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Solos wehrte sich nicht mehr. Er wirkte entkräftet und entmutigt und doch war da eine neue Energie in ihm. Vielleicht spekulierte er darauf, auch im neuen Regime zu Amt und Würden zu kommen, wie Eze es angedeutet hatte. Das war für Ryk zu viel Politik. Darüber wollte er gar nicht lange nachdenken.
An der Oberfläche angekommen bestiegen sie das immer noch einsam in der Gegend herumstehende Fahrzeug, nachdem sie die Atemmasken wieder übergezogen hatten. Sie hätten auch einen der beiden Gleiter nehmen können, mit denen Solos und die Seinen angereist waren, aber in stiller Übereinkunft entschieden sie sich anders. Vielleicht war es auch nur eine Art von Trotz, der sie dazu brachte.
Es war ein schweigender Aufstieg gewesen und Hoimar hatte die ganze Zeit den Kopf gesenkt gehalten, den Frust in sich hineinfressend. Rita wiederum war permanent zornig, steckte in einer langsam ansteigenden Kurve stetiger Erzürnung, wenngleich sie sich dabei noch gut im Griff hatte. Michael und Martin stritten sich unentwegt darüber, ob dies nun eine gute oder eine schlechte Entwicklung nehmen würde, wie ein altes Ehepaar, und beide waren auf einmal dermaßen rechthaberisch, dass das Zuhören Ryk beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Sie hatten jedes Maß an Selbstbeherrschung wie an Einsicht verloren und redeten miteinander, als könne das Austragen dieses Konfliktes noch irgendetwas an der Realität ändern.
Ryk war mehr als einmal versucht dazwischenzufahren. Er beherrschte sich. Vielleicht half es den beiden, so viel Dampf abzulassen, dass die nun folgende Fahrt etwas ruhiger ablaufen würde.
Sie steckten Solos auf einen hinteren Sitz, zwischen die Zwillinge. Der Disput ging nun durch ihn hindurch und das war möglicherweise genauso lähmend wie die Fesseln, die Rita dem Mann angelegt hatte, damit er nicht auf falsche Gedanken kam.
Der Wagen fuhr los, als sie alle saßen. Einige Wachen hatten sich ebenfalls an die Oberfläche begeben und tatenlos zugeschaut, wie ihr Chef eingeladen wurde. Ihre Hilflosigkeit hatte etwas Rührendes. Sie wussten nicht, wie man mit solchen Situationen umging, hatten Angst und waren von der ganzen Welt überfordert. Und derjenige, der ihnen Orientierung und Anleitung hätte geben sollen, verfiel in ein zorniges, brütendes Schweigen. Immerhin hatte Sia die Klinge zurückgezogen, blieb aber in Reichweite und sehr aufmerksam.
»Zum Raumschiff«, hatte Rita befohlen. Der Weg war weit, die Fahrt würde Stunden dauern. Das Wetter war immer noch unruhig, obgleich die Funkverbindungen wieder stabil waren. Sie konnten sich nun wieder mit der Situation vertraut machen. Wettersatelliten überwachten die Lage. Stürme wirbelten über die Oberfläche, Warnungen wurden ausgegeben. Die Absturzstelle war klar auf allen Karten markiert und die Rettungsmannschaften waren im Einsatz. Die Strahlung am Ort der Katastrophe war noch zu hoch, um mehr als nur ein paar ferngesteuerte Roboter hinzuschicken, aber das Bild, das diese aus der Nähe übermittelten, ließ ohnehin nur einen möglichen Schluss zu: Das hatte niemand überlebt. Es gab auf ganz Golden City nicht einen Ort, der Sicherheit geboten hätte. Alle betrachteten die Übertragungen mit stummem Entsetzen, darin waren sich Freund und Feind einig. Das mächtige Habitat hatte sich, soweit nicht verglüht oder während des Absturzes bereits in Teile zerbrochen, beim Aufprall in einer Explosion zerstört. Trümmerteile lagen über ein weites Areal verstreut und im eigentlichen Hauptkrater, hinter Wällen aus aufgerissener Erde, durch die Hitze verbrannt zu einem glasartigen Material, war nur noch ein verdrehter, gequälter Berg aus heißem Metall zu erkennen, an dem nichts mehr an die Form der ursprünglichen Orbitalsiedlung erinnerte.
Sie entfernten sich auf ihrem Weg zum Glück weiter von der Absturzstelle. Kräfte aus dem Orbit waren auf dem Planeten abgesetzt worden, gleichermaßen, um mit den Räumarbeiten zu beginnen, wie auch, um die planetare Bevölkerung in Schach zu halten. Dass die Herrschaft der Auri nunmehr auf einem sehr wackeligen Fundament stand, hatte noch niemand so richtig mitbekommen.
