14
Es war ein so schöner Anblick, die Perlenkette um den Planeten, gewoben aus Lichtern und Reflexionen, eine Augenweide. Ryk wollte die Schönheit dieses Bildes, die damit verbundene Erhabenheit und die Symbolkraft nicht fortwischen. Die Menschheit hatte hier einiges erreicht und vor allem viel erhalten, was auf der Erde schon lange verloren gegangen war. Auri hin oder her, darauf konnte man ein wenig stolz sein und nicht zuletzt auch durchaus neidisch. Die Idee der Crawler, diese Zivilisation möglicherweise einer etwas aufgeklärteren Regierung zu übergeben und damit, so war die Hoffnung, das volle Potenzial dieses Systems zu erwecken, befreit aus der Gefangenschaft der Privilegierten, war eine schöne Utopie. Ryk war noch nicht Zyniker genug, um sich ganz solcher Ideale zu entledigen oder vielmehr: Er war nicht wieder zu einem solchen geworden. Uruhards und Sias Vision hatte ihn aus dem Sumpf des resignierten Defätismus befreit und die Auri hatten diese zarte Flamme auf ihre Weise angeheizt. Dann kam der Rückschlag. Aber er hatte ihn nicht so tief getroffen, dass er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gänzlich ad acta gelegt hätte, und dieser Blick auf die Perlenwelt alleine bestärkte ihn darin, dass die Menschheit dazu imstande war, Beeindruckendes und Gutes zu schaffen – wenn sie sich nur endlich dazu aufraffen konnte, die Dinge richtig zu tun und sich nicht selbst im Weg zu stehen.
Ryk war sich des inneren Widerspruchs durchaus bewusst. Die Aktion, an der er sich beteiligte, bestand nicht zuletzt daraus, sich nicht nur selbst im Weg zu stehen, sondern auch anderen mächtig auf die Füße zu treten, und er spielte dabei eine wichtige Rolle. Dennoch, an der Utopie wollte er festhalten. Er hatte ja sonst nicht mehr viel.
»Wir sind im Bereich der Ortung«, meldete Rita angespannt. »Unser Transponder sagt, dass wir ein harmloser Frachter sind, der Depottech liefert, und bis zuletzt werden wir auch den erwarteten Kurs einhalten. Aber da in diesem Moment auch der Kampf um Crawlertown beginnt, kann es natürlich sein …«
Und so war es auch.
»Josepha Inclinata
, bitte melden Sie Flugplan, Ziel und Fracht mit visueller Verbindung«, krachte eine herrische Stimme aus dem Lautsprecher.
Ryk zuckte zusammen. Rita stand auf und machte einem der Zwillinge auf dem Pilotensitz Platz, der den Ruf auch beantwortete. Ryk vermutete, dass die Auri über die Chefin ihrer kleinen Mission eine Akte führten. Nicht verwunderlich. Es war Michael, der etwas Gesprächigere der beiden Männer, der diese Aufgabe übernahm.
»Josepha Inclinata
. Wir haben Technikteile dritter Kategorie, angemeldet für East Anglia, Station III. Ich übermittle noch einmal die Ladepapiere und den Flugplan sowie die Liste der Crewmitglieder.«
Michael sprach monoton, fast wie eine Maschine. Dann aber fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, was auf Pax passiert ist, aber wir haben damit nichts zu tun. Wir machen nur unsere Arbeit. Technikteile dritter Kategorie für die Heptarchie, bestellt und geliefert.«
Die Stimme aus dem Nichts reagierte nicht sofort, aber als sie antwortete, war ihr Tonfall beinahe versöhnlich. »Ihre Dokumente sind bestätigt, Josepha Inclinata
, und Sie sind auf dem vereinbarten Kurs. Halten Sie sich aber unbedingt an den Flugplan. Aufgrund verschärfter Sicherheitsbestimmungen werden Sie nach dem Andocken durchsucht. Wir bitten um Ihr Verständnis. Wenn alles korrekt ist, haben Sie auch nichts zu befürchten.«
»Ich verstehe und akzeptiere diese Notwendigkeit«, erwiderte Michael. Er wartete, bis die Verbindung getrennt worden war, und drehte dann den Kopf in Zeitlupe Rita zu, auf seinem Gesicht ein plötzliches, verstörend irres Grinsen, das sein Antlitz auf enervierende Weise in zwei Hälften zu teilen schien.
