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Sie landeten in einer Siedlung etwa einhundert Kilometer vom Hive entfernt, im Kreis der fünf Gleiter, die alle zusammen auf einem alten Landefeld aufsetzten, dessen bröckeliger Beton von hohem Alter und Vernachlässigung zeugte. Das Wetter auf dieser Welt, das hatten sie bereits bei ihrem Briefing erfahren, war hochgradig launisch und wild, man vermied die Nutzung von Luftfahrzeugen, soweit es ging, und blieb bei der Fortbewegung lieber nahe an der Erdoberfläche. Die Gleiter, die man hier verwendete, waren stabile und belastbare kleine Maschinen mit überdimensionierten Triebwerken, dennoch war ein Flug darin nicht angenehm.
Es regnete immer noch. Hatte es je aufgehört? Sie verließen die Josepha
und traten ins Freie, alle angetan mit Atemmasken. Die Luft war atembar, aber sie war nicht sauber, jedenfalls nicht so, dass man sie dauerhaft inhalieren sollte. Die Masken filterten Schadstoffe heraus und wärmten das Gesicht. Als der erste nasse Schauer, getrieben durch eine Bö, in Ryks Gesicht klatschte, war er für diesen Schutz sehr dankbar. Der heftige Niederschlag ließ die bereits in den Pfützen und Betonlöchern stehende Flüssigkeit heftig aufspritzen, und das Gefühl des niederprasselnden Regens war auf seinem ansonsten wasserdichten Overall wie ein Stakkato sanfter Schläge zu spüren. Er stand für einen Moment so da, erlebte diesen historischen Moment, seinen Fuß auf eine fremde Welt gesetzt zu haben, und fand, dass er auch gut darauf hätte verzichten können.
Was für eine Dreckswelt!
Sie machten alle wieder kehrt und verzogen sich ins Innere des Schiffes. Das war hier nichts.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis eine Delegation von drei Personen vor der Schleuse der Josepha
stand und Einlass begehrte. Dieser wurde ihnen natürlich sogleich gewährt. Drei Männer waren es, angeführt von demjenigen, der kurz mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte. Er trug jetzt keinen Helm mehr, aber wie seine Begleiter uniformähnliche Kleidung und alle drei hielten sich aufrecht, als hätten sie einen Stock verschluckt. Der Mann hatte ein ausdrucksstarkes, vom Wetter gegerbtes Gesicht und besonders auffällig war die große Fläche wie verbrannt aussehender Haut an seiner Schläfe. Dort, wie Ryk sogleich erkannte, wo die Auri normalerweise ihr Tattoo trugen.
»Ich bin Hoimar«, stellte sich der Sprecher vor und verbeugte sich knapp. »Das hier sind meine Kameraden Jurik und Halberg. Wir sind unbewaffnet. Wir sind Freunde. Wir arbeiten für Eze und für die Revolution.«
»Wir freuen uns über Ihre Hilfe«, erwiderte Rita. »Unbewaffnet sind wir aber nicht.«
Hoimar lächelte. Seine Zähne waren regelmäßig und makellos, wie die aller Auri, und Ryk war sich sicher, dass dieser Mann eine faszinierende Geschichte über sich erzählen könnte, wenn er nur wollte.