Sie wurden nicht verfolgt. Ryk war überrascht, aber andererseits vermutete er, dass Eze seine Hand im Spiel hatte, die Auri über das Schicksal Solos’ belog oder die Suchmannschaften in die Irre führte. Die KI beschützte sie, offenbar bestrebt, einen Handel einzuhalten, den sie eigentlich gar nicht respektieren musste. Vielleicht war die Aussicht, die Terraner möglichst elegant loszuwerden und es sich gleichzeitig nicht mit ihnen zu verscherzen, sollten sie den Letzten Admiral finden, für ihn eine interessante, ja lohnenswerte Kalkulation. Vielleicht wollte Eze tatsächlich nur töten, wenn er den dringenden Nutzen sah. Moralität, das wussten sie mittlerweile, war nicht seine zentrale Motivation. Vielleicht bewertete er die Nützlichkeit menschlicher Existenz nach einer mathematischen Formel. Wie willkürlich die KI tatsächlich handelte, würden die Menschen der Perlenwelt künftig am eigenen Leib erleben. Ryk wollte es gar nicht so genau wissen.
Sie machten nach drei Stunden an einem flachen Gebäude Halt, vor dem einige Bodenfahrzeuge parkten. Es war, soweit Ryk das erkennen konnte, eine Art Raststätte und sie bestand vornehmlich aus einem großen Schankraum mit einer breiten, teilautomatischen Theke, an der man per Knopfdruck allerlei Snacks ordern konnte. Breite Fenster erlaubten eine gute Sicht auf die Gegend, die diese Möglichkeit dadurch entlohnte, dass sie absolut nichts bot, was es sich anzusehen lohnte.
Solos blieb im Wagen. Rita hatte ihm aus einem Medikamentenkasten ein Schlafmittel injiziert, um jedes mögliche Risiko zu vermeiden. Der Mann schlummerte bereits friedlich, als das Fahrzeug zum Stillstand kam.
»Martin bleibt zurück. Sollte sich jemand nähern, gibt er Alarm und hält ein Messer an den Hals dieses Penners«, ordnete Rita an. »Wir bringen ihm irgendwelches Fastfood mit, was anderes isst er sowieso nicht.« Martin grunzte bestätigend und schien gar nicht traurig darüber zu sein, dass er der Geselligkeit dieser fröhlichen Runde entkam. Der Gedanke an einen fettigen Burger schien ihn nahezu zu beleben.
Der Raum war spärlich besetzt, nur einige wenige Personen waren über die Tische verteilt, die meisten in eine Mahlzeit oder stille Kontemplation vertieft. Ein gelangweilt aussehender Koch stand in einem Durchgang und nickte den Neuankömmlingen zu, ohne sich zu regen. Die Automatik würde das schon für ihn erledigen. Ein Schild informierte Besucher über die Möglichkeit, ein Zimmer für die Nacht zu mieten. Ryk fand die Aussicht auf ein richtiges Bett sehr attraktiv, wohl wissend, wie unrealistisch dieser Gedanke zum jetzigen Zeitpunkt war.
Sie holten sich etwas Warmes zu essen, Getränke und setzten sich an einen großen Tisch auf die verschlissenen Polster von Stühlen, die wie alles hier schon bessere Zeiten gesehen hatten. Das Essen war nicht schlecht, aber kaum gewürzt und wirkte ebenfalls, als hätte bereits der Zahn der Zeit daran genagt. In der Mitte des Raumes, gruppiert um eine steinerne Säule, die das Dach zu stützen schien, waren Monitore angebracht, die Nachrichten brachten, natürlich die offiziellen Verlautbarungen der Auri. Dominiert wurden die Darstellungen von den Bildern der Absturzstelle, der ständigen Wiederholung der ewig gleichen Abläufe und Gesprächen mit Experten, echten wie selbsternannten, die auf die ewig gleichen Fragen …
Ryk hörte schon gar nicht mehr zu, der Ton war ohnehin angenehm leise gestellt, und widmete sich einer warmen, weichen, gelb angelaufenen Masse, die laut Beschriftung eine »Lasagne« sein sollte, was auch immer das war. Seine Befürchtung war eher, dass sie in dem Moment, da er seine Gabel hineinstechen würde, zum Leben erwachte. Sie tat es nicht, war auch sonst eher unspektakulär, aber warm und der Hunger trieb sie hinein. Das Zeug klebte an seinen Zähnen.