Sein Zwilling Martin, ohne auch nur einen Blick in die Richtung seines Bruders zu werfen, wiederholte diese Mimik unvermittelt und Ryk fuhr bei diesem Anblick ein kalter Schauer über den Rücken. Rita verstand er, aber diese beiden waren etwas Besonderes, und das nicht notwendigerweise auf eine angenehme Art und Weise.
»Wir halten den Kurs bis zum letzten Moment«, sagte Rita, dann hob sie eine Hand und hielt sie waagerecht in der Luft, bis sie sie plötzlich abknickte. »Dann Sturzflug.«
»Sturzflug?«, fragte Sia. »Wie in … Sturzflug
?«
Auch Ryk hatte sich über die himmelsmechanischen Rahmenbedingungen ihres Einsatzes offenbar zu wenige Gedanken gemacht. Rita aber lächelte nur.
»Die Josepha
hält das aus, oder, Michael?«
Der grinste immer noch. Er tätschelte das Kontrollpult vor sich. »Wird schon.«
Es hatte schon beruhigendere Momente in Ryks Leben gegeben.
Sie holten Uruhard hinzu, der sich auf der Brücke über die neuesten Entwicklungen auf Stand brachte. Er bedachte Michael mit einem leisen Grunzen, sprach aber weder sein Vertrauen noch sein Misstrauen aus. Dann ließ er sich auf einem der freien Notsitze nieder, schnallte sich an und strahlte die Gelassenheit eines Mannes im fortgeschrittenen Alter aus, der die jungen Leute einfach mal machen ließ. Momo hatte hier keinen passenden Sitzplatz und seine Haltung war wie immer ungemein pragmatisch: Wenn sie landeten, waren sie da, bis dahin wartete er schlicht ab. Ryk wünschte sich, er könnte die Sache ebenso sehen.
Die Kursvektoren der Josepha
wurden in irisierenden Linien dargestellt und die Positionen der in der Nähe befindlichen Stationen waren durch grüne Punkte markiert, Station III pulsierte sanft, als würden sie ernsthaft die Absicht haben, dort anzudocken. Auch in der dreidimensionalen Perspektive war erkennbar, dass die Perlenkette der orbitalen Anlagen hier eine Lücke hatte. Das war wichtig, da die in der Nähe befindlichen Stationen nur über schwache Waffen verfügten, wie Rita ihnen versichert hatte. Es erhöhte ihre Chancen, den »Sturzflug« zu überleben.
Da war es wieder, dieses Wort. Ryk hatte es doch nicht denken wollen.
»Ganz vorsichtig. Keine Abweichungen«, murmelte Rita, die gebannt auf die Kursanzeige starrte, als das Crawlerschiff sich mit bedächtiger Geschwindigkeit in den Raum der Heptarchie begab. Michael wartete auf ihr Kommando, das war klar zu erkennen, und das wiederum war ein Gedanke, der Ryk durchaus beruhigte. An Ritas Kompetenz zweifelte er keine Sekunde.
»Speicher?«, fragte Rita knapp.
»Auf hundert Prozent.«
»Triebwerke?«
»Voll funktionsfähig. Ich kann binnen vier Sekunden auf Volllast schalten.«
»Stabilisatoren?«
»Bereit.«
»Schubdüsen?«
»Angewärmt und bereit für den Atmosphäreneintritt.«
»Dann ab jetzt Verschlusszustand!«
Michael haute mit der flachen Hand auf eine Sensortaste.
Es knallte und knackte, als im ganzen Schiff die Schotten automatisch zufuhren. Ein rotes, rotierendes Licht flammte auf und verlosch nach zehn Sekunden wieder.