»Gut. Das gewährleistet, dass Ihre Besucher höflich bleiben werden.«
»Wir müssen weg von hier«, sagte Rita. »Unsere Landung wurde aus dem Orbit beobachtet und die Behörden der Auri werden …«
»Hier sind wir erst einmal sicher. Die atmosphärischen Störungen sind stark, die haben von da oben gar nichts beobachtet. Wir haben ein Tiefdruckgebiet der siebten Stufe über uns. Dieses Chaos können die Anlagen der Habitate nicht durchdringen. Es gab ja auch bisher nie eine richtige Notwendigkeit.« Hoimar lächelte beruhigend. »Wir sind aber gerade noch rechtzeitig gekommen. Unsere Kontakte beim Hive haben uns gemeldet, dass es Aktivitäten gibt, die außergewöhnlich sind. Wir haben Schlimmes befürchtet. Wir wollten nicht, dass Sie ins offene Messer laufen. Eze hat uns daher gebeten einzugreifen und wir sind seinem Ruf gefolgt.«
»Ich verstehe das nicht hundertprozentig«, sagte Rita. »Ich wusste nicht, dass die Rebellion hier unten Kampfgleiter zur Verfügung hat.«
»Das dachte ich mir. Lassen Sie es mich erklären. Dürfen wir uns setzen? Es war ein anstrengender Flug und ich habe den Tod zweier guter Freunde zu verkraften.« Da lag ein leiser Schmerz in seiner Stimme, als er diese Worte aussprach, und seine Gastgeber waren betroffen. Die enge Messe der Josepha
war gefüllt, nachdem alle einen Platz gefunden hatten, und Hoimar blickte von einem zum anderen, als er sich für einen Moment sammelte, Luft holte und dann sprach. »Sie haben bis auf Weiteres nicht zu befürchten, dass die Auri im Orbit sich um Sie kümmern werden. Der Kampf um Crawlertown zieht sich länger hin als erwartet. Ihre Leute leisten auf eine intelligente Weise Widerstand und es ist die Art der Auri, in ihrer Arroganz keine Intelligenz bei ihren Gegnern zu erwarten. Sie reagieren wie Tölpel und sie werden etwas Zeit benötigen, sich in der unerwarteten Situation zurechtzufinden, dass ihnen jemand organisierten Widerstand entgegenbringt. Sie werden natürlich lernen. Dann sind sie wieder sehr gefährlich. Wir sollten dieses Zeitfenster nutzen.«
»Für einen ehemaligen Auri sind Sie sehr selbstkritisch, Hoimar«, sagte Ryk selbstbewusst.
Der Mann lächelte und das hagere Gesicht mit den tiefen Falten erhellte sich dadurch, als habe jemand einen Lichtschalter umgelegt. Aus dem entschlossenen Piloten wurde schlagartig ein netter Onkel, dem man Scherze und gute Geschichten zutraute, einer, der gerne lachte und andere zum Lachen brachte. Ryk beobachtete diese Verwandlung fasziniert, er hätte niemals gedacht, dass ein und dasselbe Gesicht zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten repräsentieren könnte.
»Erst einmal müssen Sie wissen, junger Mann, dass die Auri hier unten sich in vielen Dingen von denen da oben unterscheiden, selbst jene, die dem Heptarchen treu dienen.« Er zeigte mit einem Finger in Richtung Orbit. »Das macht das anstrengende Leben auf der Planetenoberfläche. Dies ist kein angenehmer Ort und wir haben uns alle freiwillig dazu entschlossen hierzubleiben, obgleich wir jederzeit nach oben reisen dürfen.« Hoimar verzog das Gesicht, diesmal war es jedoch kein Lächeln, eher wieder Ausdruck des Schmerzes. »Das führt durchaus zu gewissen Spannungen. Doch wie es nun einmal ist: Die im Orbit haben immer das letzte Wort, da sie im Zweifelsfall schwere Dinge auf uns fallen lassen können.«
»Auri führen keinen Krieg gegen Auri!«, sagte Michael bestimmt. »Niemals.«
»Das ist korrekt. Weil wir diesen Krieg auf jeden Fall verlieren würden. Also sind wir brav. Damit waren wir den Crawlern bis zum jetzigen Zeitpunkt ja nicht unähnlich. Nur dass wir uns rühmen konnten, Teil der herrschenden Elite zu sein.«
Seine Hand fuhr in einer unbewussten Geste zu der verheilten Wunde an seiner Schläfe. »Nun, ich selbst nicht mehr, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Zeitpunkt. Wie dem auch sei: Dies ist ein Planet, kein Habitat. Die Umgebung formt den Menschen und eine so anspruchsvolle ganz besonders. Das lässt niemanden kalt.«
»Ich verstehe das«, sagte Ryk. »Auri zweiter Klasse, falls man das so sagen kann, ja?«
»Kein schlechter Begriff, junger Mann.«
»Warum haben Sie sich der Rebellion angeschlossen und helfen jetzt, den Heptarchen zu stürzen?«, fragte Ryk. Er wollte sich unbedingt ein Bild davon machen, mit wem er es zu tun hatte und was diese Personen antrieb.