Ein Rauschen störte das Bild auf den Schirmen, dann zuckte es kurz und wurde abrupt unterbrochen. So richtig bemerkte es keiner, aber Ryk sah es sofort und sein Kopf ruckte nach oben, sodass Sia, die ihn ständig im Blickfeld zu haben schien, ebenso reagierte. Sie stieß Rita, die neben ihr saß und ein undefinierbares Sandwich aß, mit dem Ellenbogen an.
Auf den Schirmen war ein Auri zu sehen. Ein maskenhaft starres Gesicht, das im Nichts hing, und wie Eze bei ihrem letzten Gespräch jeden einzeln anzusehen schien. Es sagte nichts, aber aus den Lautsprechern klang eine Ryk unbekannte Musik. Er wusste nicht, wer der Komponist war, aber es handelte sich um einen Meister seines Faches. Die Klänge waren weder aufdringlich noch laut, aber ihre Abfolge ergriff sein Wachbewusstsein und schüttelte es, um sicherzustellen, dass es wirklich wach war, stellte es unter eine kalte Dusche, jagte einen Elektroschock hindurch und setzte es nackt in den Schnee. Jedenfalls richteten sich plötzlich alle Blicke auf den würdevoll dreinblickenden Auri. Die anderen Gäste sahen etwas verwirrt drein. Sie kannten den Mann offenbar nicht.
»Das ist Eze«, flüsterte Rita. »Ich habe keinen Zweifel.«
Niemand widersprach ihrer Einschätzung.
Eine wohltönende und gleichermaßen durchdringende Stimme erklang. »Bürgerinnen und Bürger der Heptarchie. Ich bitte um Aufmerksamkeit für diese Sonderdurchsage. Die Ereignisse der letzten Tage haben für eine große Verwirrung gesorgt und die Katastrophe, die Golden City zugestoßen ist, für Angst. Das ist verständlich und nachvollziehbar, aber die Situation ist jetzt unter Kontrolle. Ich wiederhole: Die Situation ist unter Kontrolle und wo kein Anlass zur Beunruhigung ist, können wir die Zeit jetzt für die Trauer nutzen.«
»Alles unter Kontrolle«, wiederholte Hoimar und lachte trocken auf. Er schaute gar nicht mehr hin. Wurde der Mann fatalistisch oder hysterisch – und gab es in dieser Situation überhaupt einen Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen?
Es war natürlich eine Einbildung, aber für einen Moment wirkte es, als würde der Bildschirm-Auri gerade Hoimar strafend anschauen.
»Im Zuge dieser Ereignisse haben die zuständigen Behörden einige durchgreifende Maßnahmen beschlossen. Es ist mir eine Freude, diese nunmehr bekannt zu geben. Erstens, die Position des Heptarchen wird abgeschafft. Ersetzt wird diese überholte Form der Machtkonzentration durch einen Rat aus Heptarchen, die sowohl die einzelnen Habitate, die Bevölkerung auf dieser Welt, aber auch Crawlertown repräsentieren. Heptarchie für alle, Gleichberechtigung in der Vielfalt, Gerechtigkeit und Einigkeit. Zweitens, die künstliche, unangemessene und schädliche Hierarchisierung unserer Gesellschaft wird revolutionär umgestaltet. Wir postulieren Gleichheit zwischen Auri, Bürgern, Planetenbewohnern und Crawlern, mit gleichem Zugang zu den Ressourcen unseres Systems und den politischen Entscheidungsprozessen. Eine neue Ära bricht an und es ist ein Zeitalter für uns alle, nicht mehr für einige wenige. Fort mit den falschen Privilegien. Wir sind jetzt eine große Gemeinschaft Gleicher!« Es folgten eine Kunstpause und ein aufmunterndes Lächeln.
Ein Gemurmel ging durch den Raum. Einige Gäste schüttelten den Kopf, entweder aus Unglauben oder aus Ablehnung. Der revolutionäre Funke schien irgendwie nicht richtig überzuspringen. Eze benutzte eine Menge Worte, aber er unterschätzte möglicherweise den natürlichen Hang zum Zynismus.