»Verschlusszustand hergestellt. Reparaturautomatik auf Stand-by. Interne Sensoren aktiv. Notfallprotokoll bereit.«
»Beginne das Rotationsmanöver in fünf Minuten.«
Michael schaltete. »Rotationsmanöver eingeloggt und bereit.«
Ryk verstand nicht, wozu das diente, Sia aber umso mehr. Sie beugte sich in seine Richtung und flüsterte: »Wenn wir beschossen werden, zeigen wir dem Gegner nicht immer die gleiche Seite. Schadensminimierung.«
»Wenn?«, flüsterte er zurück.
»Sobald«, hörte er Michael sagen und erntete das irre Grinsen. Es schien, als freue sich der Mann darauf. Ryk wollte gar nicht daran denken.
»Falls«, sagte Rita, die natürlich mitgehört hatte. »Bleiben wir bei ›falls‹!«
Die Josepha
glitt gemächlich und harmlos durch den Orbit, bis sie die Position erreichte, von der Rita gesprochen hatte.
»Jetzt wird es lustig«, murmelte Michael erwartungsvoll.
Auf Ritas geflüsterten Befehl hin brach das Schiff den bisherigen Anflug ab, senkte die Nase und feuerte die Triebwerke hoch, sodass die gesamte Hülle angestrengt zu zittern begann. Mit einem Satz sprang der Crawler auf die unter ihnen schimmernde Atmosphäre zu. Ryks Hände verkrampften sich unwillkürlich in den Lehnen, aber es passierte erst einmal nichts anderes, als dass die Oberfläche des Planeten vor ihnen anwuchs.
Unbemerkt blieben sie natürlich nicht.
»Josepha
! Josepha
! Sie haben den Kurs geändert! Wir haben das nicht autorisiert! Sie haben den Kurs geändert! Brechen Sie ab! Brechen Sie sofort ab!« Ja, da war jemand aufgewacht.
»Wir haben ein Problem mit der Triebwerkssteuerung«, meldete Michael, dessen Fähigkeit, völlig gelassen zu lügen, genauso beeindruckend war wie die verstörende Mimik. »Die Steuerdüsen spielen verrückt. Ein Softwareglitch, wenn Sie mich fragen. Wir arbeiten dran, bitte warten.«
»Kehren Sie auf den Kurs zurück oder wir lösen Gegenmaßnahmen aus! Sie haben keine Landeberechtigung auf der Planetenoberfläche! Abbrechen! Sofort abbrechen!«
Michael schaltete ab. »Was du nicht sagst, Vollidiot.«
Jede Sekunde, die sie gewannen, nützte ihnen. Die Josepha
brüllte erhitzte Stützmasse aus den Triebwerksschächten und stürzte sich mit Elan in die äußersten Schichten der Atmosphäre. Sobald sie mit der Luft in Berührung kam, wurde der Flug unruhig. Ein Schütteln durchfuhr die Hülle. Michael hielt Kurs, immer noch die Ruhe in Person.
»Sie lösen Alarm aus«, meldete Martin, der irgendetwas kaute. In dieser Situation an Essen zu denken konnte Ryk gar nicht nachvollziehen.
»Sie haben nichts, was sie uns hinterherschicken können. Alles, was Flügel hat, ist bei Crawlertown.«
»Sie haben Atmosphärengleiter«, erinnerte Michael sie. »Da unten. Wo die Luft ist.«
Für einen Weltraumbewohner musste das eine besondere Sache sein.
»Insekten«, tat Rita die Warnung ab. Sie vertraute den Fähigkeiten der Josepha
, damit fertigzuwerden.
Das Bild auf dem Schirm hatte sich grundlegend verändert. Keine Sterne mehr, das tiefe Schwarz des Weltalls war ebenso verschwunden wie das glitzernde Irrlichtern der Orbitalanlagen. Beides wurde ersetzt durch ein schmutziges Grünblau und direkt unter ihnen eine dichte, ihnen entgegenwachsende Wolkendecke, aus der es unheilvoll blitzte.
