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Crawlertown war weder ein besonders origineller noch ein poetischer Begriff, er inspirierte auch keinen ausgesprochenen Patriotismus, zumindest sah Ryk dafür keinen Anlass. Ein zusammengestoppeltes Wort für einen zusammengestoppelten Ort, dessen Charme aus einer Mischung aus öliger Werkstatt und Recyclinghof bestand, alles durchzogen mit einem Hauch des großen, weiten Weltalls und einer tragischen Vergangenheit. Leichenfledderei mit Stil, den Begriff hatte sogar Rita irgendwann benutzt und für diese Art der Selbstironie hatte Ryk jederzeit etwas übrig.
Das Konglomerat aus abgelegten Schiffshüllen, mehr oder weniger vertrauenswürdig zusammengeschweißt von Generationen von Raumtechnikern unterschiedlicher Qualifikation – abermals Ritas Worte, nicht seine! –, war ganz sicher auf seine Art beeindruckend. Wenn man den Worten ihrer Gastgeber Glauben schenken wollte, war diese Station Heimat für fast zweitausend Besatzungsmitglieder von Crawlern, ihre Familien und allerlei Servicepersonal. Darüber hinaus bot das Habitat Raum für Waren, die in großen Lagerräumen für den weiteren Transport gelagert wurden, vieles davon bestimmt für den Markt der Heptarchie, die zwar so manches, aber nicht alles über ihre Hives herstellen konnte und gerne gut funktionierende Tech aus der guten alten Zeit aufkaufte.
»Es ist unsere Heimat«, sagte Rita. »Wir mögen sie nicht besonders, man fühlt sich in Crawlertown selten richtig wohl. Aber es ist ein Ort der Freiheit, weit weg von den Fängen der Heptarchie. Und viel, viel dreckiger.«
Nach allem, was Ryk von außen sah, war das eine gute Beschreibung.
Die Heilige Katerina
näherte sich langsam und der Flugverkehr um die Station herum gebot diese Vorsicht auch. Rita hatte sich nicht auf eine Zahl festlegen wollen, aber alleine um Crawlertown herum zählte der Navigationscomputer derzeit hundertzwölf größere und kleinere Raumfahrzeuge in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, die emsig damit beschäftigt waren, an- und abzulegen. Da den Passagieren Echtzeitdaten aus der Brücke übermittelt wurden, waren sie gut informiert über alles, was sich da draußen abspielte. Der Anflug auf Pax war beeindruckender gewesen, zumindest insofern, als man keine Angst haben musste, nach Verlassen des Schiffes einem spontan entstehenden Leck zum Opfer zu fallen und ins All hinausgerissen zu werden. Crawlertown wirkte wie Metropole 7, nur in einem erbarmungswürdigen Zustand, im Weltall schwebend und sich mit den Fingerspitzen am Abgrund festkrallend. Die Resterampe des Systems, und das galt gleichermaßen für die Waren, die hier umgeschlagen wurden, wie für jene, die sie vertrieben.
Dennoch, Ryk fühlte sich geradezu wohl, als er diesen Anblick in sich aufnahm. Diese Art von Zivilisation verstand er fast schon instinktiv. Es fühlte sich echt an, ohne den goldenen Überzug einer bis in jedes Verhaltensdetail durchkonstruierten Gesellschaft, die damit, wie er nun wusste, nur eine tief sitzende Grausamkeit und Indifferenz überdeckte. Crawlertown wirkte auf eine sehr beruhigende Art echt und es war dieses Gefühl, das sein Misstrauen und seine Befürchtungen beschwichtigte. Wenn es hier Probleme gab, dann waren sie sofort offensichtlich und betrafen alle. Damit konnte jemand wie Ryk arbeiten und ein Blick in die Runde bestätigte ihm, dass es seinen Gefährten ebenso ging. Selbst Momo, der vieles mit Gleichmut ertrug, schien der Anblick der sich nähernden Station zu beleben. »Schön«, sagte er irgendwann. Ein großes Lob aus seinem Mund.
