25
Die weitere Fahrt zur Josepha verlief ereignislos, auch als Solos wieder aufwachte. Hoimar erbarmte sich seiner und gab ihm eine Zusammenfassung der öffentlichen Verlautbarung, dann hörte Solos sich den Text noch einmal über die Bordsysteme an. Er wurde offenbar in Dauerschleife gesendet.
Nach dem dritten Hören schalteten sie ab. Solos aber lehnte sich merklich entspannt in seinem Sitz zurück und schloss die Augen. Man sah förmlich, wie er daran arbeitete, sich innerhalb des neuen Regimes zu positionieren, im Zweifel auch ohne Implantat. Michael hatte recht gehabt. Solos würde weich fallen. Ryk fand das enttäuschend, aber es war wohl nur allzu menschlich.
Sie erreichten die Josepha . Das Schiff war mittlerweile von Wachsoldaten umstellt, die so aussahen, als wären sie zu allem bereit. Doch Solos, in Gedanken schon wieder in Amt und Würden, schickte die Truppe fort und versicherte ihnen, alles sei in bester Ordnung. Rita sah aus, als wolle sie sich übergeben, als sie das hörte.
Sie konnten unbehelligt an Bord und starten.
Der Flug in den Orbit war ebenfalls nicht sehr spannend, von der Tatsache einmal abgesehen, dass sie während des Aufstiegs die Gelegenheit hatten, die Wunde zu betrachten, die Golden City in diese Welt geschlagen hatte. Es loderten immer noch Feuer, die sogar aus der Umlaufbahn zu erkennen waren, wenn die Wolkendecke aufriss. Ihr Kurs führte sie direkt nach Pax. Der sehr wache und von einer pervers ansteckenden Vorfreude erfüllte Solos erfuhr von weiteren Ankündigungen der neuen Regierung und sah sich mit der Aussicht konfrontiert, zwar nicht mehr der Chef aller Chefs werden zu können, aber trotzdem eine wichtige Position zu erfüllen, wenn er denn wollte. Er musste natürlich weiterhin nach außen zeigen, dass er mit der Gesamtsituation unzufrieden war, um ein wenig die Form zu wahren, vor allem jenen gegenüber, die sich als nicht so flexibel erweisen würden wie er. Er begann bereits, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren, ein Beispiel für die geschmeidige Anpassungsfähigkeit, die einen guten Politiker ausmachte. Er würde sich gut machen als Ratsmitglied und als Brücke zwischen dem alten und dem neuen System und er würde viele der Privilegien, die er in dem einen genoss, auf das andere übertragen.
Und Eze würde ihn lassen. Ihn benutzen, gewiss, aber es war ein Geschäft, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Als sich die Josepha dem Dock näherte, war Solos richtiggehend unternehmungslustig. Er war bereit für die neue Herausforderung.
Sie dockten problemlos an, das Ende einer ereignisreichen Reise, und Ryk war froh, als er das Raumschiff verlassen durfte. Sie waren unweit der Stelle angekommen, an der sie damals unter der Obhut von Solos eingetroffen waren, und Sia weigerte sich, von diesem abzulassen, bis selbst Rita ihr mitteilen musste, dass es in Ordnung sei und es keinen Zweck mehr erfüllen würde, dem Mann den Kopf abzuschneiden. Tatsächlich machte niemand Anstalten, sie zu überfallen, zu inhaftieren oder sonst wie zu behindern. Eze hatte die Sache gut im Griff und jene, die etwas zu entscheiden hatten – oder das zumindest glaubten –, waren sich des Drohpotenzials der KI bereits recht deutlich bewusst. Ryk spürte eine wachsende Ungeduld in sich. Er wusste nicht, wie sich das Leben hier entwickeln würde, und Pax hatte immer noch seine Annehmlichkeiten und Reize. Er wollte vermeiden, ihnen jemals wieder zu erliegen. Er wollte von hier weg.
Die Stimmung in Pax war eher schlecht. Das war wohl nicht anders zu erwarten gewesen. Einigkeit und Recht und Freiheit waren ja immer ganz schöne Worte, wenn man selbst die Vorteile genoss und sich darüber freuen konnte, dass man nicht zu jenen gehörte, die das nicht taten. Wenn aber plötzlich alle, zumindest deklaratorisch, in den Genuss des Ganzen kommen sollten, war die Begeisterung eben verhalten.
Jeder, dem sie begegneten, sah grimmig und verkniffen aus. Die anderen bemerkten es auch.