»Schlechtes Wetter«, meinte Martin kauend.
»Ist hier immer. Kackplanet«, erwiderte Michael. Er steuerte das Schiff mit einer gewissen Nonchalance, die Ryk der Situation für nicht angemessen hielt. Aber was wusste er schon?
Ein heller Ton wurde hörbar, dann noch einer. Es war wie ein Anklopfen. Ryk sah Rita fragend an, doch Michael erklärte es: »Wir werden gepingt, von drei Quellen.«
»Die Bodenstationen wachen auf. Noch wissen sie nicht, wohin wir wollen«, kommentierte Rita.
»Die werden sich wundern. So, Wolkendecke.«
Sie sahen gar nichts mehr außer Grau in Grau und wieder wurde die Josepha
sanft durchgeschüttelt, kletterte aber unbeirrbar weiter den Gravitationsschacht hinab, bis die Wolken durchbrochen waren. Darunter regnete es, nein, es schüttete und die graubraune Planetenoberfläche schälte sich nur widerwillig aus dem Dunst. Ryk würde jetzt zum ersten Mal eine fremde Welt betreten und sie sah sehr unwirtlich und ungemütlich aus. Dies war kein einladender Ort und das verwässerte den Wert dieses historischen Moments. Der Regen war eine Sintflut.
»Wir schlagen jetzt den endgültigen Kurs ein … Oha, da kommen sie.« Michaels »Oha« war eine winzige Nuance lauter gewesen und er lächelte auch nicht mehr. Berechtigt, wie Ryk fand. Sollte seine Lesart der Kontrollen richtig sein, tauchten da sieben rote Blips auf, die aus verschiedenen Richtungen auf die Josepha
zustrebten. Samson, der Pilot, hätte an dieser Situation seine Freude gehabt. Ryk nicht so.
»Keine Angst«, murmelte Rita. »Wir haben hier Freunde. Viele Freunde. Ganz ruhig.«
»Wir sind auf dem Weg!«, meldete Michael. Auf den Schirmen war nicht viel zu erkennen. Die Blips waren noch zu weit entfernt, um optisch zu sehen zu sein, und die Josepha
ließ sich davon ohnehin nicht beeindrucken.
»Autokanone aktivieren. Zielsuche. Passt auf die Transponder auf!« Ritas Befehl kam knapp und auf den Punkt. Michael grunzte etwas, dann ertönte ein sanftes, tiefes Signal und Ryk vermutete, dass die Autokanone die sieben Gleiter jetzt auf dem Schirm hatte.
»Es ist eine Schiff-Schiff-Waffe. Sie fegt Gleiter mit einem Treffer aus dem Kontinuum«, informierte Michael seine Passagiere, nun wieder lächelnd, da die Aussicht auf vaporisierte Menschen in zerbrechlichen Maschinen ihm offensichtlich Freude bereitete.
»Das ist … gut?«, kommentierte Ryk. Er entsann sich der Kanone in Samsons Gleiter. Sie war gut gewesen in dem, was sie tat, aber am Ende war es doch sehr knapp geworden.
»Sehr effektiv.«
Michael beließ es dabei. Die Josepha
bremste ab. Vor ihnen, am Horizont gut auszumachen, wuchs nun ein Hive empor, ein Ehrfurcht gebietender Anblick, und sie näherten sich ihm zielstrebig. Ryk schaute auf das vertraute Bauwerk und empfand die gleiche Angst wie auf der Erde, vermischt mit Bewunderung. Dieser Hive aber war nicht der Herr, er war der Sklave. Wenn das so war, hieß das aber auch …
»Was ist mit den Drachen?«, fragte er laut. »Wer kontrolliert die Drachen?«
Rita sah ihn fragend an. »Die was?«
Und das war der Moment, in dem die vier Passagiere begriffen, dass den Rebellen eine ganz wichtige Information fehlte. Ryk kämpfte seine Panik noch nieder, als Uruhard zu sprechen begann, die Stimme erstickt vor unterdrückter Anspannung. »Drachen sind …«, hob er an, unterbrach sich aber, seine Augen leicht geweitet. »Das sind Drachen!«
Für Ryk war es ein vertrauter Anblick. Michael und Martin stießen im Duett ein Zischen aus, das gleichermaßen Überraschung wie Missfallen zum Ausdruck brachte. Der Schwarm an Flugobjekten, der sich von der Spitze des Hives löste, war unverkennbar und als die Optik heranzoomte und das gleiche Sammelsurium an fliegenden, bewaffneten und entschlossenen mordwütigen Lebensformen zeigte, mit dem die Besucher von der Erde bereits einmal zu tun gehabt hatten, erschienen weitere Erklärungen unnötig. Die Drachen waren zielstrebig. Sie näherten sich denen, die in ihren Luftraum eindrangen, und die Tatsache, dass alle hier so überrascht waren, wies darauf hin, dass derlei schon lange nicht mehr passiert war.
