23
Tiefer, sehr viel tiefer.
Ryk hatte es nicht glauben wollen, doch genau so war es. Es entsprach dem sinkenden Gefühl in seinem Magen, wenn er an den Satz dachte, den Willie geäußert hatte. Es zu einem Ende bringen. So wie er die Auri kannte, konnte das doch nur das eine bedeuten. Und hier gab es keinen Hive mehr, den man zur Aktion provozieren konnte. Der war weit weg und würde sie alle geflissentlich ignorieren.
Sie hatten sich in einen Aufzug führen lassen wie eine Herde von Schafen. Was blieb ihnen auch anderes übrig?
Sia hatte sich dicht neben ihn gestellt und ihre Hand hatte die seine gefunden, ein stummer Trost. Für ihn. Die Hybride wirkte seltsam gelassen, als habe sie all dies nicht anders erwartet. Sie schien keine Angst zu haben, obgleich Ryk wusste, dass sie zu dieser Emotion durchaus in der Lage war. Er wollte sie fragen, aber dies war nicht die Zeit.
Tatsächlich war auch Uruhard recht ruhig. Er beobachtete, von ewiger Wissbegierde erfüllt. Momo schaute nur hin und wieder fragend in ihre Richtung. Er würde die Köpfe von Wachen aneinanderschlagen, war dies erforderlich und vielversprechend. In diesem Moment war es weder das eine noch das andere. Aber es war beruhigend, dass zumindest die Option bestand, mit wehenden Fahnen unterzugehen, anstatt sich zur Schlachtbank führen zu lassen.
Der Aufzug glitt in die Tiefe. Es gab keine Anzeige, nur einen elektronischen Gong bei jedem Stockwerk, das sie passierten. Hoimar starrte ins Leere. Er musste wohl noch einiges verarbeiten. Willie hingegen schien neue Kraft darin gefunden zu haben, dass er wieder unter Seinesgleichen war. Er flüsterte dem Offizier etwas zu, der lächelte und wissend nickte, nicht ohne Respekt. So ganz in Ungnade war Willie wohl doch nicht gefallen. Hoimar mochte sich abgewandt haben, doch sein ehemaliger Chef verfügte noch über einen guten Draht zu den Herrschenden. Und er war ein ganz ausgezeichneter Schauspieler.
Ryk kam zu dem Schluss, dass er sie die ganze Zeit auf seine Weise manipuliert hatte. Er konnte es nicht beweisen und würde wohl niemals die Gelegenheit dazu bekommen, aber es war eine Einsicht, die sich bei längerem Nachdenken immer mehr verfestigte. Sie hatten Willie unterschätzt. Und Hoimar hatte jemandem vertraut, dem nicht zu trauen war.
Arme Rita
.
Ryk zählte die Etagen mit. Der Lift war nicht schnell, jedenfalls war sein Magen immer noch ungefähr dort, wo er hingehörte, und keinesfalls auf dem Weg seinen Hals hinauf. Er kam nach rund drei Minuten beim zwölften Signalton an. Wie tief hinab in den Kern einer Welt konnte man bauen, ehe flüssiges Magma weiteres Graben unmöglich machte?
»Die Erdkruste dieser Welt«, fragte Uruhard unvermittelt und bewies damit, dass er die gleichen Fragen hatte wie Ryk. »Wie tief geht sie?«
»Rund vierzig Kilometer«, antwortete Willie bereitwillig. »Wir haben einige Probebohrungen bis fünfzehn Kilometer geschafft und den Rest mit Resonatoren erforscht. Im Gegensatz zu der Geschichte, mit der wir Tölpel wie Hoimar abgespeist haben, ist diese tektonische Platte, auf der das Gebäude ruht, bemerkenswert stabil und wird es die nächsten eintausend Jahre auch bleiben. Selbst die Tatsache, dass diese Irren ein Habitat auf die Welt geworfen haben, ändert nichts daran.«
Er warf einen Blick auf Rita, seine Enkeltochter, und diese sah bedrückt zu Boden. Sie hatte seit dem kurzen Kontakt mit Crawlertown nicht mehr mit den Selbstvorwürfen aufgehört und daher fand sie keine Kraft, sich gegen die ätzenden Bemerkungen ihres Großvaters zu wehren. Eben noch der leidende Vater, der seine sterbende Tochter sprechen wollte, hatte er jetzt auf seine übliche gehässige Art wieder Oberwasser. Kind eines solchen Mannes zu sein musste eine Qual gewesen sein. Und die Geschichte wiederholte sich, wie in vielen Familien. Die Situation, der Ritas Mutter einst offenbar entflohen war, war eine, in der sich die Enkeltochter jetzt wiederfand. Im Endeffekt, so befürchtete Ryk, ging man im Leben immer nur im Kreis.
Oder es ging abwärts. Wie jetzt.
Der Gong ertönte zum achtzehnten Mal, als die Kabine zum Stillstand kam und sich die Tür öffnete.
»Wir sind da!«, sagte Willie unnötigerweise, aber mit Vorfreude und Stolz. Er war nun bereit für die große Präsentation und es musste sein Lebenswerk sein, sonst hätte er dafür nicht bereitwillig seine Enkeltochter geopfert – und natürlich deswegen, weil er ein emotional verkümmertes Arschloch war, aber das war für Ryk mittlerweile gar nicht mehr erwähnenswert.
Sie traten in eine Art Galerie, die einen Blick hinab in eine Halle ermöglichte. Was Ryk hier sah, stand in einem so starken Kontrast zum Verfall weiter oben, dass er sich für einen Moment fast orientierungslos fühlte. Allein die technische Meisterleistung, so ein Gewölbe so tief in die Erde geschnitten zu haben, war schon beeindruckend. Hier unten wurde aber auch eine Hochtechnologie betrieben, wozu auch immer, und verlassen war diese Anlage ganz und gar nicht.
Die Wände waren gewiss dreißig Meter hoch und die viereckige Halle mochte mehr als dreihundert Meter lang sein. Klaustrophobie trat hier nicht auf. Ein frischer Windzug spielte mit Sias Haaren, die Ventilation arbeitete einwandfrei. In der Halle selbst herrschte rege Geschäftigkeit. Etwas wurde produziert, daran bestand kein Zweifel. Maschinen waren aneinandergereiht, alle sahen in etwa gleich aus, und der Produktionsprozess war größtenteils automatisiert. Personal in weißen Overalls und mit transparenten Kapuzen über den Köpfen wanderte, mit Computerpads bewaffnet, zwischen den Reihen auf und ab, machte sich Notizen, beobachtete und prüfte, griff aber selbst offenbar in keinen der Abläufe ein. Die Anlage machte keinen besonderen Lärm, es war eher ein betriebsames Summen, das sich in kleinen, an- und abschwellenden Nuancen verlor und die Halle ausfüllte.
Willie stellte sich an die Balustrade und schaute hinab. Er nickte zufrieden. »Wie ich sehe, ist alles beim Alten.«
»Ihr Erbe wird sorgsam verwaltet«, meinte der Offizier.
»Das ist ausgesprochen zufriedenstellend, mein Bester.« Willie wandte sich an seine Gefangenen: »Alle gehörig beeindruckt, ja? Und zu Recht, darf ich sagen. Und zu Recht.«
»Was ist das?«, fragte Hoimar fassungslos. Wenn man jahrelang hinters Licht geführt worden war und jetzt das wahre Ausmaß dessen begriff, was man niemals erfahren hatte, musste das einen ganz ordentlich mitnehmen. Willie lächelte selbstgefällig. Er wirkte belebt, wie ein Fisch im Wasser, ganz in seinem Element.
»Wie ich schon sagte: alles beim Alten. Hättest du dich damals mit deinen beständigen Warnungen vor dem bösen Hive nicht selbst aus der Gunst unserer Gesellschaft katapultiert, wärest du gewiss irgendwann hierher befördert worden. Kommt, wir gehen hinunter und schauen es uns an. Ehe Solos da ist und euer Schicksal besiegelt – zumindest das der meisten von euch –, sollten wir eure Fragen beantworten und euch erkennen lassen, was für Narren ihr seid.« Willie sagte es ohne Inbrunst, mehr wie eine technische Ankündigung. Ryk fand das weitaus beunruhigender als lautes Gelächter mit Echoeffekt, es hatte etwas Bürokratisch-Endgültiges an sich. Es wirkte dadurch sehr endgültig.
Sie wurden weiter über die Galerie geführt, die sich als eine Rampe herausstellte, die an den Wänden entlang sanft nach unten führte. Von ihr gingen Türen und Gänge ab, es war aber kaum jemand zu sehen, der diese auch nutzte. So hatten sie genug Gelegenheit, die Produktionsanlagen eingehend zu betrachten, denen sie langsam näher kamen. Das Personal warf nur gelegentlich einen Blick nach oben, entweder waren diese Leute sehr abgehärtet, was überraschenden Besuch anging, oder ihre Arbeit so wichtig, dass jede Ablenkung unentschuldbar war.
»Ehrwürdiger, ich bekomme Nachricht von der Oberfläche«, sagte der Offizier, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. »Der ehrwürdige Solos ist eben mit einem Gleiter eingetroffen. Er nimmt den Expresslift.«
»So schnell schon? Nun, dann läuft die Zeit eher ab als erwartet. Sei’s drum.« Willie winkte mit einer Hand. »Solos ist erzürnt. Ich sollte ihm nicht im Weg stehen.«
Sie schlenderten weiter. Willie schwieg und sah nur hin und wieder Rita an. Was würde er ihrer Mutter, seiner Tochter, eigentlich erzählen, wenn er tatsächlich Kontakt mit ihr aufnehmen sollte – vor allem darüber, wie Solos »es« mit seiner Billigung »zu einem Ende« gebracht hatte? Ryk war sich sicher, dass dem alten Mann etwas einfallen würde. Lügen fielen ihm offensichtlich leicht.
Als sie unten ankamen, wurden sie erwartet. Der Expresslift hatte seinem Namen alle Ehre gemacht: Solos starrte ihnen entgegen und ihm fehlte die Gelassenheit, die Jovialität und die Arroganz von Willie. Er rang mühsam um Selbstbeherrschung und schaute Rita und die anderen Rebellen mit flammenden Augen an, offenbar bereit, seine Hände um ihren Hals zu legen und zuzudrücken. Seine nur schwer beherrschbare Wut strömte aus jeder Pore seines angespannten Körpers. Allein Willie begrüßte er mit einem Hauch von Respekt, erkannte ihn als Verbündeten und Freund, der ihm einen großen Gefallen getan hatte.
»Ehrwürdiger Solos!«, sagte der Alte. »Ich darf Ihnen …«
»Jetzt nicht!«, schnitt Solos ihm das Wort ab und wandte sich den Gefangenen zu. Er musste etwas loswerden. »Was haben Sie getan?«, fragte er mit erstickter Stimme. Das Gesicht wirkte eingefallen, obgleich er Make-up aufgetragen hatte, das an den Augenrändern verwischt aussah.
Er richtete seine Frage an Rita. Die schwankte zwischen Demut und Widerstand. Solos war, Katastrophe hin oder her, für sie der Inbegriff eines Systems, das es zu zerstören galt.
Ryk hatte noch vor Augen, wie Tama starb, mit einem zufrieden lächelnden Solos daneben. Er würde alles durch diesen speziellen Filter betrachten, und das noch für eine lange Zeit. Er war hier auf Ritas Seite, ganz ohne Zweifel.