»Es ist, als ob der Vorrat an Freiheit begrenzt ist und man etwas verliert, wenn man jemandem davon abgibt«, sagte Ryk.
»Nein«, erwiderte Uruhard lächelnd. »Freiheit ist nur nicht mehr so süß, wenn alle sie haben.« Er sah es also genauso.
Sie wurden nicht behelligt. Sie wurden auch nicht willkommen geheißen. Tatsächlich wirkte es so, als würden sie alle gar nicht existieren. Niemand kümmerte sich um sie. Selbst Rita und Hoimar nicht, die plötzlich, unvorbereitet und etwas unwillig Leute von Rang waren. Die Beförderung kam schnell und schmerzlos und ohne die Frage, ob es denn genehm sei. Als sie die Füße auf den Metallboden von Pax setzten, wurde ihnen mit zusammengebissenen Zähnen und gequälter Höflichkeit berichtet, dass sie beide Mitglieder des neuen Rates seien, neue Heptarchen, ernannt durch Eze, als Vertreter der Crawler und der Oberflächenbewohner. Amt und Würden. Nichts führte zu einer stärkeren Transformation einer Persönlichkeit als diese Art von Ehrung und Anerkennung. Ryk kommentierte es nicht, aber kurz nachdem die beiden Rebellen von dieser wunderbaren Fügung erfahren hatten, wirkten sie sogleich viel entspannter und zuversichtlicher. Der Mensch, so war Ryks Schlussfolgerung, war tief in seinem Herzen eine Kreatur der Korruption, und er schloss sich selbst in dieses Urteil ganz bewusst mit ein.
Der neue Rat hatte alle Hände voll zu tun, um die Transformation einer Gesellschaft zu organisieren, die von den Ereignissen überrollt wurde und die die meisten auch nicht richtig verstanden. Rita, Hoimar, die Zwillinge und Halberg, der besonders froh war, dass er noch am Leben war, verabschiedeten sich mit einem Gruß, einem Händeschütteln, einem Schulterklopfen, einer launigen Bemerkung, die den Anschein erwecken sollte, man freue sich darauf, sie eines Tages wiederzusehen, aber es fehlte die Aufrichtigkeit. Der Trennungsschmerz war daher nicht groß, nicht stärker jedenfalls als der Schorf, dessen Schmerz Ryk seit geraumer Zeit wieder tapfer zu ertragen versuchte. Er entsann sich seiner Hoffnung, die Auri würden ihn von dieser Krankheit befreien, und wenn ihn etwas enttäuschte, dann die Aussicht, dass das wohl ein unerfüllter Traum bleiben würde.
Ihnen wurde Zutritt zur Marcus Aurelius gewährt und das war etwas, das Ryks Aufmerksamkeit dann so stark beanspruchte, dass er über Korruption und emotionsloses Händeschütteln nicht mehr nachdachte. Sie durften das Schiff betreten und diese Tatsache alleine weckte seine stille Leidenschaft für die Raumfahrt wieder. Es war so ein wunderbarer Kontrast zu den alten, mühsam mit Klebeband zusammengehaltenen Mühlen, derer sich die Crawler bedienten. Die uralte Korvette war durch die gute Pflege hervorragend erhalten, innen wie außen, von peinlicher Sauberkeit, ohne jedes Anzeichen des Alters.
Ein Kurator erwartete sie, ein schlaksiger, jung wirkender Mann mit anachronistischer Brille, dessen Augen leicht in verschiedene Richtungen zu blicken schienen. Er war schlecht gelaunt, was nachvollziehbar war. Jemand war im Begriff, ihm sein Baby wegzunehmen, den Gegenstand seiner professionellen Bemühungen seit vielen Jahren, und er sah das gewiss als einen persönlichen Affront an. Außerdem musste er sich danach wahrscheinlich in ein neues Wissensgebiet einarbeiten und das war für ihn gewiss nicht einfach, denn trotz seines jungenhaften Aussehens war er gewiss schon deutlich über fünfzig. In dem Alter lernte man nur noch, wenn man wie Uruhard vom Wissen besessen war.
Aber Pflicht war Pflicht und er führte die Anweisungen jener aus, die die Autorität innehatten, egal ob mit Edelstein an der Schläfe oder ohne. Der Kurator hatte keinen, trug dafür aber, und das betonte er mehrmals zur Einführung, einen Doktortitel. Ryk wusste erst nicht, was das genau bedeutete. Der etwas düpiert wirkende Mann erklärte es ihnen mit großer Geduld. Er musste feststellen, dass Promotionen – wie auch Universitäten – auf Terra wohl schon vor geraumer Zeit aus der Mode gekommen waren. Diese Art von Unwissenheit wurde leider auch als mangelnder Respekt ausgelegt und das verbesserte die Laune des Bebrillten keinesfalls.