Die Katerina
dockte sehr gemächlich an und als ein Gongschlag durch das Schiff hallte, wussten sie, dass es Zeit zum Aufbruch war. Es dauerte dennoch eine Weile, bis Rita sie abholte, und sie wirkte ein wenig gehetzt. Als Ryk sie darauf ansprach, war sie kurz angebunden. »Eze will euch gleich sprechen. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Was ist los?«
»Die Auri reagieren schneller als erwartet. Die Heptarchie sammelt ihre Kräfte. Es gibt Gerüchte über ein Ultimatum.«
»Also …?«
»Also ein Angriff auf Crawlertown – und das bedeutet für uns, dass wir auch schneller handeln müssen als ursprünglich angenommen.«
Uruhard warf Ryk einen bezeichnenden Blick zu. Geprägt durch die endlose Geschichte der Machtkämpfe und Umstürze in Metropole 7 waren beide zu dem Schluss gekommen, dass die Rebellen gegen die Auri in manchen Dingen wohl sehr professionell vorgingen – in anderen aber eine erstaunliche Naivität an den Tag legten. Eine Naivität, die sicher aus der Tatsache entsprang, dass diese Qualität der Auseinandersetzung für alle Beteiligten neu war. Eskalation bedeutete immer auch, Neuland zu betreten.
Rita sagte nichts weiter, es folgten nur noch wedelnde Handbewegungen, die sie zur Eile animieren sollten, aber keine weiteren Erkenntnisse. Eze also. Er würde alles erklären. Ryk wurde nicht nur deswegen langsam auf diese besondere Persönlichkeit neugierig.
Als er aus der Schleuse trat, wurde Ryk sofort bewusst, dass Crawlertown von innen genauso aussah wie von außen, nur schlimmer. Der Zustand der beiden Schiffe, auf denen er geflogen war, plus weitere Schichten an Flickschusterei, Klebeband und »ist auch egal«, das beschrieb das Innere dieses Ortes zutreffend. Überall tropfte es und an einigen Stellen gab es Schimmel an den Wänden. Nicht alles hatte die richtigen oder überhaupt passenden Verkleidungen. Man konnte sich die Innereien der Station nicht nur anschauen, sondern auch besoffen in sie hineinfallen, mit unabsehbaren Konsequenzen.
Aber es herrschte rege Betriebsamkeit, ja, Rita führte sie durch einen wahren Wirbelwind an Aktivitäten. Die Station war voll, möglicherweise überfüllt, und die Bandbreite an Aussehen, Verhalten, Geistesgegenwart und Umgangsformen, der sie alleine auf dem Weg zum Zentrum der Anlage begegneten, ließ in Ryk erneut ein Gefühl von heimeliger Vertrautheit aufsteigen. Diese Mixtur aus Toleranz und Ignoranz, aus Individualität im Leid wie in der Freude und der gegenseitigen Anerkennung, ohne dabei allzu viel Mitleid oder Empathie zu zeigen – das war wie in Metropole 7, nur weitaus kondensierter. Man konnte hier, egal ob reich oder arm, diesem Lebensstil nur schwerlich entkommen. Keine Villa hinter einem Zaun. Das pralle Leben in allen Facetten und es roch nach Schmiermittel und elektrischen Schwelbränden.
Hier gab es keinen Betrug, keinen falschen Schein. Es war bedrückend eng, schlecht ausgeleuchtet, aber es war so echt, wie Ryk sich die Realität wünschte, und wer hier starb, wurde keinem Ritual geopfert, sondern von seinem Kontrahenten erstochen, weil er beim Kartenspiel betrogen hatte. Das war für das Opfer auch kein Trost, aber es war zumindest irgendwie nachvollziehbar.
Über allem aber lag eine gewisse Anspannung, mit vielen gehetzten Gesichtern, Angst und Durchsagen, die darauf hindeuteten, dass die Station sich entweder auf eine Verteidigung oder eine Evakuierung vorbereitete, vielleicht auch auf beides. Rita störte sich daran nicht, sie schwamm mit ihren Gästen im Schlepptau gegen den Strom, bis sie eine Insel der Ruhe erreichten. Etwas lustlos wirkende Wachen winkten sie durch. Wo eben noch Hektik herrschte, brach nun völlige Ruhe über sie herein, es war ein Wechselbad. Ohne Zweifel: die Zentrale. Ein halbrunder Raum mit einigen Konsolen, gar nicht so unähnlich der Anordnung, in der Ryk als Erbe des alten Henderson identifiziert worden war und das alles irgendwie seinen Anfang genommen hatte.