»Ich habe schon vor langer Zeit innerlich mit diesem System gebrochen. Und jetzt? Jetzt sind viele Dinge zusammengekommen. Ich denke, Ihr Auftauchen hat ebenfalls etwas damit zu tun. Es half mir, aus der Passivität in die Aktivität zu wechseln. Ein schwieriger Schritt für einen Mann meines Alters.«
»Wir halfen dabei?«
»Sie haben offenbart, dass der Hive eine sehr große, potenzielle Gefahr darstellt. Sie haben offenbart, dass die Herrschaft der Auri über den Hive nicht absolut ist und er eines Tages nicht mehr der Segen sein könnte, für den er uns verkauft wird. Viele hier unten haben lange den Versprechungen der Heptarchie geglaubt. Die Rebellion hat uns, Stück für Stück, die Augen für die wahren Machtverhältnisse geöffnet.«
Das klang jetzt schon recht revolutionär.
»Und Ihre Ankunft hat das sehr eindringlich unter Beweis gestellt«, fügte Hoimar hinzu.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Rita, die sich offenbar unwohl dabei fühlte, dass ihr die Umstände das Heft aus der Hand genommen hatten.
Hoimar zeigte in die ungefähre Richtung, in der der Hive stand. »Die Abwehrreaktion des Hives. Der Start dieser Flugeinheiten …«
»Wir nennen sie Drachen«, informierte ihn Ryk. Hoimar sah ihn an, als würde ihm jetzt erst richtig bewusst, mit wem er da eigentlich sprach.
»Sie sind die Leute von Terra, nicht wahr? Wir haben von Ihnen gehört. Ja, gut. Die Drachen.«
»Sie wussten nicht von ihrer Existenz«, stellte Uruhard fest.
Hoimar schüttelte den Kopf. »Oh doch, wir kannten sie sehr wohl, zumindest in der Theorie. Es gibt Aufzeichnungen in den Archiven. Ich habe einst in einer Position gearbeitet, die mir gewisse Zugänge ermöglicht hat. Das ist nicht unser Problem. Aber die Auri, die für die Hivekontrolle zuständig sind, haben recht panisch reagiert, als die Drachen aufstiegen. Es ist daher ganz klar …«
»Moment!«, unterbrach Uruhard. »Panisch?«
»Unsere Kontakte haben uns deswegen sofort kontaktiert. Sie waren alle sehr aufgeregt.«
»Das kann nur bedeuten … dass der Hive autonom gehandelt hat! Sie haben den Startbefehl gar nicht gegeben?«
»Das trifft zu.« Hoimar nickte zur Bekräftigung. »Das Heptarchiepersonal hat diese wilde Verteidigungsaktion gar nicht ausgelöst. Die wüssten nicht einmal, wie man das macht. Niemand hat je Drachen losgeschickt. Es war als theoretische Möglichkeit vorhanden, aber ich glaube nicht, dass es jemals passiert ist. Wir alle waren absolut überrascht und das bestärkt uns in unserer Ansicht, dass der Hive gefährlicher ist, als wir alle bisher gedacht haben. Es ist ein Zeichen für einen Kontrollverlust, der auch für mich unerklärlich ist. Etwas ist geschehen und es beunruhigt mich fast ebenso sehr wie die Tatsache, dass die Heptarchie zum Gegenschlag gegen die Rebellion ausholt – auch, wenn Letzteres gewiss zu erwarten war.«
Er sah Rita an. »Wir müssen gemeinsam herausfinden, was dort passiert. Wie groß die Gefahr ist. Ob der Hive wieder zu einer Eigenständigkeit erwacht, die uns allen gefährlich werden kann, Auri und Crawlern. Es gab schon lange einige unter uns Auri, die die Herrschaft über den Hive nicht nur als Segen betrachtet haben. Ich gebe zu: sehr, sehr wenige. Ich gehöre zu jenen, die dafür einen hohen Preis gezahlt haben.« Wieder berührte er die Wunde. Für Ryk wurde jetzt klarer, was Hoimar zugestoßen war und woher er kam. »Doch wir sind bisher nie so weit gekommen, unserem Verdacht, dass da einiges im Argen liegt, nachzugehen. Es ist ironischerweise der Angriff der Crawler und Ihre irrsinnige Aktion, die nun für uns das Tor öffnet.« Er runzelte die Stirn. »Dafür wäre es nicht nötig gewesen, den Heptarchen und all die Familienoberhäupter zu exekutieren. Die Rebellion hier unten ist mit dieser Vorgehensweise nicht ganz einverstanden.«