»Ich soll Ihnen das Schiff …«, der Doktor zögerte, »übergeben. Das ist recht absurd. Ich verstehe diese Anweisung nicht, sie ist sinnlos.« Außerdem gefiel sie ihm nicht, aber das blieb unausgesprochen.
»Absurd?«, echote Uruhard, der hier in seinem Element war und dauernd mit sanften Bewegungen irgendwelche Dinge berührte. Sein Wissendurst war aktiv und er verschlang seine Umgebung förmlich mit den Augen. Da war der Kurator eher Ablenkung denn Hilfe.
»Das Schiff kann nur innerhalb des Systems operieren und das nur mit einem erfahrenen Piloten.« Der Kurator sah abschätzend in die Runde. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber so einer wird sich unter Leuten Ihrer Herkunft doch wohl eher nicht finden. Und wo wollen Sie hin? Zu diesen Crawlern?«
Was er genau von diesen Crawlern hielt, ließ sich seinem Tonfall zweifelsfrei entnehmen. Es machte ihn nicht sympathischer.
»Das stimmt«, sagte Sia, die sicher keinen Streit wollte. Ihre sanfte und einschmeichelnde Stimme, wie immer ein Instrument, auf dem sie virtuos zu spielen verstand, beruhigte den Doktor ein wenig, denn er nickte ihr zu, ohne eine weitere Spitze abzulassen.
»Wir werden das Schiff nicht steuern. Es bekommt seine KI-Routinen zurück. Und dann wird auch der Hyperantrieb wieder funktionsfähig sein«, erklärte Uruhard beiläufig. Er konnte seine Augen weiterhin nicht von den Anlagen lassen. »Eze wird dafür sorgen.«
Die Erwähnung der KI, die hier gerade die Regierung übernommen hatte, verschlechterte die Laune des Kurators noch mehr. Aber das war die neue Autorität und da hielt er sich mit Bemerkungen zurück. Recht haben wollte er allerdings trotzdem. »Ich glaube nicht, dass das geht«, sagte er schnippisch. »Das hatten wir noch nie. Das war noch nie so. Das kennen wir gar nicht.«
Es fehlte jetzt nur noch ein »Das wäre ja noch schöner!«, aber das verkniff der Mann sich wohlweislich. Er machte im Grunde einen hilflosen Eindruck, ein Objekt der Ereignisse, kein Handelnder, sondern jemand, der nichts weiter erfüllte als eine Funktion. Man durfte ihm nicht böse sein.
»Ein Irrtum«, sagte eine Stimme aus dem Nichts, die den Kurator zusammenzucken ließ. Er sah sich suchend um und wirkte dabei so hilflos, dass Ryk beinahe Mitleid bekam. Eze, das wurde mehr und mehr klar, war nun überall, sah alles, hörte alles und konnte mit jedem sprechen, eine die neue Ordnung dieses Systems durchdringende Existenz. Und auch das Schiff würde gewiss ein Abbild der Persönlichkeit dieser KI sein, hoffentlich nicht allzu dominierend. Noch mehr vollelektronische Jovialität ertrug der Springer im Moment nicht.
Der Kurator murmelte etwas.
»Du mich auch!«, erklärte Eze durchdringend, dann kicherte die KI. Das Gesicht des Kurators zeigte einen interessanten, fast schon besorgniserregenden Farbwechsel. »Aber das würde für uns beide eher schwierig zu verwirklichen werden, also bleibt es ein schöner Traum.«
Weitere Farbwechsel.
Eze fuhr fort: »Die KI-Routinen werden aufgespielt. Die Systemanpassung braucht eine Weile, da hat unser Freund hier recht. Dies ist das erste Mal seit Hunderten von Jahren, dass die Marcus Aurelius wieder zu richtigem Leben erwacht. Das ist etwas, bei dem man nicht einfach so den Schalter umlegt. Ich rechne aber mit Startbereitschaft in zwei bis drei Stunden, genug Zeit, um die Vorratskammern zu füllen, Stützmasse zu tanken und den Reaktor warmlaufen zu lassen. Ich kümmere mich um alles. Mein Versprechen gilt.«
Die Terraner sahen sich bedeutungsvoll an. Vorfreude kam auf, anders als bei ihrer etwas überstürzten Abreise von der Erde. Hier verlief sie mit Vorräten und Stützmasse, auch wenn Ryk nicht einmal ahnte, was Letzteres überhaupt war.