Sie wurden ignoriert, was nicht ganz seinen Erwartungen entsprach, und durch die Zentrale hindurch in einen Nebenraum gescheucht, in dem ein Tisch stand, einige Stühle und eine Art Säule aus Metall, die aus der Mitte des Tisches wuchs. Es wirkte unaufgeräumt, als hätten hier gerade viele Sitzungen hintereinander stattgefunden. Kekskrümel lagen noch auf dem Tisch und den abgewetzten Sesseln verstreut. Plastikbecher zeugten von einem Kaffeekonsum, der durch schlechten Geschmack und unpassende Temperaturen nicht eingeschränkt wurde.
»Wir setzen uns«, sagte Rita und sie folgten der Anordnung. Die Sessel quietschten und knirschten, das teilweise löchrige Polster entließ herausgepresste Luft mit einem erschöpften Stöhnen. Gemütlich war anders. Ryk schaute auf die Krümel. Er bekam etwas Hunger.
Doch kaum hatten sie sich niedergelassen, erhellte sich die Säule. Ein faszinierender Anblick: Was eben noch wie Metall ausgesehen hatte, war nun eine dreidimensionale Projektionsfläche. Sie zeigte das Bild eines alten Mannes mit tiefschwarzer Hautfarbe, großen Tränensäcken unter den Augen, weißem, kurz geschorenem Haar und fleischigen Ohren, der jeden von ihnen genau anzusehen schien. Er wirkte dabei von so großer innerer Ausgeglichenheit, dass Ryk gar nicht wegsehen wollte.
»Das ist Eze«, sagte Rita. Sie klang respektvoll und neigte etwas den Kopf. »Dies hier sind unsere Gäste, wie angekündigt«, ergänzte sie mit einer umfassenden Handbewegung. Sie stellte diese Gäste nicht vor. Ryk ging davon aus, dass das auch nicht nötig war.
Der alte Mann nickte. »Eze, so nennt man mich.« Seine Stimme war tief und sonor, sie erfüllte den Raum mit einer plötzlichen Präsenz, der sich keiner entziehen konnte. Allein Sia schien nicht ganz so beeindruckt zu sein. Aber sie war von ihnen allen schon immer die Kritischste gewesen.
»Willkommen in Crawlertown«, fuhr Eze fort. »Ich wünschte mir, unsere Begegnung wäre unter besseren Umständen möglich gewesen, aber die Ereignisse haben sich schneller und radikaler entwickelt als gedacht – in vielerlei Hinsicht. Wurden Sie alle gut behandelt? Haben Sie Beschwerden?«
In der Stimme des Mannes lag echtes Mitgefühl.
Ryk war versucht, um eine Mahlzeit zu bitten, da aber sonst niemand etwas sagte, kam er sich mit diesem Wunsch deplatziert vor und schwieg.
»Die Ereignisse entwickeln sich schnell, in der Tat. Was haben Sie erwartet, wenn Sie anfangen, wahllos Leute zu erschießen?«, sagte Sia kalt.