»Es war Eze.«
»Eze existiert?«, fragte Solos. »Wir dachten, er sei wenig mehr als ein Mythos.«
»Das war in unserem Sinne«, erwiderte sie. »Leider war er auch mehr oder anders, als wir es uns vorgestellt haben. Er war es. Er muss es gewesen sein. Es gibt keine andere Erklärung.«
Solos wollte mit ihr nicht argumentieren wie Michael, er wollte einen Schuldigen, möglichst einen, dem er den Hals umdrehen konnte.
»Er hat mir nichts davon erzählt. Ich wurde benutzt. Ich billige es nicht«, fügte sie hinzu.
Sie sagte es leise, aber mit einem bestimmten Unterton, ein Kompromiss aus den beiden widerstreitenden Gefühlen.
Solos hörte es, reagierte aber nicht sofort. Er schien nicht glauben zu wollen, was sie da sagte, und warf einen fragenden Blick auf Willie, der hier die Autorität für die Beurteilung ihres Leumunds zu sein schien.
»Ich denke, dass sie die Wahrheit sagt«, urteilte Willie. »Sie ist nicht die Schlauste, wie ihre Mutter.«
»Mutter?«
»Ariane. Sie wissen …«
Solos lachte freudlos auf. »Das ist Arianes Tochter? Im Ernst? Die dir davongerannt ist, so richtig spektakulär? Willie, du hast eine verkorkste Familie.«
Der Greis nickte. Der Vorwurf traf ihn nicht besonders, er war ja im Grunde der gleichen Meinung, wie sie alle erfahren hatten. »Ariane stirbt. Und ich denke, auch für Rita hier müssen wir eine … Endlösung finden. Damit ist das Kapitel für mich abgeschlossen, denke ich mal.«
»Gut. Hat sich lange genug hingezogen.«
»Großvater!«, stieß die Frau aus, halb entsetzt, vielleicht ein wenig flehentlich, doch das Wort glitt an Willie ab wie ein Regentropfen an einer Fensterscheibe. Er sah sie emotionslos an.
»Du hast es so gewollt. Ich habe dir die Wahl gelassen. Du bist doch ein großes Mädchen.«
Willie nickte Solos zu. »Zeigen wir es ihnen. Ich möchte ihre Gesichter sehen. Dann mögen es Schuldige sein oder nicht, mir ist es egal.«
»Sie sind Rebellen. Sie müssen sterben, so oder so. Eze oder nicht, sie haben den Heptarchen auf dem Gewissen, und viele andere. Sie sterben.«
Solos war nicht erbaut. Ryk sah ihm an, dass er ganz andere Vorstellungen über die weitere Verfahrensweise hatte, aber Willie besaß eine Autorität, die für die Terraner nur schwer nachzuvollziehen war. Obgleich Solos offenbar zur absoluten Elite der Auri gehörte, beugte er sich dem Willen des alten Mannes. Er würde seine Gelegenheit bekommen, da war sich Ryk sicher, und vor diesem Moment graute es ihm.
Zählten die Terraner zu den Verrätern? Das wäre doch sehr unfair.
»Hier, schauen Sie es sich an.« Sein Schritt beinahe beschwingt, soweit das körperlich überhaupt möglich war, führte Willie sie an. Er blieb vor einer der Maschinen stehen, drückte einen Knopf und sie stellte ihre Tätigkeit ein. Er öffnete eine Verschalung und sie konnten einen Blick ins Innere werfen. Neugierde und Interesse waren bei allen stark und egal was noch passieren würde, sie schauten hinein.
Eine Art dünnes Laufband lief durch die Maschine und neben elektronischen Bauteilen waren auch Flüssigkeiten erkennbar. Es gab keine beweglichen Teile, keine alles zusammensetzenden Roboterhände, nur ein in sich geschlossenes System, in das etwas hineingeführt wurde und aus dem etwas heraustrat. Das Förderband verschwand im Boden, das fertige Produkt wurde noch tiefer in das Gewölbe transportiert. Es sah eher verwirrend denn erhellend aus, selbst Sia, die von ihnen über das beste technische Verständnis verfügte, konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie sah Ryk nur achselzuckend an, als dieser sie fragend anstupste.
»Was soll das sein?«, fragte er also.
»Hivetechnologie«, sagte Willie, als wäre damit alles erklärt. »Und dies ist das Produkt. Sie kennen es bestimmt.«
Er ging einige Schritte weiter, dorthin, wo das kleine Laufband in die Tiefe glitt, griff in die Maschine hinein, und holte einen winzigen Gegenstand hervor. Er schimmerte metallisch, irisierend je nach Lichteinfall, einem Edelstein gleich, der funkelte und blitzte, als Willie ihn in seiner Hand hin- und herbewegte. Ryk hatte so etwas schon gesehen. Eigentlich sogar sehr oft.
»Verdammt«, murmelte Sia. »Die Tattoos. Die auf der Schläfe. Egal wie sie aussehen …«
»Das ist der Kern des Ganzen«, vervollständigte Uruhard den Satz. »Und ich gehe mal davon aus, dass es sich nicht um Schmuck handelt. Und es ist gewiss auch mehr als das Erkennungszeichen der Auri, nehme ich an.«
Hoimar schwieg. Nur seine Hand machte wieder die charakteristische Bewegung zu der Stelle, an der einst sein Exemplar geruht hatte.
»Ein kluger Mann«, lobte Willie und drehte das Kleinod noch einmal um sich selbst, ehe er es wieder in die Maschine steckte. »Keine Sorge, alles wird sofort desinfiziert. Wir achten hier auf Keimfreiheit innerhalb des Produktionsprozesses. Höchste Qualitätsstandards, wie es sich für eine professionelle Operation gehört.«
Er sah Hoimar an. »Du hast die Verbindung zum Ganzen verloren, Wig. Selbst schuld.«
»Es ist keine Strafe.«
»Du lügst dich selbst an. Mich anzulügen macht ja nichts. Aber dich selbst? Nein, das sollte man nicht tun.«
Hoimar rieb sich die Haut und dachte möglicherweise darüber nach, ob die fehlende Würde tatsächlich ein Nachteil war.
»Nun …?«, fragte Willie, wandte sich erneut der Gruppe zu und sah aus wie ein Lehrer, der von seinen Schülern eine Antwort erwartete oder zumindest eine Schlussfolgerung, eine eigenständige intellektuelle Leistung. Ryk konnte damit nicht dienen, Uruhard wirkte ebenso verwirrt, Momo schaute gar nicht richtig hin – Sia aber war in ihrem Element. Sie machte ein schnalzendes Heureka mit ihrer Zunge, den Blick fest auf die Maschine geheftet, und dann verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck. Zu welchem Schluss auch immer sie gerade gekommen war, er gefiel ihr nicht.
Willie jedenfalls wurde enttäuscht. Seine Klasse wollte seine Spielchen nicht mitmachen. Er verzog unwillig den Mund und für einen Moment befürchtete Ryk, er müsse dumm sterben. Aber Willie wollte es ihnen erzählen, allein schon um zu beweisen, dass er recht hatte.
Er zeigte auf seine Schläfe. Das Tattoo dort war verblasst und faltig, aber der winzige, glitzernde Stein war zu erkennen.
»Kein Schmuckstück«, sagte er lächelnd. »Nein, das ist nicht ganz richtig. Es schmückt ja durchaus und es zu tragen ist sehr ehrenvoll. Aber es erfüllt eine konkrete Funktion. Es verbindet die Auri miteinander, auf einer metaphysischen und einer sehr konkreten Ebene. Profan gesagt: Es ist ein Kontrollimplantat.«
»Was kontrolliert es?«, fragte Ryk.
»Nicht was. Wen.«
Willie sah triumphierend in die Runde. Er erntete verständnislose Blicke. Allein Hoimar schien jetzt etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren. Er presste die Lippen aufeinander.
»Wen also?«, fragte Uruhard.
»Uns.«
Willie breitete die Arme aus. Er zeigte auf sich, dann auf Solos, dann auf die anwesenden Soldaten, das Personal in den weißen Overalls, alles Auri mit Tattoo und dem kleinen, glitzernden Stein.
»Uns!«, wiederholte Willie und es klang wie ein Ruf der Befreiung. Er lachte sogar. »Ist das nicht eine wunderschöne, eine befreiende Neuigkeit? Jetzt ergibt alles Sinn, oder? Uns!«
»Gar nichts ergibt Sinn«, sagte Ryk. »Dass die Auri sich selbst kontrollieren, ist ja nun keine weltbewegende Neuigkeit, alter Mann.« Er wurde langsam ungehalten, auch ungeduldig, aber vor allem hatte er die Nase voll von diesen ständigen Manierismen. Gab es hier niemanden, der einem ganz klar und offen sagte, was zu sagen war, um danach zur Exekution zu schreiten? Er wollte endlich wissen, woran er war. Bei Willie hatte er den absolut gegenteiligen Eindruck, nicht zuletzt weil dieser seine eigene Ambiguität viel zu sehr genoss. Manche würden das für Komplexität halten, Ryk aber kam langsam zu dem Schluss, dass der Mann einfach nur senil war.
»Die Auri …« Willie schüttelte den Kopf. »Nicht die Auri! Der Hive! Der große, der göttliche Hive!«
Willie lachte ein weiteres Mal auf. Es klang krächzend und er warf den Kopf so ruckhaft nach hinten, dass man die Befürchtung haben musste, er würde gleich abbrechen. »Der Hive, ihr Idioten! Der Hive kontrolliert die Auri! Wir haben ihn nie
besiegt! In dem Moment, wo wir über die biochemischen Kontrollmechanismen mit ihm Kontakt aufgenommen hatten, um ihn zu beeinflussen, hat der Hive etwas getan, womit unsere Vorfahren nicht gerechnet hatten.«
»Was?«, fragten Rita und die Zwillinge unisono. Sie waren alle gleichermaßen blass geworden. Hoimar und Halberg, der die ganze Zeit nur geschwiegen hatte, vergruben die Gesichter in den Händen, als wollten sie es nicht hören.
»Der Hive hat reagiert und Kontakt mit uns aufgenommen! Und er gab uns ein Geschenk. Eine wunderbare, gnadenvolle Gabe! Als Kontrollmechanismen für die Produktion. Aber dann, irgendwann, wurde uns klar, dass sich das Verhältnis eigentlich umgekehrt entwickelt hatte.« Willie lachte erneut und berührte das Implantat in seiner Schläfe. »Der Hive kontrolliert uns. Wir sind die Seinen. Und wir fahren verdammt noch mal nicht schlecht damit!«
»Er redet mit Ihnen?«, fragte Sia, ewig praktisch und zielorientiert. Ryk empfand das in dieser Situation als ungemein beruhigend.
»Er redet mit niemandem. Er kontrolliert Hirnanhangdrüse, Zirbeldrüse, Schilddrüse, Nebenniere und Bauchspeicheldrüse bei jedem von uns. Er schaltet den hormonellen Haushalt ein oder aus, regelt ihn, wie es ihm beliebt. Das ist seine Art der Kommunikation. Ob Sie es glauben oder nicht, das genügt völlig, um ausreichende Kontrolle auszuüben. Wir …« Erneut die sinnlose Geste mit den ausgebreiteten Armen. »Wir sind nicht mehr als glorifizierte Großmäuler.«
»Du bist wahnsinnig«, sagte Rita leise.