»Wir wussten nicht …«, begann Rita. Sie wirkte auf einmal gar nicht mehr selbstsicher. Änderungen und Risiken hatten sie besprochen. Diese hier aber nicht.
»Es war wohl nie nötig. Wer würde schon so dumm sein, einen Hive anzugreifen, wenn er doch unter der Kontrolle der Menschen steht«, sagte Sia bitter.
»Unter der der Auri!«
»Das dürfte unter militärischen Gesichtspunkten wohl identisch gewesen sein. Und die Auri müssen das wissen. Wenn sie den Hive kontrollieren, dann auch die Drachen. Das ist etwas mehr Defensivkraft, als wir gedacht haben, hm?« Den Seitenhieb konnte Sia sich nicht verkneifen.
»Ich brauche Infos«, unterbrach Michael. »Was können die? Bewaffnung? Antrieb? Schutzmaßnahmen? Taktik?« Er wusste, was er wissen wollte. Es war aber sehr schwierig, dieses Informationsbedürfnis zu befriedigen.
»Alles Mögliche«, versuchte Ryk es. »Jeder kann was anderes, manche sind völlig nutzlos, andere sehr effektive Kampfmaschinen. Was sie eint, ist eine große Bereitschaft, bis zum Tod zu kämpfen. Selbstaufopferung. Begrenzte Kooperation. Begrenzte Führung. Aber es sind einfach immer sehr viele und sie sind sehr entschlossen.«
Bereitschaft, Kooperation, Entschlossenheit: Das war es auch, was sie zeigten, als sie sich wie ein wütender Bienenschwarm auf die Josepha
stürzten, in Wellen, mit flammenden Waffen, soweit sie über welche verfügten, mit nach vorne gestreckten Klauenhänden, wo ihnen nichts anderes blieb, wohl koordiniert durch eine Leitstelle, in der gewiss ein Auri saß. Ein Auri, der nicht halb so beunruhigt sein musste, wie es die Rebellen vielleicht angenommen hatten.
Die Autokanone der Josepha
begann zu wummern. Das Geräusch durchdrang die Schallisolierung wie der dumpfe Schlag eines aufgeregten Herzens. Die Waffe war mächtig und effektiv, weitaus mehr als die deutlich kleinere Variante in Samsons Gleiter. Feuerblumen pickten die Angreifer vom Himmel und zerrissen mehrere Drachen gleichzeitig, die in Stücken dem fernen Boden entgegentaumelten. Die fanatischen Flugkrieger blieben völlig unbeeindruckt, schlossen die Reihen, wirbelten in spielerischer Leichtigkeit durch die Lüfte und veränderten ihre Angriffsvektoren mit einer arrogant erscheinenden Selbstsicherheit. Sie nahmen die Verluste in Kauf, denn sie empfanden weder Kameradschaft noch Schmerz oder Angst.
»Sie sind wie die Großmäuler!«, sagte Ryk laut. »Sie greifen unerbittlich an und weichen niemals zurück.«
»Wie die … was?«, fragte Rita. Ryk starrte sie nur an. Das konnte doch nicht wahr sein.