»Wahllos?« Eze lächelte und entblößte eine makellose Reihe weißer Zähne. »Von den Wachen einmal abgesehen, die zur Selbstverteidigung bekämpft wurden, ist nicht eines der Opfer während der Zeremonie wahllos angegriffen worden. Jeder erfüllte eine wichtige Funktion und war daher von strategischer Bedeutung. Dann gab es Kollateralschäden durch die Panik.« Eze sah bekümmert drein. »Das ist bedauerlich, war aber wohl zu erwarten. Wahllos geschah dort von unserer Seite aus allerdings rein gar nichts. Rita hat es ihnen doch erzählt: Der Angriff war genau und von langer Hand vorbereitet. Der einzige Preis, mit dem wir anfangs nicht gerechnet hatten, waren Sie vier. Dadurch haben sich unsere Pläne ein wenig verändert. Es ist ein Glücksfall. Sie sind wertvolle Verbündete, wenn wir zu einer Übereinkunft gelangen können.«
»Jetzt greift die Heptarchie Sie an«, fügte Sia hinzu. »Das ist doch kein Glücksfall.«
»Auf dem Weg hierher haben Sie sicher die kopflose Panik bemerkt, mit der wir darauf reagieren.«
»Es gab keine Panik.«
Eze lächelte. »Exakt. Wir sind darauf vorbereitet, denn es war letztlich unausweichlich. Wir werden jetzt eskalieren und dank Ihrer Anwesenheit wird diese Eskalation möglicherweise zum Sieg unserer Revolution führen – schneller als gedacht. Eine Frage: Sie haben die Karten?«
Stille folgte. Ryk runzelte die Stirn, doch es war Uruhard, der antwortete, indem er etwas aus seiner Hosentasche nestelte. Sein größter Schatz, von dem er nie abgelassen hatte. Die antiken Zugangskarten, eine davon mit Hendersons Namen darauf – und andere, die ihnen helfen sollten, in die Gruft des Letzten Admirals zu steigen, ihn zu erwecken und sie alle zu erlösen. Offenbar hatte auch Eze dafür Verwendung. Ryk verstand. Nicht sie als Personen waren hier die wertvollen Verbündeten. Es war das, was sie mitbrachten und benutzen konnten. Etwas enttäuschend fühlte sich das schon an.
»Woher wissen Sie davon?«, fragte Uruhard.
»Rita hat mir von ihrer Existenz erzählt.« Eze schien die Karten aus seiner Säule heraus intensiv zu mustern. »Können Sie sie auf den Tisch legen, eine neben der anderen? Ich werde sie weder beschädigen noch habe ich die Absicht, sie Ihnen wegzunehmen. Sie haben mein Wort.«
Uruhard zögerte nicht. Im Zweifel konnte man ihn zwingen, also würde er sich nicht querstellen. Wie ein Kartenspieler legte er die Karten nebeneinander auf den Tisch. Ryk war sich immer noch nicht sicher, was aus dieser Kollektion wirklich nützlich war und was reinen Erinnerungswert hatte, und vielleicht wollte Eze sich auch erst einmal ein Bild machen.
Rita schaute die Karten mit verhaltener Überraschung an. Entweder war sie über die Bedeutung dieser Hinterlassenschaften nicht informiert worden oder sie hatte sie nicht für wichtig genug gehalten, um sich weiter darum zu kümmern.
Eze hingegen wirkte fasziniert und aufmerksam.
»Hm, hm«, machte der Kopf und wirkte für einen Moment etwas abwesend. »Ja, sehr interessant. Wie ich es gehofft hatte. Danke. Packen Sie sie wieder ein, sie sind ein wertvoller Schatz. Passen Sie gut darauf auf.« Er wartete nicht darauf, dass Uruhard seiner Aufforderung Folge leistete, sondern fuhr sogleich fort: »Sie können mir helfen. Sie können uns
helfen, der Sache der Rebellion. Helfen Sie uns gegen die Auri, dann helfe ich auch Ihnen. Ich erwarte nicht, dass Sie alle sich aus Idealismus unserer Sache anschließen. Ich bin nicht naiv. Das Leben ist ein Geschäft und ich biete Ihnen einen Deal an.«
»Ein Geschäft?«, echote Uruhard. »Was haben Sie, was uns reizen könnte?«
»Ich habe gehört, dass Sie ein Raumschiff brauchen. Eines, das schneller als das Licht fliegt. Alte Technologie. Ein solches Schiff existiert. Sie kennen es, wenn ich mich nicht irre. Sie haben es gesehen.«
»Das Museumsschiff!«, platzte Ryk heraus. Er hatte es gewusst. »Die Marcus Aurelius
von Admiral Rothbard!«
»Sehr richtig. Es benötigt nur noch eine Seele. Man wird es Ihnen erklärt haben. Es ist funktionsfähig, es fehlen aber sämtliche Kontrollprogramme und Codes, es fehlt die Steuerungs-KI. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Sobald wir unser Ziel erreicht haben, schenke ich Ihnen die Marcus Aurelius
– und sie wird Sie tragen, wohin auch immer Sie wollen.«
»Sie können das Schiff flugfähig machen? Gibt es solch eine alte KI denn noch, ich meine, aktiv und einsatzfähig?«, wollte Uruhard wissen. Ryk war sich nicht ganz sicher, wovon die Rede war. Er hatte von den alten KIs gehört, aber mehr im Sinne von Legenden und Mythen – denkende, selbstbewusste Maschinen. Es war bemerkenswert, dass der Hive nach der Eroberung Terras als Erstes alle Speicher gelöscht hatte, um die Existenz dieser künstlichen Intelligenzen zu beenden. Die Invasoren hatten in ihnen zweifelsohne eine andauernde Bedrohung wahrgenommen, offenbar eine noch viel größere als die menschlichen Überlebenden, die ungeschoren davongekommen waren.
