich an seinem Arm orientierte und einen kurzen Moment der Nähe suchte. Ryk fühlte sich für eine Sekunde getröstet.
»Crawlertown«, war Ritas knappe Antwort. Die Heimat ihres Volkes. Sie verließen Pax, und sie beeilten sich damit. Wurde nicht aufgrund des Angriffes jedem Schiff das Ablegen verboten? Ryk wusste, dass es nicht sein Fluchtplan war, aber er hoffte, dass Rita und die Ihren wirklich alle Eventualitäten bedacht hatten. Er war wieder einmal ein Ball auf den Wellen der Geschehnisse und er hatte doch so gehofft, dass diese Phase ihrer Reise mit dem Start von Metropole 7 beendet worden war.
Welch ein Irrtum.
Etwas griff mit metallischem Schaben nach dem Container und sie wurden wild hin und her geschüttelt. Ryks Kopf knallte gegen die Metallwand. Für einen Augenblick tanzten Sterne vor seinen Augen, es tat weh, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt. Er verbiss sich den Schmerz und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augen. Dunkelheit war etwas Feines. Dann bewegte sich der Behälter und Ryk versuchte, ein Gefühl für die Richtung zu behalten. Als jemand, der jahrelang Triebwürmer geritten hatte, war er recht gut darin. Der Container wurde nach vorne transportiert und er saß mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Was hinter ihnen geschah, konnte er nur erahnen. Die Sicherheitskräfte mussten doch langsam mit ihrer Arbeit beginnen. Es würde sicher jemanden geben, der begann, Ordnung ins Chaos zu bringen. Der Container dämmte die Laute von draußen gut ab. Er vernahm nur ihrer aller angstvolles, gestresstes Atmen.
»Es dauert nicht lange.« Rita rang sich diese Worte ein wenig ab, doch seit sie ihre Lampe ausgeschaltet hatte, war es stockdunkel und sie musste annehmen, dass einige ihrer Gäste Angst hatten. »Haltet euch fest. Wir sind gleich da.«
»Was ist eigentlich …«, begann Ryk, doch er kam nicht dazu, seine Frage zu stellen. Gleich war jetzt.
Der Container setzte auf. Hart. Sein Unterkiefer schlug gegen die obere Zahnreihe. Ryk fluchte den Schmerz weg. Die Türen wurden geöffnet, Licht fiel herein. Zwei Männer in abgerissenen Overalls winkten. Eine Art Hangar, in weitaus schlechterem Zustand als alles, was Ryk bisher hier hatte beobachten dürfen. Nicht die schönste Ecke von Pax.
Rita stand bereits.
»Schnell!«
Sie folgten dem Kommando der Crawlerfrau und wurden eine weitere Rampe hinaufgescheucht. Ein Raumschiff, ganz offensichtlich, von dem durch angelaufene, nur noch unzulänglich transparente Fenster nur ein Teil erkennbar war. Ein Crawlerschiff. Sie stolperten in eine Schleuse, die sich hinter ihnen mit einem satten Schmatzen schloss.
Erst dann sah Rita plötzlich etwas entspannter aus – soweit ihr das möglich war.
Sie nickte ihnen zu und wischte sich den Schweißfilm von der Stirn. Die Waffe hatte sie gesenkt. Ihre Augen waren weiterhin aufmerksam, hatten aber plötzlich einen unerwarteten Ausdruck von Melancholie. Sie hatte getötet. Vielleicht ließ sie das nicht so kalt, wie Ryk erwartet hatte.
Rita räusperte sich und winkte sie ins Schiffsinnere. »Ich bringe euch in die Messe. Schnallt euch dort an. Auch der Große, wir haben vorgesorgt.«
Der Große grunzte anerkennend. Er schien Rita zu mögen.
Sie waren zweifelsohne an Bord eines alten Raumschiffes, vergleichbar mit dem ersten Crawler, der sie gerettet hatte. Er war ebenso heruntergekommen, wirkte aber mit der gleichen Hingabe gepflegt und repariert, eine Hingabe, die das Risiko, in das sie sich alle begaben, nur noch größer erscheinen ließ. Es war gewiss kein Schiff, das ohne Weiteres außergewöhnlichen Belastungen standhielt, und dass solche nun bevorstanden, davon war wohl auszugehen.
Die Messe war groß und geräumig und wurde dominiert durch einen mächtigen Sessel, den man mit der Wand verschraubt hatte und der von Momo sogleich zielsicher angesteuert wurde. Er setzte sich mit einem ostentativen Seufzen. Zu oft und zu lange wurde von ihm erwartet zu stehen. Weitere Sessel luden sie zum Verweilen ein, sogar sehr eindringlich, denn sie waren mit Sicherheitsgurten ausgestattet, die sicher nicht zum Spaß vorhanden waren.
Gegenüber von Momos Sessel hing ein fleckiger Bildschirm, der unstet flackerte, bis er ein Bild zu zeigen begann. Offenbar die Zentrale des Schiffes, in einer Art Froschaugenperspektive. Ryk hatte noch nie zuvor eine Raumschiffzentrale gesehen, aber so stellte er sie sich vor, durchaus ähnlich den Kontrollen im unterirdischen Flottenhauptquartier, wo die Automatik ihn unvermittelt geadelt hatte.
In den Sesseln dort saßen Menschen, die Ryk nicht kannte, die aber sehr beschäftigt schienen.
Eine sanfte Erschütterung durchfuhr das Schiff. Es legte wohl ab. Eine Sirene quälte sich damit, sie alle zu warnen.
»Dies ist die Heilige Katerina
. Wir bringen euch in Sicherheit«, sagte Rita. »Ich muss auf die Brücke. Verhaltet euch ruhig. Es wird ein wilder Ritt.«
Damit schien von ihrer Seite alles gesagt zu sein. Sie wandte sich um und nahm den schlaksigen Jungen mit, der sie zum Abschied schief anlächelte.
Sie setzten sich. Niemand musste ihnen erneut sagen, dass es eine gute Idee sein würde, sich anzuschnallen. Die Sache mit dem wilden Ritt nahm jeder ernst.
»Momo?«, sagte Ryk, als das Schiff zu ruckeln begann und der klägliche Sirenenton sich in ein kraftloses Jammern verwandelte. »Danke. Danke für alles.«
Der Defo sah ihn an und nickte. »Freunde.«
Eine kurze Antwort, die alles sagte. Ryk wollte noch etwas sagen, aber ein Stoß presste ihm die Luft aus den Lungen. Es ging jetzt richtig los.