»Es ist ein Stück Tradition«, begehrte der Kurator auf. Es klang etwas kläglich, was ihm wohl auch selbst auffiel. »Es ist, als würde man uns das Herz aus dem Leib reißen. Hier wird Erinnerungskultur zerstört. Hier wird uns ein Symbol unseres Überlebens geraubt. Es wird eine tiefe Wunde …«
»Jajaja«, machte Eze, den nichts und niemand provozieren konnte. Er stand über allem und jedem und wie jeder echte Gott hatte er es nicht nötig, zornig oder rächend zu sein. Dazu bedurfte es der Eitelkeit und die KI hatte möglicherweise ein eigenes Machtbewusstsein, eitel aber war sie nicht. »Sie helfen den Leuten hier, in die Gänge zu kommen, und ich verspreche Ihnen, ich grabe aus dem Trümmerfeld da draußen irgendwas aus, was Sie künftig bemuttern und sinnlos überhöhen können.«
Eze lachte und dann, obgleich sich im Grunde nichts geändert hatte, spürten alle, dass er seine Aufmerksamkeit nunmehr anderen Dingen zugewandt hatte und sie ihren Geschäften überließ.
Der Kurator starrte ins Nichts. Er fühlte sich nicht respektiert. Und er hatte recht.
Uruhard, der in dem Mann sicher am ehesten eine verwandte Seele vermutete, trat an die Seite des Mannes und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Wenn wir Glück haben, erwecken wir den Admiral. Er wird uns alle vom Joch des Hives befreien.«
Der Kurator sah den Wachtmeister verständnislos an. »Welches Joch?«
Ryk schüttelte den Kopf. Mit diesem Mann kamen sie nicht weiter. Er beschloss, den Frustrierten zu vergessen und sich mit der Aussicht zu befassen, bald in diesem wunderbaren Raumschiff fliegen zu können, und diesmal nicht als blinder Passagier. Diese Aussicht erfüllte ihn, sobald er nur daran dachte, mit einer unbändigen Begeisterung. Er wollte jetzt weg von hier, und das so schnell wie nur möglich.
Sie ließen sich von einem sehr widerwilligen Museumsangestellten eine Einweisung geben und es gab nur wenige Phasen im Leben des Springers, an die er sich erinnern konnte, in denen er so aufmerksam und wissbegierig zugehört hatte. Er kannte nicht jedes Wort, das der Mann verwendete, und es wurde klar, dass sie nicht mehr als glorifizierte Passagiere sein würden, weit entfernt davon, dieses Schiff ernsthaft selbst zu steuern – aber das war ja keine grundsätzlich neue Erkenntnis für sie.
Eine Stunde verging, dann verließ der Kurator, dessen Laune sich während seines Vortrages beständig verschlechtert hatte, das Schiff, drehte sich noch einmal um, warf der Korvette einen letzten, von wehmütiger Tragik erfüllten Blick zu und verschwand mit hängenden Schultern.
Uruhard sah in die Runde und hob die Schultern. »Ich habe kaum etwas verstanden.«
»Ich habe auch nur wenig verstanden«, gab Sia zu. Sie wies auf eine Konsole. »Das ist, glaube ich, eine Kaffeemaschine.«
Momo grunzte etwas. Er hatte möglicherweise gar nicht richtig zugehört und war vornehmlich auf der Suche nach einer geeigneten Sitzmöglichkeit gewesen.
»Es ist wohl so«, sagte Ryk, dessen fiebrige Neugierde einer gewissen Ernüchterung gewichen war. »Das Schiff wird uns fliegen. Wir können mit ihm reden und rein theoretisch wird es unseren Anweisungen folgen. Oder auch nicht. Und wenn nicht, dann können wir nichts dagegen tun.« Er machte eine betonte Pause, um zu sagen, was ihn dabei wirklich beunruhigte: »Wir werden nicht einmal wissen, ob wir dahin fliegen, wo wir tatsächlich hinwollen.«
Diese Erkenntnis war ein wenig besorgniserregend.
Sia nickte. »Das fasst es wohl einigermaßen zusammen.« Sie schaute wieder auf die Maschine mit ihren schimmernden Panels. »Trotzdem möchte ich wissen, wie dieser Kaffee schmeckt.«
Sehr viel anderes gab es für sie in der Tat nicht mehr herauszufinden.
Das Schiff verließen sie bis zu ihrer Abreise nicht. Auf Pax gab es nichts mehr für sie.