Etwas peinlich für die Menschheit. Andererseits …
»Ich kann und ich werde«, sagte Eze. Er lächelte wissend, wie ein weiser alter Mann. Uruhard runzelte die Stirn, dann sah er Sia an. Die hatte offenbar auch verstanden.
»Sie sind selbst eine KI.« Sia schaute auf die Projektion. »Sie oder ein Ableger von Ihnen kann das Schiff steuern.«
»Das ist zutreffend.«
Ryk hielt sich davon ab, sich mit der flachen Hand gegen seine Stirn zu schlagen. Natürlich. Das war nicht die Projektion einer real existierenden Persönlichkeit. Es war das Abbild einer hoch entwickelten Software, die mit ihnen sprach. Verdammt, er war aber auch manchmal etwas langsam.
»Wie lange existieren Sie bereits?«, fragte er jetzt, um einmal etwas schneller zu reagieren und eine relevante Frage zu stellen.
»Ich wurde vor dreihundertachtundneunzig Jahren aktiviert. Ich habe den Hivekrieg mitgemacht und war dabei, als wir ihn verloren. Und ich habe die Verwirrung genutzt, um mich zu verbergen. Bis heute.« Eze lächelte. »Dank meiner Freunde hier im Crawlerspace. Ein wenig Anarchie ist sehr hilfreich, wenn man unerkannt bleiben möchte. Und wenn man sich auch noch nützlich machen kann, ist das Interesse aller sehr groß, deine wahre Identität zu schützen. Aber auch diese Zeit geht nun dem Ende entgegen. Die Revolution, da bin ich mir sicher, wird vieles offenbaren.«
Sia nickte, mehr fasziniert als überrascht, während Uruhard sich mit plötzlicher Erregung nach vorne lehnte und das Gesicht so intensiv betrachtete, als könne er allein dadurch alles erfahren, was er über die Vergangenheit wissen wollte. Momo blinzelte nur. Er war ergebnisorientiert und hatte kein Interesse an Gadgets, egal ob diese groß oder klein oder auch nur sehr alt waren.