»Sie haben ekelhafte Rituale durchgeführt. Eine junge Frau musste sterben«, begehrte Ryk auf. Rita legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Es geht um mehr als darum, etwas herauszufinden, das wissen Sie«, sagte sie zu Hoimar. »Es geht auch um Politik, das Verhältnis von Auri und Crawlern zueinander, die Zukunft des ganzen Systems. Der Hive ist ein politisches und ökonomisches Symbol. Wenn wir kooperieren, Hoimar – und ich will nicht undankbar sein, denn Sie haben sich bereits für uns eingesetzt und Opfer gebracht –, dann ist eines klar: Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Eine neue Ordnung muss geschaffen werden, eine Ordnung, die für beide Seiten akzeptabel ist.«
»Das rechtfertigt diese Bluttat?«
»Als Zeichen? Als Abschreckung? Als Vorspiel dafür, der Heptarchie den Hive zu entwinden? Oh ja.«
Hoimar zuckte mit den Schultern.
»Ich spreche nicht für die Auri. Schon lange nicht mehr. Wir sind hier unten immer etwas abgeschnitten gewesen. Die Politik, von der Sie reden, wird da oben gemacht.« Wieder die vielsagende Geste in den Himmel. »Ich kann Ihnen hier unten jede mögliche Hilfe anbieten. Aber wir stehen unter Zeitdruck. Die Auri im Orbit werden irgendwann wieder anfangen, logisch zu denken und taktisch zu planen. Wir müssen jetzt schnell handeln und dafür sorgen, dass wir rasch zum Hive zurückkehren, um zu vollenden, was wir abbrechen mussten.«
»Das tun wir?«, vergewisserte sich Rita.
»Das ist unsere Absicht und unser Angebot. Wenn wir zusammenarbeiten. Zwei von uns, darunter ich, werden Sie direkt begleiten. Sie kommen dann auch ohne Probleme in die Installation am Fuße des Hives, das verspreche ich.«
»Aber …«
Hoimar lächelte. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie wissen, dass die Rebellion schon jemanden, einen Agenten oder Sympathisanten, im Inneren hat. Sie kennen ihn?«
»Sein Name ist mir nicht bekannt«, erwiderte Rita trotzig. »Wir haben ein Kennwort vereinbart und einen Treffpunkt.«
»Das Kennwort ist Sana, der Treffpunkt war an Zugangsschleuse 7.« Einer von Hoimars Begleitern hatte gesprochen, der Mann namens Halberg. Er deutete ein Grinsen an. »Ich bin Ihr Kontakt.«
Die Frau starrte ihn an. Das Kennwort war offenbar korrekt gewesen. »Wie …?«
»Er hat dienstfrei und kann jederzeit wieder hinein. Er wird uns die Tür öffnen, wenn wir uns beeilen«, sagte Hoimar beschwichtigend, dem Ritas plötzliche Verwirrung keinesfalls entgangen war. »Wir können die Gleiter nicht nehmen, das würde zu viel Aufsehen erregen. Wir müssen etwas konventioneller reisen, was aber leider auch länger dauert. Sie sind doch weiterhin entschlossen, die Aktion bis zum Ende durchzuziehen, ja?«
»Was haben Sie erwartet?«, fragte Rita fast schon ätzend. »Dass wir einfach aus Neugierde landen und mal gucken? Es steht mehr auf dem Spiel als unser Leben, viel mehr. Sie haben es doch selbst bereits angedeutet: Das hier ist Politik. Es geht nicht nur um Ihre oder meine Befürchtungen. Es geht um alles. Die Zukunft des Systems. Wie wir alle leben wollen, alle zukünftigen Generationen. Es geht um Macht, Hoimar. Es geht um Macht.«
Der Mann nickte langsam, das Gesicht eine steinerne Maske. »Das war immer unser Problem, nicht wahr?«