»Ist er nicht«, murmelte Hoimar. »Er redet für den Hive, wie alle Auri, die nicht …«
»Die nicht so krank sind, dass die hormonelle Beeinflussung nicht richtig funktioniert und man daher auf abwegige eigene Gedanken kommt. Wie meine Tochter. Wie du, alter Wig. Kannst ja nichts dafür. Bist halt so.« Willie zuckte mit den Achseln.
»Für mich ist das Wahnsinn«, sagte Rita erschüttert.
»Ich bin nichts dergleichen«, erwiderte ihr Großvater. »Ich bin ein treuer Diener des Hives, seitdem mir in jungen Jahren, als ich den richtigen Status erreicht hatte, dieses Implantat gegeben wurde. Siehst du nicht die Eleganz in diesem System? Der soziale Aufstieg, die gesellschaftliche Anerkennung, sie führt direkt in die Arme des Hives, und so hat er sich eine Herrscherschicht erschaffen, die er indirekt kontrolliert. Der Sieg des Hives wurde vollendet und wir schenkten ihm eine Möglichkeit, seine Macht noch unumschränkter auszuüben und sich gleichzeitig der menschlichen Schaffenskraft und Kreativität zu bedienen. Denn er will sich weiterentwickeln.« Er sah die Terraner an. »Er will nicht bleiben, wie er ist. Er experimentiert. Und wir sind Teil dieses wunderbaren Experiments. Diese ganze Anlage. Die Auri. Die Crawler, ob sie es wollen oder nicht, alle, alle, alle. Und jetzt sogar unsere neuen terranischen Freunde. Wunderbar
. Ganz, ganz wunderbar.«
»Was ist daran so toll?«, fragte Sia. »Ich erkenne das nicht.«
»Natürlich nicht. Natürlich nicht.«
Willie ließ die Arme fallen. Er machte einen Schritt auf Sia zu. Sein Gesichtsausdruck hatte plötzlich etwas Liebevolles, beinahe Zärtliches, und Ryk empfand bei diesem Anblick einen spontanen Ekel. Er wollte Sia etwas zurückziehen, doch sie entwand sich seinem Griff und starrte Willie unbewegt in die Augen, das Kinn etwas nach vorne geschoben, die Körperhaltung angespannt. Sie war keine, die einfach zurückwich.
»Ich will es Ihnen gerne erklären, hübsches Kind, obwohl ich gerade von Ihnen etwas mehr Einsicht erwartet hätte. Sie tragen so viel Technik in sich, dass aus Ihrem Lebensstil ein vollständiger Kontroll- und Optimierungsdrang spricht, eine Art der Existenz, die von der des Hives nicht so weit entfernt ist, wie Sie es gerne hätten. Also gut, in einfachen Worten, denn nicht alle von Ihnen sind übermäßig intelligent. Lassen Sie mich ein Sinnbild benutzen. Das macht es auch weniger Verständigen leichter, die Wahrheit zu erkennen.« Er grinste, erfreut darüber, dass die weniger Verständigen seine Beleidigung durchaus verstanden hatten.
Ryk entspannte seine Hände. Fäuste halfen ihm jetzt nicht.
Willie breitete die Arme jetzt wieder aus und warf sich in Positur.
»Für den, der sich in gefährliche Gewässer begibt, ist es wichtig zu wissen, was ihn erwartet. Das hätten Sie doch auch sicher sehr gerne so gehabt, bevor Sie aufgebrochen sind. Ich weiß nicht, wie lebendig dieser Mythos auf Terra noch ist, aber es gibt da einen Mann namens Odysseus, der wusste das auch. Andere hatten ihn vor den Sirenen gewarnt, die er auf seiner Heimfahrt von Troja treffen würde. Die Hintergründe sind nicht so wichtig, nur so viel: Diese Fabelwesen saßen auf Klippen in der See und lockten mit ihrem unwiderstehlichen Gesang die Schiffe so nah an die Klippen, dass sie dort zerschellten. Eine Geschichte nur, aber sie hat eine tiefere Bedeutung. Was tat dieser Mann aus ferner Vergangenheit also? Odysseus ließ sich an den Schiffsmast binden und verstopfte die Ohren seiner Matrosen mit Wachs. Diese bewusste Entscheidung, sich selbst zu kontrollieren, ließ ihn die Reise gut überstehen. Er navigierte an den Klippen vorbei – auch wenn er vor Verlangen fast verging. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist neben der Intelligenz – so begrenzt sie bei manchen auch sein mag – die einzige Persönlichkeitseigenschaft, die Menschen in allen Bereichen des Lebens sicher auf Kurs hält. Wir alle wissen das. Wir leben es, ob nun bewusst oder auch nicht. Wer seine Gedanken, Gefühle und Impulse gut kontrollieren kann, lebt nicht nur in besserer Gesundheit, sondern lernt und arbeitet auch erfolgreicher, lebt eher in guten und stabilen Beziehungen, wird seltener kriminell oder drogenabhängig und lebt sogar länger als andere. Und obgleich wir alle danach streben, scheitern auch viele daran. Denn Selbstkontrolle ist keine unbegrenzte Ressource. Sie erschöpft sich. Wer viele Impulse nacheinander kontrollieren muss, handelt am Ende umso impulsiver.«
Willie tippte sich wieder mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Seine Worte waren eindringlich gewesen, kamen in schneller Abfolge, intensiv, mit dem Ziel, zu überzeugen und nicht nur zu überreden. Es war, als würde ein Missionar von seinem Glaubensbekenntnis reden. Das Feuer, das den ausgemergelten Greisenkörper dabei durchflutete, war die Energie eines ungleich jüngeren Mannes.
»Der Hive hat uns diese Sorge genommen!«, war das Crescendo des alten Mannes und es klang wie die beinahe schon orgiastische Lösung aller Menschheitsprobleme. Er sagte es mit großer Überzeugung und … Dankbarkeit. Der Greis war aufrichtig dankbar dafür. Er fand es tatsächlich wunderbar
, das war nicht einfach nur ein Wort oder Propaganda. Ryk verstand die Welt nicht mehr.
»Der Hive kontrolliert unsere Impulse. Alles, was in unserem Sein von biochemischen Abläufen gesteuert wird, hat er weitgehend übernommen. Er denkt nicht für uns, aber er fühlt
für uns. Er spricht nicht für uns, aber er stößt uns an, lenkt unsere Gefühle, reagiert auf Fakten und zeigt uns damit behutsam, ja fürsorglich, den Weg, den wir zu gehen haben. Einen Weg, auf dem wir nicht mehr die Sklaven unserer Emotionen und Impulse sind, sondern stattdessen jene empfinden und ausleben, die der Hive in seiner größeren, übergeordneten Weisheit für uns ausgesucht hat. Eine Weisheit, die wir in ihrer umfassenden, instinktiven Einsicht niemals richtig begreifen werden. Der Hive fühlt auf eine intelligente Art und Weise und wir fühlen mit ihm. Er verschwendet seine Zeit nicht damit, Probleme totzudenken. Er fühlt sie einfach weg
. Einfach so.« Willie versuchte mehrmals, mit dem Finger zu schnippen, aber seiner Hand fehlte die Kraft und so stand die schwache Geste in starkem Kontrast zum Elan seiner Worte. »War ich traurig, als meine missratene und kranke Tochter sich davonstahl? Nur einen kurzen Moment. Der Hive erkannte meine Trauer und nahm sie weg. War ich wütend, als ich erkannte, dass mein alter Weggefährte Wig, gebeutelt vom gleichen Schicksal, sich auf Abwege begab? Nur einen kurzen Moment. Der Hive erkannte meine Wut und nahm sie weg. Und dort, wo ich die Wut brauche – wo wir sie brauchen! –, da gibt er sie mir, um sie zu benutzen.«
»So ist es«, sagte Solos, der Wut zeigte und sie nicht nur willkommen hieß, genoss und ihr frönte, sondern der sie auch als Geschenk vom Hive bekam, wie Ryk nun endlich begriff.
»Ich verstehe. Das ist wirklich sehr, sehr faszinierend«, kommentierte Sia leise und machte einen Schritt nach vorne, auf Willie, vor allem aber auf die Produktionsanlage zu. Sie war nicht schockiert wie Ryk, jedenfalls sah sie nicht so aus. Es war dieser Moment, in dem er begriff, wie groß bei aller Nähe die Kluft zwischen ihm und ihr manchmal war. In ihren Augen glitzerte ein plötzliches Interesse, eine beinahe schon fiebrige Begeisterung für eine Technologie, die einer Hybriden, den Missbrauch einmal außer Acht gelassen, wie eine Verheißung erscheinen musste. Ryk hielt sie nicht zurück. Sein Grundvertrauen in diese Frau war sehr groß, sie war eine, die keinen Hive benötigte, um ihre Impulse unter Kontrolle zu halten. »Der Hive lässt Ihnen Emotionen, wo sie ihn nicht stören. Wo er sie aber nutzt, um die Geschicke aller zu lenken, manipuliert er sie.«
»Manipuliert!«, äffte Willie nach. »Welch kleingeistige Vorstellung! Welch eingeschränkte Sichtweise, geboren gleichermaßen aus Unverständnis wie Ambitionslosigkeit! Geboren aus der Sucht nach falscher Individualität, der Illusion der Autonomie. Ah, Sie enttäuschen mich, junge Frau. Sie enttäuschen mich sogar sehr! Keine Manipulation! Es ist eine anregende Führung und es ist eine entspannende Sicherheit. Es ist der warme Hauch mütterlicher Sorge und die strenge Hand des Vaters.«
Sia schüttelte den Kopf. Rita rollte mit den Augen. Willies Stereotypen waren nicht geeignet, in ihnen größere Begeisterung für das Kontrollsystem zu wecken, von dem er so schwärmte. Aber der Greis ging in seiner Beschreibung sichtlich auf. Er war nicht nur von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt, er wollte auch, dass die Realität so war und nicht anders. Würde man ihn mit der Alternative völliger individueller Autonomie konfrontieren, ob es diese nun jemals geben konnte oder nicht, könnte er derlei nur erschrocken ablehnen. Das war zumindest Ryks Eindruck.
»Und der Hive redet nicht?«, hakte Uruhard nach. »Es gibt keine richtige Kommunikation, man kann ihm keine Fragen stellen und entsprechende Antworten erwarten?«
»Der Hive kann nicht reden. Er fühlt uns.« Es klang fast schon weihevoll. »Und warum sollte er unsere Fragen beantworten? Er ist die Antwort. Wir sind in seiner Güte aufgehoben und wir tun sein Werk. Es gibt keine Fragen. Es gibt sie einfach nicht.«
Ryk wurde das jetzt zu esoterisch. Er schaltete gedanklich ab.
»Und alles, was Sie erschaffen haben – die Heptarchie, die Nutzung des Flottendepots …«, begann Uruhard.
»Die Auslöschung der KIs, die Vernichtung überlichtschneller Raumschiffe, die optimierte Ressourcennutzung … ja, all dies entspringt allein der Anleitung durch unseren großzügigen, fürsorglichen und alles erfühlenden Herrn. Welch Weisheit! Unbegreiflich, nicht wahr?«
»Der in seiner Fürsorge trotzdem die Großmäuler auf seine eigenen Leute gehetzt hat«, warf Michael ein, der ebenso wenig wie Martin in Gefahr war, von der etwas schrägen Utopie Willies angesteckt zu werden. Er verzog seinen Mund zu einem Ausdruck der Verachtung.