»Wie die Wesen, die die Sporenkapseln steuern«, versuchte er zu erklären.
»Die können laufen?«
»Die können kämpfen und töten!«
Ritas Unglaube stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Er wusste nun, dass sie auch im Fall einer erfolgreichen Landung vor einem großen Problem stehen würden. Er schalt sich einen Narren, sie alle. Als Rita ihren Plan enthüllt hatte, hätten sie sofort darauf hinweisen müssen. Doch sie alle waren der Illusion aufgesessen, dass die Tatsache, dass die Auri den Hive kontrollierten, auch bedeutete, dass die Armeen der Invasoren ausgeschaltet, inaktiv waren, da man ihrer seit Jahrhunderten nicht mehr bedurfte. Dass sie gar nicht mehr existierten, denn sie waren ja im Grunde eine Ressourcenverschwendung. Umso überraschender, dass sich zumindest die Drachen als sehr lebendig und aktiv erwiesen.
Naiv war er gewesen. Rita ebenso. Sie alle. Und jetzt durften sie diese Einfalt ausbaden.
Die Autokanone war von ihren Befürchtungen nicht beeindruckt. Sie suchte sich ihre Ziele, methodisch und ohne Skrupel, und die Explosionen ihrer Geschosse rissen die Drachen zu Dutzenden in den Tod. Doch es waren viele, mehr als damals über Metropole 7, der größeren Bedrohung angemessen, oder vielleicht hatten sie auch einfach zu lange geschlummert und dürsteten danach, endlich wieder in Aktion zu treten.
»Wir können nicht landen«, stieß Sia hervor. »Wenn die Drachen aktiv sind, dann auch die Großmäuler.«
»Wirklich die Piloten aus den Kapseln?«, fragte Rita. Sie hatte es immer noch nicht richtig realisiert. Und Ryk verstand jetzt, was ein Großmaul für sie war: halb eingewachsen in ein Sporenschiff, ein stummer Pilot, den es zu täuschen galt mit albernen Masken, ehe man ihn überwältigen konnte. Sie wussten es nicht. Sie waren nie einer echten Großmaultruppe begegnet, hatten nie ihre Kampfkraft, Brutalität und absolute Rücksichtslosigkeit erfahren. Dies war wahrlich ein böses Erwachen.
»Bodentruppen«, sagte Sia, auch ein wenig entgeistert. »Krieger. Effektive Mordmaschinen. Das Landäquivalent der Drachen. Und es sind potenziell viel mehr. Wir haben nie gewusst, wie viele. In Metropole 7 tauchten immer nur die auf, die auch gebraucht wurden, und wenn sie kamen, dann gab es für uns nur eine mögliche Reaktion.«
»Kämpfen?«
Sia lachte. »Wegrennen. Ganz schnell.«
Rita schwieg. In ihrem Gesicht arbeitete es, als sie die Optionen überdachte.
»Das
waren wir nicht!«, rief Michael erstaunt aus. Aller Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf die Schirme, die zeigten, wie weitere Drachen in Wolken aus Blut, Innereien und Metallteilen zerstoben oder mit abgerissenen Gliedmaßen dem Boden entgegentaumelten. Es waren mehr als erwartet. Sie starben schneller, als allein der Autokanone zugeschrieben werden konnte.
»Die Gleiter. Sie galten uns. Aber sie haben uns nicht gejagt
!«, sagte Rita und lachte auf, als sie die Situation überblickte.
»Ich habe jetzt ein Transpondersignal«, meldete Michael und er grinste wieder. »Das sind unsere Leute, Rita. Das sind unsere Freunde!«
Und es stimmte. Die sieben Blips hatten sich auf der Seite der Josepha
in den Kampf eingemischt. Sie waren zwar kleiner, aber nicht weniger effektiv. Sieben Gleiter, die sich wendig durch die Geschwader der Drachen schraubten und Tod und Vernichtung in einer dreidimensionalen Schneise über ihre Formationen brachten. Die Drachen waren überfordert. Zu viele Gegner ließen ihre Koordination schwächeln, sie gingen in Kamikazeangriffe über, für die sie zu schwerfällig und langsam waren. Ihre große Anzahl war immer noch ihre Stärke und als einer der Gleiter, zu vorwitzig und wagemutig, in die Zange genommen wurde, teilte er das Schicksal der abgeschossenen Drachen und trudelte zu Boden, eine lange Feuerspur hinter sich herziehend. Aber die Übermacht allein war nicht gut genug.