»Wie können wir helfen?«, fragte Ryk. »Diese ganze Diskussion beruht ja auf einem Handel. Wir tun etwas für Sie und Sie dann etwas für uns. Wie können wir, als Fremde, gegen die Auri helfen? Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Nutzen wir haben sollten. Wir haben die Karten, gut. Aber sonst …«
»Tatsächlich«, sagte die KI, »sind Sie weitaus weniger nützlich, als ich Sie glauben gemacht habe.« Eze lächelte. Er hatte wohl einen Witz gemacht. »Aber Sie haben es schon ganz richtig erkannt: Die Karten ermöglichen uns Zugang zu Orten, die uns bisher verborgen geblieben sind. Vor allem Sie, junger Mann, könnten mithilfe …«
»Henderson«, sagte Ryk. »Er ist hier bekannt? Er starb auf der Erde. Er kämpfte auf der Erde.«
»Er war ein hochrangiger Offizier mit gewissen Zugriffsrechten. Er arbeitete lange eng mit Admiral Rothbard zusammen. Wir haben seine Biografie in unserem System nachgewiesen, er ging erst in der Endphase des Krieges zurück nach Terra. Ich bin gerne bereit, Ihnen die Daten zu überlassen, die wir über ihn haben, falls es Sie interessiert. Hendersons persönliche Codekarte ist bereits viel wert. Und Sie haben eine Karte von Admiral Rothbard. Die ist ebenfalls hilfreich. Sie müssen für mich eine Tür öffnen, damit ich etwas erfahren kann, was für den Kampf gegen die Auri sehr hilfreich sein wird. Die Chancen stehen gut. Die Auri sind im Aufruhr und werden uns jagen. Sie kümmern sich jetzt um eine offensichtliche Gefahr, unter deren Deckmantel wir eine Bedrohung ganz anderer Natur etablieren können – schneller und effektiver dank Ihrer aller Hilfe.« Eze lächelte. »Ich weiß, dass ich Sie nur als Gruppe kaufen kann. Mein Angebot des Deals gilt für Sie alle.«
»Moment.« Sia erhob ihre Stimme. »Der Angriff auf die Zeremonie …«
»War vor allem eines: ein Ablenkungsmanöver, um die Aufmerksamkeit der Auri zu fokussieren, ja. Mit positiven Nebeneffekten, was das Ausschalten von wichtigem Personal der obersten Führungsebene angeht. Damit sie nicht merken, was wir eigentlich vorhaben. Eine Aktion, deren Erfolgsaussichten plötzlich massiv gestiegen sind. Ich werde Sie nicht zwingen, aber wenn Sie alle – oder zumindest Ryk hier – sich uns anschließen wollen …«
»Wenn, dann alle.« Das war Momo. Und er sagte es mit großer Bestimmtheit. Ryk schaute sich um und der Defo erntete keinen Widerspruch. Das machte den Springer stolz und gerührt zugleich. Für sich hatte er bereits beschlossen, jeden Deal zu akzeptieren, den Eze ihnen anbot. Er mochte dieses System nicht mehr so richtig. Ihn zog es weiter. Es hinter sich zu lassen erschien ihm aktuell wie eine große Verlockung.
»Worum geht es genau? Was für eine Tür?«, fragte Uruhard. Auch er hatte wohl seine Entscheidung getroffen.
Eze sah sie alle an und wirkte sehr zufrieden.
»Es ist nicht ungefährlich.«
»Überspringen wir die Floskeln doch einfach«, knurrte Sia. »Was für eine Tür?«
»Tür ist nur eine Metapher, wie Sie sich bereits gedacht haben«, sagte Eze.
Ryk schwieg. Er hatte sich eine richtige, echte Tür vorgestellt, aber vielleicht war es besser, das an dieser Stelle nicht zu erwähnen.
»Ihr Ziel ist der Hive, wenn alles klappt. Wir haben noch alternative Optionen, aber das Ziel ist der Hive und die daran angeschlossene Kontrollanlage.«
Schweigen. Dann fragte Uruhard ein wenig vorsichtig: »Wir sollen da rein? Ich meine – in
den Hive?«
»Zum Kern. Zum Gehirn. Zum Steuerzentrum. Egal wie Sie es nennen wollen.«
»Dorthin, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist?«, echote Sia.
Eze sah Sia nachsichtig an. »Schließen Sie nicht von sich auf andere, junge Frau.«
»Wir sollen im Ernst dem Geist in der Maschine trauen?«, antwortete sie etwas gereizt.
Eze lächelte. Ryk bezweifelte, dass man eine KI ärgern oder gar beleidigen konnte.
»Das sagt mir ernsthaft eine Maschine in einem Geist?«, erwiderte die Projektion sanft. »Wir sollten diese Sophisterei beenden. Es ist möglich. Sie machen mit?« Das warme Lächeln wurde noch intensiver. »Es wird ein irrer Ritt, das verspreche ich Ihnen. Ich würde Sie so gerne begleiten.« Sein Lächeln war nun voller Vorfreude. »Vielleicht finde ich einen Weg.«