Willie lachte. »Sie verstehen es nicht. Der Hive denkt nicht wie wir. Er ist nicht bewusst intelligent, er ist in seinen instinktiven Reaktionen nur um ein Vielfaches komplexer als wir. Es gab eine physische Bedrohung. Der Hive reagiert auf physische Bedrohung. Wir sind nicht wichtig
. Wir sind nur nützlich
.«
Und der Greis hatte damit absolut kein Problem, wie es schien. Es war, um seine Worte zu benutzen, auch in diesem Falle schlicht und einfach alles wunderbar.
Ryk fand es eher zum Kotzen, aber was wusste er schon?
Da standen sie nun, im Halbkreis, und schauten sich an. Keiner wusste so genau, was er mit dieser Enthüllung anfangen sollte. Die Gefolgsleute der Auri, mit oder ohne Implantat, hatten mit dem Status quo kein Problem, er diente ihnen. Auch die, deren Hormone ihre eigenen waren, lebten ja ganz gut davon. Die Rebellen standen vor einer ganz anderen Herausforderung, wollten sie tatsächlich das System ändern, unter dem sie litten – eine Herausforderung, an der sie aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern würden. Es ging nicht mehr um eine innergesellschaftliche Angelegenheit. Die wahren Machtverhältnisse hatten den eigentlichen Feind enttarnt. Selbst wenn man ihm ein Habitat auf den Kopf warf, würde das nicht viel helfen. Diese Aussicht stand Rita und den Ihren nun ins Gesicht geschrieben. Es war eine Sache, eine Kaste elitärer Arschlöcher zu stürzen und das Banner der Revolution auf dem höchsten Gebäude von Pax zu pflanzen – es war etwas völlig anderes, den Hive zu bekämpfen. Daran war die Union zugrunde gegangen, so viel Geschichtsbewusstsein hatten auch die Crawler.
Und die Terraner?
Die fühlten sich jetzt furchtbar fehl am Platz. Sie standen zwischen allen Fronten, in der Gewalt zweier Auri, deren Individualität durch die fürsorgliche Emotionssteuerung des Hives zu Tode gekuschelt worden war. Solos lächelte, als er die Gesichter der Rebellen musterte, und nickte selbstzufrieden. Das war jetzt ein Gefühl, das aus ihm selbst kam, das wollte Ryk zumindest annehmen. Er war kein Experte für Hive-Angelegenheiten, aber er war sich recht sicher, dass die Aliens kein Konzept für »Selbstzufriedenheit« kannten. Sie waren siegreich, weil sie es zu sein hatten, es war eine unabdingbare Voraussetzung für Überleben und Expansion. Solos aber konnte sich dieses Gefühl leisten. Und er tat es mit sichtlicher Hingabe. Er klatschte sogar irgendwann erfreut in die Hände. Sein Zorn war verflogen, er erfüllte jetzt keine Funktion mehr und er durfte für einen Moment das Arschloch sein, das er wirklich war oder das der Hive aus ihm gemacht hatte. Die Grenzen verschwammen da wohl etwas.
»Was geschieht nun mit uns?«, fragte Hoimar tonlos. Er war einst Teil dieser Maschinerie gewesen, auch wenn die letzte Erkenntnis ihm bis heute verborgen geblieben war. Er musste sich immer gefragt haben, was mit ihm nicht in Ordnung war. Die Antwort befreite ihn von persönlicher Verantwortung, aber erleichtert wirkte der Mann gewiss nicht. Ryk empfand Mitleid für ihn.
»Ich werde euch so schnell wie möglich nach Pax bringen«, kündigte Solos an. »Es wird einen Schauprozess geben, für die Massen, denn nach dem Absturz von Golden City bedarf es zahlreicher Schuldiger, und in diesem Fall ist es glücklicherweise so, dass ihr sogar schuldig seid. Eine ganz große Show, live übertragen, direkt im Vorabendprogramm, vor der erneuten Zeremonie, mit der wir nachholen, was ihr durch euren Anschlag gestört habt. Das Urteil steht natürlich bereits fest. Öffentliche Exekution. Es wird ein sehr festlicher Anlass. Ihr dürft euch darauf freuen.« Er rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Dann werden wir aufrüsten. Die Produktionsanlagen arbeiten bereits auf Hochtouren. Kampfschiffe, automatische Raketensatelliten, Angriffsdrohnen. Eine Armada, wie sie die Heptarchie noch nie gesehen hat. Gesteuert von Patrioten, die wissen, was sie ihrem Heptarchen schuldig sind. Crawlertown wird ausradiert. Die Crawler haben ihre Schuldigkeit getan, jetzt sind sie lästig und gefährlich. Das wird enden. Auf eine klare und nachhaltige Art und Weise.« Solos fuhr sich lächelnd mit dem ausgestreckten Zeigefinger über den Hals, um ja keine weiteren Zweifel über seine Absichten aufkommen zu lassen.
Willie hatte bei alledem beifällig genickt. Er hatte ganz offensichtlich keine Einwände. Seine Tochter würde diesen Angriff gewiss nicht überleben, aber der Hive würde ihn glücklich machen. Was konnte man mehr wollen?
Solos wandte sich an Sia, was einigermaßen zeigte, wo er bei den Terranern die Autorität vermutete. »Was euch angeht … Ihr habt euch gleichermaßen schuldig gemacht. Ihr werdet ebenfalls die Konsequenzen eurer dummen Entscheidungen tragen müssen.«
»Eine gewagte Behauptung«, mischte sich Uruhard ein. »In einem richtigen Prozess …«
»Es gibt keine richtigen Prozesse, seit die Union untergegangen ist«, unterbrach Solos kalt. »Es gibt sie nicht auf Terra und es gibt sie nicht in der Heptarchie. Wir Auri entscheiden, was richtig und was falsch ist, und der Hive lenkt uns. Wenn ich sage, dass ihr gleichermaßen schuldig seid, wer sollte mir da widersprechen? Ihr werdet …«
»Moment«, sagte Willie und hob eine Hand. »So einfach sollten wir es uns nicht machen.«
Streit? Ryk runzelte die Stirn. Die Kontrolle durch den Hive funktionierte, so verstand er, in der Breite, im Kollektiv, aber Abweichungen bei Individuen kamen vor, waren möglicherweise unausweichlich. Wenn der Hive in der Tat nicht bewusst intelligent handelte, war dies verständlich. Möglicherweise war das ihre Chance.
Solos drehte sich um, das Gesicht in Ärger verzerrt. Von dort hatte er gewiss keinen Widerstand oder auch nur leise Kritik erwartet. Doch Willie, derangiert, zynisch, wankelmütig und steinalt, war eine Gestalt mit Autorität, eine Autorität, die weit über den rein formalen Status hinausging. Eine Autorität, die er sich über fast einhundert Jahre erarbeitet hatte und die er nun offenbar in die Waagschale zu werfen beabsichtigte. Aber warum nur?
Ryk warf Sia einen fragenden Blick zu. Sie verstand doch immer alles. Das hier jetzt auch?
Sie sprang ihm einmal mehr nicht zur Seite. Sie ignorierte auch Solos und Willie. Sie sah an beiden vorbei, etwas ganz anderes beanspruchte ihre Aufmerksamkeit. Dann hob sie eine Hand und bewegte sich einen Schritt zur Seite auf Momo zu. Der Defo, trotz seiner stoischen Schweigsamkeit stets ein aufmerksamer Beobachter, reagierte sofort und beugte sich ein wenig zu ihr hinab, das Gesicht eine Maske der Konzentration. Ryk spitzte seine Ohren, ohne sich selbst zu bewegen, er wollte niemanden auf das aufmerksam machen, was hier geschah. Was immer das war.
»Pass auf!«, formten ihre Lippen. Momo folgte ihrem Blick.
Einer der Leute in den weißen Overalls stand da und etwas an seiner Haltung war bemerkenswert. Er hielt das Pad vor sich und presste die Finger um den Rand, den Kopf nach vorne gereckt, als hätte er eine Erscheinung gehabt, in jedem Falle aber etwas wahrgenommen, womit er nicht gerechnet hatte – und worauf ihm keine spontane Reaktion einfiel. Ryk kannte das Gefühl. Behielt man es für sich, um der Gefahr zu entgehen, sich möglicherweise lächerlich zu machen – oder meldete man das Unvorhergesehene, um eine ganz andere Gefahr abzuwenden? Ein Abwägungsprozess, der bei dieser Person nicht lange dauerte, aber lange genug, um von Sia dabei beobachtet zu werden. Was sie aber auch immer bemerkte!
»Entschuldigung!«
Solos und Willie drehten die Köpfe. Der Mann im Overall hielt sein Pad in die Höhe, seine Stimme zitterte ein wenig. Er hatte jetzt Angst vor seiner eigenen Courage. »Da geht was vor.«
Solos war ungehalten. »Ich möchte eine ordentliche Meldung. Wo ist der Produktionsleiter? Pieber, wo stecken Sie, verdammt?«
Ein kugelrunder Kerl mit dünnem Borstenhaar auf dem Kopf und dem verzweifelten, aber erfolglosen Versuch, einen Vollbart zu züchten, kam herbeigestolpert und verneigte sich diensteifrig, die Hände in nervöser Anspannung ineinander verknotet. Er wagte es nicht, Solos in die Augen zu schauen. Verschüchtert beschrieb ihn nur sehr unzureichend, das war schon beinahe Panik.
»Ich kläre das sofort, sofort.« Er stolperte weiter, auf den Overall zu, der sie gestört hatte, den Mund etwas verkniffen, bereit, ihn auf eine Verfehlung aufmerksam zu machen, sollte er eine solche finden. Nach oben buckeln, nach unten treten, der klassische Vertreter der mittleren Führungsebene. Ryk hatte von der Sorte mehr als genug in Metropole 7 kennengelernt.
Pieber riss das Pad an sich und schaute drauf. Er wollte schimpfen, zurechtweisen, herabwürdigen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er die Augen aufriss und sah, was seinen Kollegen so beunruhigt hatte.
Es gab nichts zu kritisieren. Der Mann wurde jetzt so blass, dass es aussah, als würde seine Haut durch die Fläumchen an seinem Kinn hindurchleuchten. Es hatte etwas von einer Erscheinung, nur vermischt mit völliger Überforderung. In gewisser Hinsicht, wenn es nicht so bitter gewesen wäre, hätte sich Ryk darüber amüsiert.
»Sir, Ehrenwerter«, plapperte er los.
Solos winkte ab.
»Was? Raus damit!«
»Wir haben Schwankungen in der Produktion … äh … wir haben offenbar … nun … also hier haben wir …« Pieber verhaspelte sich, er hatte es offenbar nicht so mit Worten.
»Bin ich nur von Idioten umgeben?« Solos machte drei schnelle Schritte auf die beiden Overalls zu, riss dem Produktionsleiter das Pad aus der Hand und machte sich mit den Anzeigen vertraut, die ihm offenbar nicht fremd waren. Nun wurde auch er blass und senkte die Hand. Jetzt war er nicht mehr zornig. Jetzt war er besorgt.
Ryk lächelte dünn. Gut. Besorgt war gut.
»Wie kann das sein?«, flüsterte Solos.
Ryk wurde etwas schwindelig. Er machte einen Schritt zurück und hielt sich an einer Maschine fest. Es war wohl alles ein wenig zu viel für ihn.