Dennoch, es galt, was Sia gesagt hatte. Direkt neben dem Hive an der Station zu landen war keine Option. Die Gefahr, von einer Armee von Großmäulern überwältigt zu werden, war viel zu groß. Sie mussten abdrehen. Der Orbit war eine Möglichkeit, dann zurück in den Crawlerspace, sich verbergen, die Wunden lecken …
Aber das war nicht Ritas Art.
»Also Plan B!«, sagte sie entschlossen, wobei Ryk nicht ganz klar war, welche der Ausweichoptionen sie damit meinte. Doch das wurde nun schnell klar. »Wir müssen woanders landen. In einer der Städte oder im Gebirge …« Noch während sie redete, liefen die Alternativen vor ihr ab. Ryk konnte es sehen, so konzentriert, wie sie ins Leere starrte. »Unsere Freunde«, sagte sie dann. »Wir müssen die Hilfe unserer Freunde in Anspruch nehmen.«
»Jemand nimmt mit uns Kontakt auf«, meldete Martin. Ohne auf eine Anweisung zu warten, schaltete er durch. Auf einem Schirm erschien das Gesicht eines Mannes, weitgehend bedeckt von einem Pilotenhelm. Hinter ihm war durch die transparente Kuppel seines Gleiters das wirbelnde Panorama des Luftkampfes gut zu erkennen. Dafür dass er sich mitten in einer tödlichen Auseinandersetzung befand, schien er bemerkenswert ruhig zu sein.
Oder er nahm die richtigen Drogen.
»Folgen Sie uns. Weg vom Hive. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.«
»Kennwort Calimero?«, fragte Rita, die sich der Identität des Fremden vergewissern wollte.
»Kennwort Priscilla. Ich bin auf Ihrer Seite und wir sind in Gefahr. Keine Zeit für Erklärungen. Folgen Sie uns oder nicht, wir drehen ab. Wir bieten Ihnen Obdach.«
Die Verbindung brach ab. Rita warf Martin einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Achselzucken beantwortete. Eine Erschütterung durchfuhr die Josepha
, als ein konzertierter Angriff der Drachen ihre Hülle traf. Warnlampen flackerten, ein Heulton erklang und brach abrupt ab. Überzeugende Argumente für schnelles Handeln und Rita traf ihre Entscheidung, als sie alle auf den Schirmen beobachten konnten, wie die verbliebenen sechs Gleiter …
Ein weiterer brach in der Luft auseinander, seine Einzelteile wirbelten durch die Luft.
… wie die fünf Gleiter abdrehten und davonstoben.
»Hinterher, Michael. Das Kennwort hat gestimmt.«
Der Zwilling hatte nichts mehr zu grinsen, aber er reagierte mit der Zuverlässigkeit, die Ryk an ihm beobachtet hatte. Er schaltete, riss die Josepha
in einer weiten Kurve am Hive vorbei, den sie schnell hinter sich ließen, und folgte den fünf Gleitern, die Richtung Norden davonstrebten.
»Verfolgen sie uns?«, fragte Rita.
»Drachen entfernen sich nie weit vom Hive«, sagte Uruhard. Sie sahen, dass die Einschätzung richtig war. Die Verteidiger kreisten aufgeregt um ihre Heimat, aber sie ließen die Angreifer ziehen.
Ryk stieß den Atem aus, den er die ganze Zeit angehalten hatte. Er sollte sich das abgewöhnen. Nicht atmen war ungesund.
Es lief alles nicht so wie erwartet. Ryk spürte, dass er trotzdem erstaunlich ruhig geblieben war.
Das war ja für ihn auch nichts Neues.