»Da habt ihr eure Revolution«, sagte Sia leise. »Eze schenkt sie euch.«
»Es ist seine«, erwiderte Rita bitter. »Daran hat er ja nun keinen Zweifel gelassen.«
»Drittens!«, ergriff die Auri-Repräsentation auf den Schirmen wieder das Wort. »Aufgrund der bedauerlichen Zwischenfälle und des tragischen Endes von Golden City sind die Produktionskapazitäten des Hives leider ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Es wird daher vom Rat eine Umstellung der wirtschaftlichen Grundlagen unseres Systems auf herkömmliche Produktionsweisen dekretiert. Der Einfluss des Hives auf unsere ökonomischen Grundlagen hat sich als zu groß herausgestellt, die einseitige Abhängigkeit ist infrage zu stellen. Der Rat wird darüber hinaus weitere Grundsatzentscheidungen zum generellen Verhältnis zum Hive fällen. Hierüber werden Sie alle zu gegebener Zeit informiert.«
»Das ist halb gelogen«, entfuhr es Hoimar. »Die Produktionsanlagen sind durch den Absturz nicht beeinträchtigt. Was auch immer dieser Eze vorhat, es scheint, als wolle er ernsthaft gegen den Hive vorgehen oder seine Rolle zumindest begrenzen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser sich das gefallen lässt.«
»Wenn er es merkt«, sagte Uruhard. »Wenn er es merkt, gewiss nicht. Wenn man ihn in Ruhe lässt, den Waffeneinsatz in seiner Reichweite begrenzt und dafür sorgt, dass seine eigene Reproduktion nicht beeinträchtigt wird, kann es gut sein, dass Eze damit zumindest für eine Weile durchkommt.«
Sia nickte. »Der Hive hat schon gewonnen – warum auch immer er gegen die Menschheit gekämpft hat. Er wird diesen Planeten leer saugen und weiterziehen. Im Gegensatz zu Terra habt ihr hier eine interplanetare Zivilisation aufgebaut und könnt überleben, wo wir daheim zum Tode verurteilt sind. Eze hat das erkannt. Das muss man ihm lassen, ich glaube, dass das klappen kann. Es wird einige Veränderungen geben, aber ihr werdet es überleben.«
Sia hatte wohl etwas Hoffnungsvolles sagen wollen, aber die Essenz ihrer Worte kam nicht richtig an.
»Es ist seine Revolution«, wiederholte Rita und verzog das Gesicht. »Wir hätten den Hive weiter produzieren lassen. Ich verstehe nicht, warum er das tut.«
Ryk ebenfalls nicht, aber es interessierte ihn auch nicht richtig. Er wollte von hier fort und hoffte, dass Eze sein Versprechen weiterhin einhalten würde. Er schaute auf sein Gummiessen und schob es fort. Wenn es nach ihm ging, konnten sie jetzt gerne weiterfahren.
Das Gesicht auf den Monitoren sagte noch einige weitere, höchst unwichtige Dinge, Floskeln, die immer geäußert wurden, wenn man sich an »sein« Volk wandte, die aber gut klangen und zur allgemeinen Beruhigung dienten. Auch Eze konnte kein Interesse an Auseinandersetzungen haben. Nach kurzer Zeit hörte die Hälfte der Anwesenden schon nicht mehr zu.
»Solos wird nicht erfreut sein«, sagte Rita, als sie wieder zum Fahrzeug aufbrachen. »Er hat gewiss damit gerechnet, noch verhandeln zu können, irgendwie jedenfalls.«
»Ich bin mir sicher, dass Eze einen guten Platz in herausgehobener Stellung für ihn finden wird. Er wird weder ein Märtyrer noch ein Rebell sein«, sagte Michael. »Solos weiß, wie er sich um sich kümmert, mit oder ohne Hive-Implantat. Er wird sich arrangieren und helfen, die Auri für das neue System an Bord zu bringen. Warm und weich wird sein Fall werden. So einer ist er.« Michael öffnete bei diesen Worten seine Hände und schloss sie sofort wieder, als wolle er jemanden packen und schütteln. »Wir sollten ihn umbringen, schon aus Prinzip. Dann soll passieren, was auch immer passieren mag.«
»Du scheinst wenig Furcht vor dieser Revolution zu haben«, bemerkte Ryk.
Michael zuckte mit den Schultern. »Es gibt eine Veränderung. Manches von dem, was da angekündigt wurde, schmeckt mir durchaus. Ich mache mir aber keine Illusionen: Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit hin oder her, es wird am Ende der allgegenwärtige Eze sein, der die Richtung vorgibt. Wie er selbst schon sagte, es ist seine Revolution.«
Sie bestiegen das Fahrzeug mit dem tief schlummernden Solos, gaben Martin sein Essen und fuhren wieder los, dem Landeplatz der Josepha
entgegen. Rita schwieg jetzt wieder brütend vor sich hin. Ryk befürchtete, dass sie alles andere als bereit war, es Solos gleichzutun und sich zu arrangieren.
Er hoffte, schon weit weg zu sein, wenn sie so weit war, ihre Unzufriedenheit in Taten umzusetzen. Für manche war die Revolution möglicherweise noch nicht vorbei.
Rita sah so aus, als würde sie erst richtig beginnen.