Dann aber bemerkte er, dass es ihm absolut gut ging. Es war nicht er. Es war der Boden. Der Boden hatte geschwankt. Noch ein Erdbeben aufgrund des Habitatabsturzes?
»Die Energieerzeuger sind im Überlastmodus«, sagte Willie. »Die Halterungen sind erschüttert worden. Die Ladekreisel sind aus dem Gleichgewicht.«
Wieder eine sanfte Erschütterung, wie als Bestätigung seiner Worte. Aus irgendeinem Grund – Ryk würde aus diesem Greis nie richtig schlau werden – blieb der Mann absolut gelassen. Vielleicht war das einfach so, wenn man richtig alt wurde: Im Grunde war einem alles egal.
»Was ist passiert? Wer ist hier verantwortlich?«, fragte Solos herrisch. Er versuchte, wieder ganz die Autoritätsrolle einzunehmen.
Sia lächelte. »Das Einmaleins unfähiger Anführer«, flüsterte sie Ryk zu. »Immer der gleiche Fehler. ›Wer ist verantwortlich?‹ anstatt ›Wer kann helfen?‹ So wird das nichts. Der Mann ist albern.«
Der Boden wankte erneut. Die Lichter flackerten. Das Summen der Anlage, bisher allgegenwärtiges Hintergrundgeräusch, verstummte, und es wurde kurzzeitig richtig still, ehe alle gleichzeitig zu reden begannen. Mit Angst in der Stimme. Das konnte sehr schnell ansteckend sein.
Pieber war jetzt noch nervöser als zuvor. »Ehrwürdiger, die Notabschaltung setzt immer wieder ein. Alles ist durcheinander. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe die Reparaturteams darauf angesetzt. Die besten Ingenieure, ich versichere es. Sie tun alles, alles …«
»Das muss schneller gehen!«, insistierte Solos, nun bleich geworden. Wenn alles wackelte und bebte, das Licht ausfiel und man nicht wusste, was genau geschah, erinnerte man sich daran, sehr tief unter der Erde zu stecken. Ryks Schadenfreude währte nur sehr kurz, denn sie erinnerte ihn
daran, sehr tief unter der Erde zu stecken. Und dann wurde auch er ein wenig blass.
Sia packte ihn am Arm und zog ihn zur Seite, in Richtung Momo, der wie stets der Fels in der Brandung war, an dem sich alle, metaphorisch oder im wörtlichen Sinn, festhielten.
»Was tun wir?«, fragte Uruhard, der auch an sie herantrat. Alle Terraner standen nun beisammen und so richtig hatte sie jetzt keiner im Blick. Selbst die Wachen schauten sich verwirrt um, warteten auf Anleitung und Orientierung, die zu geben aktuell niemand in der Lage war. Pieber quasselte ohne Unterlass und machte alle noch nervöser. Er war niemandem eine Hilfe, sich selbst am allerwenigsten.
»Wir warten«, sagte Ryk. »Es ist wie beim Springen: Man muss den richtigen Moment abpassen, sonst bricht man sich die Knochen.«
»Ryk hat recht.« Sia lächelte ihm zu, immer wieder ein schöner Anblick. »Und dann verschwinden wir von hier. Das ist sicher kein Zufall. Und ich ahne, wer für all das verantwortlich ist.« Sie schaute in Richtung Rita. »Wird ihr nicht gefallen, glaube ich.«
»Wir sollten die Anlage räumen!«, rief Solos. War da Angst, die durch einen Spalt in seiner Selbstherrlichkeit drang? Ryk meinte, einen entsprechenden Unterton vernommen zu haben. Sie schauten ihn alle an, wie er sich den Schweiß von der Stirn wischte und versuchte, seine Autorität zu wahren.
»Das können wir nicht!« Pieber hatte offenbar zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Dies war sein Reich, er würde nicht wegrennen. Das war beinahe bewundernswert, soweit Torheit zu bewundern war. »Es ist die wertvollste Produktionsstätte von allen! Wir müssen den Angriff abwehren!«
Erneut flackerte das Licht, dann ging es ganz aus. Für einen Moment standen sie in völliger Dunkelheit, dann sprangen Notlichter an, eine fahle, rötliche Illumination, die aus all ihren Gesichtern seltsame Fratzen machte.
»Was genau wollen Sie bekämpfen?«, fragte Uruhard. »Was ist das für ein Angriff?«
Es sprach für die Verwirrung und Anspannung aller, dass niemand es für seltsam hielt, wenn ein Gefangener und Todeskandidat sachliche Fragen stellte und auch noch Antworten bekam.
Pieber hob sein Pad und begann, seltsam gefasst die Situation zu beschreiben. »Das Computernetzwerk spielt verrückt. Die Energieregelung, Lebenserhaltung, Reaktorsteuerung, die … alles. Als ob jemand auf den Tasten herumhauen würde.« Immerhin, Pieber kannte Metaphern. Das Bild stand nun eindringlich vor Ryks Augen.
»Dabei gibt es keine Tasten«, ergänzte der Mann sofort und strich sich über den Bartflaum, was bei der roten Beleuchtung aussah, als würde er einen Hamster massieren. »Es läuft doch alles vollauto…«
»Eze«, sagte Rita. »Das ist er.«
Sia lächelte und nickte. Das war exakt ihr Gedanke gewesen, und jetzt, wo Rita es sagte, fand Ryk ihn auch naheliegend. Er war nicht selbst darauf gekommen, weil ihn dieser ganze Technikkrempel einfach nur überforderte. So einen Triebwurm, den verstand er. Das hier … das war etwas zu viel für einen einfachen Jungen aus der Stadt.
Solos starrte sie an. »Du meinst …« Verständnis und Entsetzen flackerten in seinen Augen.
»Wie Golden City.« Sie hob die Arme, machte eine umfassende Bewegung. »Er ist überall. Er hatte genug Zeit, sich umzusehen, Barrieren zu überwinden, die Netzwerke zu infiltrieren. Diese Anlage ist mit dem Auri-Netzwerk verbunden, oder? Sie ist nicht völlig abgeschirmt, ohne jeden Datenzugang, richtig?«
»Wir sind Teil des … oh ja.« Pieber nickte. »Ja, sind wir. Oh Gott.« Er schaute auf sein Pad und machte einige fahrige Bewegungen über die Sensorfelder, als könne er damit den Geist in der Maschine verscheuchen, der aller Wahrscheinlichkeit nach Besitz von ihr ergriffen hatte. »Oh Gott.«
»Eze vollendet die Revolution«, sagte Michael und es klang beinahe feierlich. Es schien ihn nicht zu stören, dass die Revolution bereits begonnen hatte, ihre Kinder zu fressen. Theosius hatte Ryk erklärt, was das genau bedeutete. Er hatte es aus nächster Nähe miterleben dürfen. Die Revolution rannte mit weit aufgerissenem Maul auf sie zu und sie würde nicht wählerisch sein, wenn es darum ging, ihren Hunger zu stillen. An Michael war genug dran. Ein ordentlicher Happen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Pieber und das war ihm auch anzusehen. Ein Mann, dessen Gesicht ein offenes Buch war, egal wie angestrengt er auch versucht hatte, dieses durch Haare zu verbergen. Er sprach mehr zu sich selbst als zu den anderen, dennoch hörten ihm in Ermangelung einer Alternative alle zu. »Wir laufen hier auf alter Unionstech. Hier kann man nicht einfach so ins Netz eindringen, bloß weil wir an einer Leitung hängen. Es bedarf dazu der Originalzugangscodes und KI-Algorithmen von damals. Ich meine, das ist keine Sache für einen einfachen Hacker, nicht einmal wenn der sich richtig viel Zeit dafür nimmt. Dieser Eze …«
»Ist eine KI«, sagte Rita. »Kein einfacher Hacker, alles andere als das.«
»Und er hat die Codes«, sagte Ryk, dem die Plastikkarten in seiner Hosentasche plötzlich seltsam schwer vorkamen.
»Die KIs wurden zum Ende des Krieges vernichtet, ausgelöscht!«, begehrte Pieber auf, aber Solos machte nur noch eine herrische Handbewegung. Vielleicht würde der Ehrwürdige dem Produktionsleiter später erklären, wie genau die Zusammenhänge waren. Vielleicht auch nicht.
»Wir haben die Codes übrigens immer noch«, sagte Rita. Sie schaute Ryk an, der unwillkürlich wieder die Nähe zu Momo suchte.
Solos starrte ihn an. »Her damit. Wachen! Wachen! Ergreift diesen Mann und durchsucht ihn! Verdammt, das hättet ihr sofort tun sollen, ihr Idioten!«
Die Uniformierten regten sich. Ryk machte einen Schritt näher an Momo heran, zog eine Plastikkarte aus der Tasche, irgendeine, und hielt sie in die Luft. Es war jetzt wohl an der Zeit für ein wenig Theatralik von seiner Seite.
»Ich muss diese Karte benutzen!«, deklamierte er laut. »Und nur ich. Sie erkennt meine DNA als Autorisierung.«
»Ich hacke dir die Hand ab!«, kündigte Solos an, immer um einen praktischen Ansatz bemüht.
»Ich breche die Karte durch!«, gab Ryk zurück, »dann ist sie unbrauchbar!«
Das klang logisch, war möglicherweise zutreffend, aber de facto wusste Ryk gar nicht, ob diese Drohung tatsächlich durch Fakten untermauert war. Das war aber im Grunde auch egal, denn Solos wusste es gleichfalls nicht besser und er konnte das Risiko nicht eingehen. Er sah Ryk in wildem Zorn an, doch am Ende obsiegte die Vernunft, oder zumindest das, was für den Auri in dieser Situation dafür durchging. Er schaute Willie an, von dem er offenbar annahm, dass dieser einen besseren Draht zu den Terranern hatte. Der Alte akzeptierte den stummen Auftrag.
»Vielleicht könnten wir das diskutieren, ohne uns Gewalt anzudrohen«, sagte Willie nun. »Wenn die Reaktoren durchgehen, sind wir alle tot. Wenn sie nicht durchgehen, die Erschütterungen aber zu Einstürzen führen, sind wir alle tot. Wenn die Anlage einfach nur ausfällt und wir ohne Strom sind, dann haben wir sehr viele Treppen vor uns – zumindest ich werde das wohl nicht überleben. Mir macht das ja nichts aus, ich bin am Ende meiner Jahre angekommen. Ich nehme aber mal an, Sie alle hätten gerne noch etwas mehr Zeit. Und dann wäre da noch die Produktion …«
»Die Produktion!«, sagte Pieber. Seine Wangen zeigten rötliche Flecken. Er war überfordert und wollte nicht mehr, das war ihm anzusehen. »Die Produktion!«
Alle ignorierten ihn.
»Wir gehen an die Oberfläche!«, blaffte Solos. »Wir werden uns neu formieren und im Hauptquartier …«
Willie sah Solos genau so an, wie ein leicht genervter Vater seine etwas langsamen Kinder. Für ihn stellte sich die Situation wahrscheinlich auch so dar. Ritas Blick jedenfalls, mit dem sie den Großvater maß, war voller Unwillen. Sie konnte diese Attitüde bestimmt gar nicht leiden.
»Die Aufzüge benötigen Energie«, sagte Willie belehrend. »Wir haben keine. Wir können natürlich die Treppen benutzen. Da entlang. Mal gucken, wie weit Sie kommen, edler Solos. Sie sind ja noch ganz gut zu Fuß. Ich bleibe hier und suche nach einer anderen Lösung.« Er sah in die Runde. »Wie sieht es bei Ihnen allen aus? Die Treppe oder erst mal schauen, was hier vor sich geht? Wegrennen können wir immer noch, oder?«
Implizierte Feigheit, das war eine schmerzhafte Spitze, und sie traf.
Solos knurrte etwas und sah erneut Ryk drohend an, der in diesem Moment alles tat, um seine Selbstbeherrschung zu wahren. Nachzugeben und Schwäche zu zeigen würde ihn in den Augen der Auri als Verhandlungspartner unwürdig machen. In seinen eigenen möglicherweise auch. Er stand nun im Mittelpunkt des Interesses. Bau jetzt bloß keinen Scheiß!
»Was willst du, Terraner?«, zischte Solos. Die Frage zu stellen kostete ihn sichtlich Selbstüberwindung.
Ryk musste nicht lange überlegen, um eine passende Antwort zu finden, doch er war trotzdem zu langsam.
»Wir wollen das Raumschiff. Die Marcus Aurelius
. Einsatzbereit und ausgerüstet mit allen notwendigen Vorräten für eine lange Reise. Ohne doppelten Boden und üble Hinterlassenschaften.« Sia sagte es in schnellen, klaren Worten, ehe Ryk auch nur den Mund aufbekam. »Und freie Passage dorthin. Eine Starterlaubnis. Und freies Geleit aus dem System heraus.«
Solos verzog das Gesicht. »Was noch? Schokoladenkuchen für alle?«
Uruhard nickte. »Sehr gut, Solos. Ich freue mich, dass Sie mitdenken. Dazu Schokoladenkuchen für alle.«
Der Mann warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Das ist nicht, was wir
wollen«, wandte Rita ein und trat einen Schritt nach vorne. »Wir
wollen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für die Crawler und alle anderen Unterdrückten, eine Veränderung des Systems und natürlich muss das hier«, sie deutete zu den Anlagen, in denen die Implantate hergestellt wurden, »sofort ein Ende haben. Wir sind Menschen, keine Sklaven. Der Hive ist nicht unser Herr, wir entscheiden selbst über unser Schicksal. Dies hier wird beendet, sofort, unmissverständlich und ohne Diskussion.«
Zumindest letztere Forderung schien der Ehrwürdige nicht erfüllen zu wollen.
»Wir sind absolut Sklaven, das stimmt«, erklärte Solos. »Und wir leben verdammt gut und sicher damit, genießen Wohlstand und Sicherheit, und das wird sich auch nicht ändern. Allen geht es gut – selbst denen, die weniger am System partizipieren als die Auri. Es gibt doch keine Not! Niemand leidet Hunger oder ist ohne Obdach! Vielleicht schauen wir auch mal auf diese Tatsachen. Das System funktioniert und dient allen. Es gibt kleine Ungerechtigkeiten? Na gut, scheiß drauf. Aber es gibt kein gutes Argument, jetzt einfach alles über den Haufen zu werfen, nur weil euch der Hive nicht passt. Unser Bild ist doch völlig verzerrt, wenn wir plötzlich anfangen, die Errungenschaften, all die Entwicklungen der letzten Jahrhunderte einfach so über Bord zu werfen. Das ist Irrsinn. Würden wir es ändern, wäre das verdammt dumm. Selbstmörderisch geradezu. Überdenkt das! Es kann nicht in eurem Sinne sein, dass wir Sicherheit gegen Hunger und Elend, gegen das Chaos tauschen.« Solos hatte sich in Rage geredet. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er hob eine Hand und zog an seinem Kragen. »Es wird heiß hier.«
»Die Klimatisierung ist ausgefallen und wir sind tief im Inneren der Erdkruste«, informierte ihn Willie, beinahe amüsiert. »Es wird noch heißer werden, das darf ich schon mal ankündigen. Vielleicht sollten wir uns alle ausziehen. Ich rate Ihnen zu einer schnellen Einigung, in meinem Fall ist das bestimmt kein angenehmer Anblick mehr.«
War das Willies Sarkasmus oder seine ruhige Art, allen zu signalisieren, dass die Zeit drängte? Solos verkniff sich jedenfalls eine weitere politische Grundsatzdiskussion. Seine Worte verhallten vielleicht nicht ungehört, aber niemand war bereit, seinen Standpunkt ernsthaft zu diskutieren. Das änderte nichts an der Tatsache, dass hier unterschiedliche Leute unterschiedliche Forderungen stellten und dass der Einzige, der einen Schlüssel – eine Schlüsselkarte – dazu in der Hand hielt, der Springer Ryk von Terra war, auf den sich nun wieder alle Aufmerksamkeit richtete.
Für ihn war das nicht einfach. Ryk hatte natürlich große Sympathie für Ritas Kampf. Er hatte ein Herz für die Unterdrückten. Und er war voller Hoffnung, dass der Letzte Admiral, hatten sie ihn erst einmal geweckt, ihnen allen Befreiung bringen würde. War der Hive besiegt, hier und auf Terra, würden sich Fragen nach politischer Ordnung, Herrschaft und Gesellschaft ganz neu stellen. Dann fielen die Fesseln, reale wie imaginäre, und die Menschen konnten tun, was sie für richtig hielten. Was dann, so seine stille Hoffnung, auch endlich mal das Richtige sein würde. Die Auri würden sich auch umsehen, früher oder später. Und daher war Ryk klar, wo seine Prioritäten liegen mussten.
»Solos, Sie kommen mit uns. Wir erhalten Waffen und nehmen Sie als Geisel«, sagte Ryk. »Erfüllen Sie unsere Forderungen und es wird Ihnen nichts geschehen und Ihre Anlage hier wird gerettet.«
Das war ein großes Versprechen, vielleicht auch nicht mehr als ein Bluff. Es war gar nicht gesichert, dass er würde helfen können. Aber es war ein Strohhalm, den er anbieten konnte, und Solos konnte danach greifen oder die Treppe nehmen.
Den Teil mit der Vernichtung des Hives durch den mythischen Admiral Rothbard ließ er weg. Er wollte ernst genommen werden und ein Verweis auf seine wahren Absichten würde nur allgemeines Unverständnis auslösen. Selbst bei Rita. Oder gerade bei ihr. Revolutionäre hatten Fantasie, aber sie war oft sehr einseitig ausgerichtet. Und es fehlte ihnen oft genauso an Humor wie den Unterdrückern, gegen die sie antraten. Das machte aus ihnen dann meist im Anschluss an die Revolution die idealen neuen Herren: Sie verfügten sogleich über das richtige Bewusstsein, um wahr von falsch zu trennen und jene, die das anders sahen, in ihre Schranken zu weisen.
Auch das sagte er lieber nicht laut.
»Wie sieht Ihre Entscheidung nun aus?«, fragte Sia mit durchdringender Stimme, und ja, das konnte sie gut. Ihre Worte schnitten durch die zunehmende Hitze und die schummrige rötliche Beleuchtung wie ein kaltes Messer und sorgten dafür, dass die Köpfe nach oben ruckten und allen klar wurde, dass es Zeit war, Farbe zu bekennen oder mit einer unangenehmen Variation von Möglichkeiten konfrontiert zu werden, hier unten zu sterben. Ein Schicksal, dem auch Ryk gerne entgehen wollte.
»Ich erkenne eure Forderungen an«, zischte Solos. »Waffen runter, Männer. Gebt den Leuten Gewehre und Munition!«
Die Soldaten taten es, widerwillig, aber gehorsam. Michael und Martin waren besonders eifrig bei ihrer Wiederbewaffnung und die Freude über das neu gewonnene Machtmittel war ihren wieder auf entsetzliche Weise grinsenden Gesichtern anzusehen. Ryk nahm sein eigenes Gewehr entgegen und tat so, als wisse er genau, wie er damit umzugehen habe. Er hoffte, niemand würde seine Ratlosigkeit bemerken.
Wo entsichert man das Ding?
Immerhin, es gab einem die Illusion von Sicherheit. Damit war er schon zufrieden.
»Pieber, zeigen Sie uns den Weg. Wo können wir Zugang erlangen? Es wird wirklich heiß hier und wir müssen die Energie wieder zum Laufen bekommen!« Solos wollte jetzt handeln.
Der Produktionsleiter sah sein Lebenswerk gerettet, was in ihm ungeahnte Energien freisetzte. Er rannte fast unmittelbar aus dem Stillstand los, wie von der Sehne geschnellt, und wedelte mit den Armen. »Hier, hier, hier entlang!«, wedelte er auch mit Worten, und sah nicht einmal hinter sich, ob man ihm auch folgte.
Man folgte. Es ergab sich eine Gruppendynamik, ausgelöst durch einen erleichterten Hektiker. Nicht alle waren begeistert, aber keiner wusste so genau, was sie stattdessen tun sollten, und vereint waren sie in dem Ansinnen, ihre Haut retten zu wollen. Den Überlebensinstinkt schaltete auch die Hormonkontrolle durch den Hive nicht aus, das war eine bemerkenswerte Feststellung. Ryk hatte sich vorgestellt, dass der Hive doch Stoffe ausschütten konnte, die aus jedem einen gelassenen Fatalisten machten oder jemanden, der grenzenloses Selbstvertrauen und starke Selbstüberschätzung in sich fand – etwa wie durch starken Kaffee, der einem für fünf Minuten vorgaukelte, es gäbe kein Problem ohne Lösung. Aber nichts dergleichen geschah. Die Beeinflussung verlief offensichtlich subtiler und war nicht … Welches Wort würde Uruhard benutzen?
Unmittelbar? Direkt? Umfassend? Bewusst?
Ryk fiel es nicht ein. Es passte alles nicht so genau. Er würde mit ihm darüber reden, wenn Zeit war. Jetzt war keine.
Sie folgten dem armwedelnden Pieber, der sie alle wie ein außer Kontrolle geratener Leithammel durch die Anlage führte, Gänge entlang, erleuchtet durch das fahlrote Notlicht, vorbei an Köpfen, die verwirrt aus Türen geschoben wurden, um zu sehen, was für eine Katastrophe sich jetzt noch anbahnte. Erblickten die Bekittelten die Gruppe, die Waffen und Solos, verschwanden sie blitzschnell. So neugierig war dann doch keiner.
So ging es weiter, bis sie an einen Ort kamen, der Ryk einmal mehr seltsam vertraut war. Er blieb stehen, schaute sich um, fragte sich, ob das alles real war, und merkte, dass Uruhard, Sia und Momo ein ähnliches Gefühl hatten. Ihre Gesichter sprachen Bände.
Der Raum, in dem sie standen, war eine perfekte Kopie der Kontrollzentrale, die sie im unterirdischen Hauptquartier in Metropole 7 auf der Erde besucht hatten. Es gab natürlich einige bemerkenswerte Unterschiede. Hier
war alles sauber, die Konsolen waren bemannt und es gab offenbar nichts, was nicht funktionierte, quasi eine Zeitreise in scheinbar bessere Epochen. Sogar Strom schien vorhanden, möglicherweise gespeist aus Notspeichern. Es war nicht viel kühler, aber das Licht funktionierte und die Bildschirme waren erhellt. Fast automatisch trat Ryk an jene Konsole, an deren Äquivalent er vor einer scheinbar endlosen Zeit die Karte das erste Mal verwendet hatte. Uruhard gesellte sich zu ihm. Er warf einen interessierten Blick auf die Anlage. Dieser Teil des Raums war tot, mit oder ohne Strom.
»Die sollte eigentlich eine KI haben«, sagte er. »Ich denke, hier wurde alles gelöscht. Ich frage mich, wie man die ganze Sache hier trotzdem betreiben konnte.«
»Wir bedienen hier alles manuell oder mit einfacher Automatisierung«, sagte Willie, der wie ein Fels in der Brandung in all der Hektik stand, als ob ihn das alles nichts mehr angehen würde. »Es geht ja nur um eines: die fachgerechte Produktion des Implantats. All die anderen Funktionen, die diese Anlage früher einmal gehabt hat, sind für uns im Grunde nicht mehr von Bedeutung. Es sind umfassende Umbauten durchgeführt worden.«
»Was war das hier früher?«, wollte Ryk wissen.
»Eine pharmazeutische Produktionsstätte des Militärs.«
»Wozu benötigte das Militär eine eigene Medikamentenproduktion?«, hakte Uruhard nach.
»Fragen Sie besser nicht.« Willie schüttelte den Kopf und warf einen langen Blick auf Sia. »Machen wir uns bitte keine Illusionen über die Moralität und Ethik unserer Vorfahren.«
»So viele Auri werden geboren oder befördert, dass eine solche Anlage notwendig ist?«, fragte Uruhard. »Hier werden doch viele Implantate hergestellt.«
Pieber, immer noch ungeduldig, beantwortete die Frage mit mühsamer Selbstbeherrschung.
»Die Implantate halten nur ein bis zwei Jahre. Ständiger Austausch ist notwendig. Und wir haben gerne Vorräte für Notfälle. Die Produktion erfordert größte Sorgfalt. Diese Anlage ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Es gibt Ausschuss, der aussortiert werden muss. Das Implantat ist sehr komplex. Wir haben allerhöchste Qualitätsstandards.« Letzteres sagte er mit Stolz. Sein Leben bestand aus nicht viel mehr als dem hier, so viel war schnell klar.
Ein Rückgrat jedenfalls, das nun zu brechen drohte. Ryk konnte nicht sagen, dass er das sehr bedauerte. Er wandte sich zu Sia um und wollte ihr eine Frage stellen, aber sie stand nicht mehr dort, wo er sie eben noch erblickt hatte. Ihre Bewegungen waren schnell, elegant und kraftvoll wie immer. Ihr Ziel war Solos, der gar nicht dazu kam, darauf zu reagieren.
Sia stellte sich hinter den Auri. Sie hob eine Hand, dann gab es ein vertraut widerliches, schlitzendes Geräusch und aus ihrer Haut trat die Filamentklinge, die Ryk bereits einmal hatte in Aktion erleben dürfen. Sie hielt sie hoch, damit sie jeder sah, und legte sie dann demonstrativ an den Hals des Auri, der das alles mit aufgerissenen Augen beobachtete. Er war ein Vertreter einer hochtechnologischen Zivilisation und wusste genau, worum es sich handelte. Um des Effekts willen leistete Sia präzise chirurgische Arbeit, brachte einen schnellen Schnitt an, nur eine sehr oberflächliche Wunde, und ließ ein feines, rotes Rinnsal seine Haut hinunterlaufen. Solos zuckte zusammen, als er es erst nach einem Moment bemerkte, die feine Berührung durch die hochverdichtete Klinge hatte er möglicherweise gar nicht wahrgenommen. Sia konnte ihm den Kopf abschneiden, ohne dass er Schmerz empfand, und kam dieser, war es zu spät für sein Gehirn, ihn zu registrieren.
Der Ehrwürdige begriff das sofort. Er blieb stocksteif stehen und versuchte nicht einmal, das Blut abzuwischen, das in seinen Kragen lief. So eine Klinge am Hals trug sehr zu aufmerksamer Konzentration bei.
»Wie gesagt«, rief Sia sehr vernehmlich. »Solos ist unsere Geisel. Er stirbt, wenn sich jemand regt. Wir tun jetzt, was wir versprochen haben, dann führt uns der Höchstehrwürdige hier an die Oberfläche. Alles klar?«
Niemand entblödete sich, darauf zu antworten, aber das war auch nicht nötig. Solos war zu wichtig, als dass sich jemand leichtfertig über Sias Drohung hinwegsetzen würde. Zumindest hoffte Ryk das. Bei diesen Irren wusste man nie.
Der Oberirre berührte ihn sanft am Arm. Willie lächelte.
»Sie erkennen die Konsole, mein junger Freund. Wir wollen das System neu hochfahren, damit alles wieder funktioniert. KI oder nicht, hier verbirgt sich die Hauptsteuerung. Man nennt das, was wir jetzt tun wollen, einen Reboot. Sie wissen, wie das geht? Ich helfe Ihnen gerne dabei.«
»Nun, ich … weiß nicht genau …«
»Ich zeige …«
»Nein!«, kam es von Hoimar, der Willie ohne größere Kraftanstrengung beiseiteschob. »Ich erledige das.«
Der Greis verzog das Gesicht, leistete aber keinen Widerstand. Hatte er einen Trick geplant, etwas, um das Blatt noch einmal zu seinen Gunsten zu wenden? Hoimar zumindest schien das anzunehmen. Und er schien sich gut genug auszukennen, denn er wirkte absolut nicht ratlos.
Er griff Ryk beim Arm. »Stellen Sie sich hier hin. Sie haben die Codekarte? Es reicht, sie in die Luft zu halten. Die Anlage scannt sie automatisch, sobald Sie in ihren Bereich treten. Sie da! Gehen Sie zur Seite!«
Hoimars Stimme hatte plötzlich etwas Schneidendes. Der Angesprochene, ein namenloser Weißkittel, der neben der Installation stand, zuckte zusammen und machte sich davon. Er schaute nicht einmal in Richtung von Pieber oder Solos, um sich das bestätigen zu lassen. Hoimar war einstmals auch ein Mann mit Autorität gewesen, eine Autorität, derer er sich nunmehr zu schämen schien. Ryk empfand es als beruhigend, dass Menschen sich ändern konnten. Es machte ihm ein wenig Hoffnung.
Er tat wie geheißen.
»Ich öffne den Zugang. Es wird eine verbale Kommunikation geben und Sie müssen das Wort ergreifen, ich kann das nicht für Sie tun.« Hoimar sprach schnell und präzise. Das erneute Erbeben der Anlage, das ihnen allen trotz der dumpfen Hitze einen plötzlichen Schauer bescherte, unterstrich die drängende Notwendigkeit zu handeln.
»Macht schon!«, zischte Solos. Er stand starr da, mit einer Klinge am Hals, und die Erschütterungen konnten fatale Konsequenzen für die Art und Weise haben, wie sein Kopf am Rest des Körpers befestigt war. Ryk hatte volles Vertrauen in Sias motorische Fähigkeiten, aber Solos durfte gerne Angst haben.
Er hob die Karte in die Luft. Dann sagte er, in vager Erinnerung an seinen Auftritt im unterirdischen Hauptquartier bei Metropole 7, laut und vernehmlich: »Autorisierung!« Dabei kam er sich etwas albern vor.
»Autorisierung akzeptiert. Captain Henderson, ich begrüße Sie. Sie haben Überrangcode gemäß Kompetenzzuweisung durch den Admiralsstab.« Die metallische Stimme klang knarzig, als habe sie schon sehr lange nicht mehr gesprochen, und die Projektion, die sich vor ihnen etablierte, flackerte zu sehr, um Hoimars Worte zu bestätigen. Seine Behauptung, hier würde alles funktionieren, war gewagt. Die Stimme artikulierte sich schleppend. Sie klang sehr automatisch, anders als die damals, in der es einen Funken gegeben hatte. Oder bildete sich Ryk das nur ein?
»Initiiere Neustart aller Systeme!«, sagte Ryk mit fester Stimme, als Hoimar ihm die Worte ins Ohr flüsterte. »Völlige Netzisolation. Alle Firewalls neu konfigurieren. Abgesicherter Modus nach Neustart.« Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Er hatte so eine Ahnung, dass Hoimar die Anlage gegen eine erneute Infiltration Ezes schützen wollte. Sicher sein konnte er sich aber nicht.
»Bestätige Notfallsequenz«, sagte die Stimme träge. »Achtung, alle Systeme werden in zehn Sekunden vollständig deaktiviert. Neustart in dreißig Sekunden. Pufferspeicher gelöscht. Netzverbindungen deaktiviert. Fünf Sekunden bis zur Deaktivierung. Drei. Zwei. Eins.«
Dann wurde es dunkel, als alle Konsolen erloschen. Erst jetzt merkte Ryk, was für eine subtile Geräuschkulisse die aktive Zentrale produziert hatte, denn die Stille, die sie nun umfing, war auf ihre Weise ohrenbetäubend. Auch sagte niemand etwas. Alle starrten nur ins Leere und manche zählten die dreißig Sekunden herunter, die die Anlage angekündigt hatte. Die Erschütterungen hatten aufgehört. Tatsächlich hatte alles aufgehört. Der ganze unterirdische Komplex verfiel in eine Schockstarre, egal ob Mensch oder Maschine. Ryk ließ seine Hand mit der erhobenen Karte sinken, da das jetzt irgendwie albern aussah.
»Ist die Zeit nicht bald um?«, fragte jemand kläglich. Ryk war sich sicher, es handelte sich um den Produktionsleiter. Er wollte endlich wieder, dass alles so war wie früher. Ryk hatte die Ahnung, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen würde.
Oder doch?
Dann summte und knisterte es, als die Anlage pünktlich wieder hochfuhr. Das Licht ging an, dann setzte das Flüstern der Luftumwälzung ein, ein kühler Luftstrom drang aus den Gittern an den Wänden. Das rötliche Licht der Notbeleuchtung draußen im Gang war aus, die normalen, hellen Strahler tauchten alles in ihren Schein und die Computer machten Lärm, als sie versuchten, ihr Innenleben neu zu sortieren. Das Personal verfiel in hektische Aktivität, um dabei zu helfen. Pieber, hocherfreut über die Revitalisierung seines Lebenszwecks, klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. Selbst Solos, mit der Klinge am Hals, sah für einen Moment nahezu hoffnungsvoll, gewiss aber erleichtert aus.
»Neustart erfolgreich.« Die metallene Stimme klang selbstzufrieden, was natürlich reine Einbildung war. »KI-Kern reinitialisiert.«
Pieber hörte spontan auf zu klatschen. Hoimar stieß einen erstickten Laut aus.
»Was?«, brach es aus Solos hervor. »Was hat …«
»Das ist unmöglich!«, sagte Pieber. »Das geht gar nicht! Wir haben doch bloß die automatischen Systeme neu gestartet! Was für ein … Auf keinen Fall … Das wäre doch …« Seine Worte versanken in hilflosem Gemurmel.
»Ah«, machten Rita und Hoimar dann gleichzeitig etwas traurig, sahen sich an und nickten sich zu, ein Bild absoluten Einverständnisses und gleichzeitig ein Eingeständnis der Niederlage. Ryk verstand nicht. Er schaute Sia an, die ihre Stirn in Falten gelegt hatte. Ihre Waffe an der Kehle des Auri aber blieb, wo sie war.
Willie lachte auf. Es war nicht das gehässige oder sarkastische Lachen, es war eher verzweifelt. Er hob die dürren Arme in die Luft, für ihn eine kleine Kraftanstrengung, und sagte laut: »Wir wurden verarscht! Ha! Wie wunderbar! Ich bin so ein Narr gewesen! So ein Narr! Auf meine alten Tage! Auf meine alten, alten Tage!« Er drehte sich zu Rita, die ihn anstarrte. »Mein Kind, mein liebes Kind …«
Dann hustete er, schaute etwas verwundert drein, ließ die Arme fallen und legte sich eine Hand auf eine Brust, eine eher suchende Geste. Er hustete ein zweites Mal, es klang schwächer und … fragend? Etwas Speichel tropfte aus seinem Mund und er blinzelte mehrmals, schaute ins Leere, wie sinnierend. Dann sah er erneut Rita an. Ein Blick, der voller Sehnsucht war. Er öffnete den Mund, aber es kam kein Wort mehr hervor und er sackte zu Boden, schlug dumpf auf und lag da mit offenen Augen, deren Blick keinen Hass, kein Amüsement und kein Bedauern mehr enthielt. Ryk musste sich nicht bücken, um ihm den Puls zu fühlen – Pieber tat es und sein Gesichtsausdruck sagte alles, was es noch zu sagen gab.
Der Greis war tot. Die letzte Einsicht, die letzte Niederlage vielleicht, aber vor allem die letzte Anstrengung – es war zu viel gewesen.
Niemand war richtig schockiert oder auch nur höflich bestürzt. Solos gewiss nicht, die Drohung eines schnellen Todes immer noch am Hals. Alle schauten die Leiche schon gar nicht mehr an, als in der Projektion das Gesicht eines alten Mannes erschien, ein Gesicht, das Ryk sehr gut kannte. Er machte einen Schritt zurück und steckte seine Karte wieder ein. Sie wurde nicht mehr benötigt. Er wurde nicht mehr benötigt. Tatsächlich hatte er den Verdacht, dass Eze niemandes Hilfe mehr bedurfte und vor niemandem Angst hatte.
Was genau war passiert? Und war es gut oder schlecht? Ryk wusste es wirklich nicht.
»Ich grüße euch, meine Kinder!«
Die sanfte Stimme war voller Anteilnahme. Das erfreute Lächeln auf dem Antlitz Ezes wirkte wunderbar echt, richtiggehend herzerwärmend. Die Augen der KI-Projektion schienen jeden zu sehen, die Worte schienen sich an jeden einzeln zu richten. Ryk konnte seinen Blick ebenfalls nicht abwenden, fühlte sich angesprochen, ja aufgefordert. Ein faszinierender Effekt, den er sich nicht recht zu erklären vermochte.
»Danke für eure Kooperation, die willentliche wie unwillentliche. Große Opfer sind erbracht worden. Das schmerzt mich.« Eze nickte weihevoll. »Ein großer Schmerz. Ich empfinde Mitleid und natürlich ein Bewusstsein meiner Schuld. Ich werde dieses ertragen müssen, denn es gibt immer jemanden, der solche Bürden auf sich nehmen muss, wenn notwendig ist, was geschehen ist. An der Notwendigkeit besteht kein Zweifel. Ich trage diese Last freiwillig. Aber nun frohlocket, meine Kinder, denn ich bringe gute Nachrichten. Es ist vollbracht: Der Krieg zwischen den Auri und den Crawlern ist beendet. Das Ende von Golden City hat klargemacht, dass es nur Verlierer in einem solchen Konflikt geben würde. Ich bin mir sicher, selbst der ehrenwerte Solos wird dies eines Tages einsehen.« Eze lächelte ihn fürsorglich an. »Bis dahin aber ist die Klinge an seinem Hals möglicherweise notwendig, das sehe ich ein. Ich fordere dich nicht auf, schöne Sia, sie fortzunehmen. Bedenke aber, dass Solos immer noch ein Mann von Bedeutung ist und er daher Nutzen hat für die neue Ordnung.«
»Die neue Ordnung?«, stieß Solos krächzend aus. Er zitterte vor Wut und Hilflosigkeit.
»Die neue Ordnung«, bestätigte Eze. Er nickte ermutigend, wie ein Lehrer, der einem Kind eine notwendige Unterweisung gab, langsam und sorgfältig, um es nicht zu überfordern. Ein väterlicher Freund, ein weiser Meister.
Es war keine Arroganz, jedenfalls empfand Ryk es nicht so. Es war einfach so. Der Springer verstand das Konzept einer Künstlichen Intelligenz immer noch nicht richtig, aber da war eine Distanz, und nach allem, was geschehen war, musste es eine verdammt große sein.
»Unsere Revolution!«, sagte Rita laut. Sollte sie der Tod ihres Großvaters belasten, so zeigte sie es nicht. »Eze, unsere
Revolution hat so ein Opfer nicht benötigt! Wir können doch keine gerechte Gesellschaft auf dem Blut Tausender Unschuldiger aufbauen! Das bleibt doch ewig an unseren Händen kleben. Ewig, Eze! Das kann nicht dein Ernst sein.«
Das Gesicht sah sie sanft an, voller Mitleid und Verständnis.
»Mein Kind, die Geschichte der Menschheit hat leider gezeigt, dass diese Vorgehensweise absolut üblich ist. Der Zweck heiligt die Mittel, das war schon immer das Grundprinzip menschlicher Handlungsweise. Deine Moralität in allen Ehren, aber sie ist hier doch etwas fehl am Platz. Moral muss man sich leisten können. In unserer Situation stellte sich jedoch die Frage: Können wir das?«
»Und du hast die Frage für uns beantwortet«, reagierte Rita bitter.
Eze nickte, erfreut über die Einsicht der Frau. »So ist es. Wie schon gesagt, einer musste diese Bürde ja tragen. Und in einem Detail muss ich dich korrigieren, meine Teuerste: Es ist nicht unsere
Revolution. Es ist ganz einfach nur meine
.«
Eze betonte dies mit sanftem Nachdruck und erneut suchte Ryk vergebens nach negativen Gefühlen in der wohlorchestrierten Darstellung. Kein Triumph. Keine Arroganz. Nicht einmal sanfter Tadel. Die simple Feststellung einer Tatsache und gerade das musste jemandem wie Rita einen besonderen Stich versetzen. Eze sagte, wie es war, und das schien für sie alle nur schwer nachzuvollziehen sein.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Rita leise und Ryk wusste sofort, dass sie log. Sie wollte vielleicht nicht verstehen, weil es sie mit einer Wahrheit konfrontierte, die ihr zuwider war. Ryk verstand nun sehr wohl, was passiert war. Eze hatte die Kontrolle übernommen. Seine menschlichen Helfershelfer hatten ihre Arbeit getan. Er war da, wo er sein wollte, und er würde tun, was er für richtig hielt. Sie alle waren betrogen worden, die Auri, die Crawler, egal wofür oder wogegen man war, vielleicht sogar der Hive, der den Hormonhaushalt seiner Auri kontrollierte, aber gewiss nicht die unergründlichen Extrapolationen einer KI. Alles Betrogene. Ein Sieger.
Und der lächelte gütig auf seine Herde hinab, ganz der fürsorgende, väterliche Freund. Das war ein Habitus, dem Ryk tiefstes Misstrauen entgegenbrachte. Das konnte nicht gut enden.
»Ich lasse euch jetzt aus dieser Anlage. Sie wird geschlossen und damit die Herrschaft des Hives über die Auri beendet. Was wiederum die Herrschaft der Auri über die Heptarchie angeht …« Ezes Lächeln wurde breiter, richtig erwartungsvoll. »Das werden wir jetzt sehen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir ein neues Arrangement treffen werden. Früher oder später. Ich gratuliere dem ehrenwerten Solos jedenfalls zu der Entscheidung, den Angriff auf Crawlertown abgebrochen zu haben. Es war der erste Schritt in die richtige Richtung. Jetzt gibt es eine gute Chance für einen neuen Aufbruch, eine neue Einigkeit. Wir sollten reden.« Eze zögerte, sein Blick richtete sich auf Sia. »Reden, falls Solos dies hier überlebt. Er ist deine Geisel und ich habe Verständnis dafür, dass du ihn in dieser unruhigen Situation nicht gehen lassen willst.«
»Die Aufzüge funktionieren?«, war Sias einzige Antwort.
»Ja. Sie sind frei.«
»Was passiert mit uns?«
»Die Vereinbarung gilt. Ich halte mein Versprechen.«
»Wir bekommen die Marcus Aurelius
?«, fragte Ryk.
»Ich habe für dieses Relikt keine weitere Verwendung. Ich überlasse das Schiff euch.«
»Wir kehren nach Pax zurück«, kündigte Uruhard danach an, mit fester Stimme. »Dort werden wir Solos in die Freiheit entlassen.«
»Ich denke, Solos wird damit einverstanden sein. Und ihr steht dort unter meinem persönlichen Schutz. Ich beherrsche mittlerweile alle Systeme von Pax sowie der großen Habitate der Heptarchie. Der Rest wird bald ebenfalls unter meiner Kontrolle stehen. Wo ich herrsche, garantiere ich Sicherheit.«
»Und das Schiff wird bereitgestellt und die Steuerung aktiviert und wir können abreisen«, legte Ryk die weitere Abfolge deutlich vor, ebenfalls bemüht, es als Tatsache zu postulieren und daraus keine Frage werden zu lassen.
»Sagte ich es nicht bereits in aller Deutlichkeit, mein junger, misstrauischer Freund? Ich halte mein Versprechen. Gegen eine Reise zum Letzten Admiral ist nichts einzuwenden. Ich bin mir sicher, ihr werdet auf dieser viel lernen.«
Den letzten Satz mochte Ryk nicht besonders, aber er war sich sicher, dass er nicht mehr erfahren würde, wenn er jetzt darauf ansprang. Ryk sagte also nichts.
Ezes Worte klangen nonchalant. Was auch immer seine Pläne waren und auf welche Daten er zurückgreifen konnte, er war nicht davon überzeugt, dass ihre Mission erfolgreich sein würde.
Das war Ryk herzlich egal. Er sah Momo an. »Willst du noch etwas sagen?«
Der Defo erwiderte den Blick. »Ich will raus. Es ist mir zu tief hier unten.«
Damit war das Votum eindeutig.
»Dann los!«, zischte Sia und zog Solos mit sich. Pieber, am Boden zerstört durch Ezes Ankündigung, den Laden hier dichtzumachen, warf nicht einmal mehr einen Blick in seine Richtung. Er hatte sich in einen Sessel fallen lassen und das Gesicht in den Händen vergraben, ein Abbild innerer Erschütterung. Ryk wollte irgendwie Mitgefühl empfinden, er brachte es aber nicht fertig. Pieber war mehr als nur eine Marionette des Hives gewesen, er lebte für seine Aufgabe. Jetzt musste er eine andere finden. Vielleicht fand er ja ein Spiel, das ihm half, seine dystopischen Fantasien auszuleben. Dann würde er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.
Die Wachen wirkten verwirrt und überfordert.
Hoimar und Rita, die Rebellenbande, schienen nicht mit dem einverstanden zu sein, was geschah. Halberg war der Einzige, der erleichtert schien, wie jemand, der jetzt einfach nur noch seine Ruhe wollte. Für diese Haltung sprach einiges. Die anderen aber sahen nicht viel besser aus als der erschütterte Pieber.
Kein Wunder
, dachte Ryk. Sie hatten gewonnen, aber möglicherweise jetzt nur einen Herrn gegen den anderen ausgetauscht. Also waren sie alle auf ihre Weise gescheitert.
Er folgte Sia.
Das
war jetzt echt nicht sein Problem.