Kapitel 24

Léonie saß in ihrem plüschigen Morgenmantel an dem großen Küchentisch, der vom Licht der Sonnenstrahlen erhellt wurde. Sie trank ihren zweiten Kaffee und streichelte dabei Gaston, der schnurrend auf ihrem Schoß lag. Sie war noch müde und litt ein wenig unter Kopfschmerzen. Nachdem der Kommissar gestern Abend weggefahren war, hatten Georges und sie zur Erbauung noch ein Gläschen Vieille prune getrunken, einen Pflaumenschnaps, den ihr Cousin aus Bergerac selbst brannte. Ist doch nur Obst, scherzte er immer – und das hatte auch Georges gesagt, als er ihre Gläser das dritte oder vierte Mal füllte.

Vor ein paar Minuten hatte Léonie im Krankenhaus angerufen, um sich nach Marie zu erkundigen, aber man hatte ihr gesagt, dass ihre Großnichte gerade untersucht werde. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zu warten.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Es war Georges, der an die offene Küchentür pochte und eintrat. Auch er sah ein bisschen mitgenommen aus. Sein Gesicht wirkte heute besonders schmal und lang.

»Bonjour, nimm dir einen Kaffee!«

Er murmelte etwas Unverständliches und fragte dann, als er sich mit seiner Tasse neben sie setzte: »Etwas von Marie gehört?«

»Noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob ihr Vater schon angekommen ist. Er wollte direkt zu ihr ins Krankenhaus fahren.«

»Wie lange ist es her, dass Thomas in Saint-André war?«

»Bestimmt über dreißig Jahre. Seit der Trennung von Loren.«

»Der wird sich wundern, wie alt wir geworden sind.«

»Da sagst du was.« Sie rechnete kurz im Kopf. »Der ist allerdings heute viel älter, als wir beide es damals waren. Wir waren damals in unseren Vierzigern, und er ist jetzt Anfang sechzig. Da siehst du, wie die Zeit vergeht.«

Eine Erkenntnis, die Georges allerdings nicht weiter zu beschäftigen schien. Er drehte gedankenverloren den Löffel in seiner Tasse.

Léonie dachte an Loren, die sie natürlich ebenfalls angerufen hatte. Als ehemalige Krankenschwester hatte sie, anders als ihr Ex, ganz pragmatisch reagiert und im Krankenhaus von Sarlat angerufen. Maries Zustand war nicht besorgniserregend, also wollte sie nicht überstürzt ins Périgord kommen. Dass man versucht hatte, ihre Tochter umzubringen, schien sie nicht mit ihrer Tante besprechen zu wollen, und Léonie hatte sich deshalb nicht getraut, darauf zu bestehen. Loren wollte stattdessen ihre Tochter heute anrufen und sich alles in Ruhe von ihr erzählen lassen. Vielleicht ist das auch besser so, dachte Léonie. Typisch Loren! Sie liebte ihre Tochter, aber mehr aus der Distanz, und sie liebte vor allem ihr Alleinsein. Das behauptete sie jedenfalls.

Offenbar wurde es Gaston zu unruhig, jetzt, wo Léonie nicht mehr allein hier saß, und er sprang von ihrem Schoß. Das nahm sie zum Anlass, ebenfalls aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. Sie schaute in den Garten und sah auf die reifen Tomaten und Auberginen, die bunt im großen Gemüsebeet leuchteten.

»Wir müssen dringend ernten. Kommst du später mit?«, fragte sie Georges. »Ich glaube, ein bisschen frische Luft täte uns beiden gut.«

Er grunzte etwas, das wohl ein Ja bedeuten sollte.

Léonie war ein wenig irritiert und dachte: Vielleicht verbringt er doch zu viel Zeit mit Augustine.

*

Die Kanzlei von Maître Delmas war natürlich noch geschlossen und würde erst um neun Uhr öffnen, also in einer halben Stunde. Leblanc klopfte dennoch an die Tür, falls der Notar, wie seine Frau angedeutet hatte, vielleicht schon da war. Doch niemand zeigte sich, und es stand auch kein Auto auf dem Parkplatz. Der Kommissar blieb unentschlossen vor der Eingangstür stehen und wählte die Handynummer des Notars, die dessen Frau ihm gegeben hatte. Die Mailbox sprang sofort an. Delmas hatte eine monotone Stimme, und der Ton war eher bestimmend als freundlich.

Leblanc schaute noch einmal auf die Uhr. Im Moment konnte er nichts tun, also entschied er sich dafür, einen Kaffee trinken zu gehen. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Café geöffnet, da würde er warten. Während er die Straße überquerte, klingelte sein Telefon. Es war Martin.

»Chef, ich habe in der Tat einen Delmas in den Mails von Madame Lacroix gefunden, aber nicht den Notar, sondern einen Henri Delmas.«

Leblanc stutzte. Jemand hatte in den vergangenen Tagen einen Henri erwähnt. Wer war das? Er überlegte. War das Marie? Nein. Philippe? Auch nicht. Hélène? Irgendetwas rührte sich in seinem Gedächtnis. Vielleicht sollte ich mir manchmal doch ein paar Notizen machen, dachte er selbstkritisch. Aber dann erinnerte er sich wieder. Es war Madame Durand gewesen! Sie hatte von einem Henri gesprochen, dem ihr Vater vertraute. Konnte das ein Zufall sein?

»Was steht in dieser E-Mail?«

Er hörte das Klicken der Computertastatur am anderen Ende der Leitung.

»So, da ist sie. Die ist kurz. Nur drei Zeilen.«

»Und was steht drin?« Bitte einfach nur vorlesen, ohne irgendwelche Kommentare und Fragen vorweg, dachte Leblanc. Er wollte aber Martin, der am frühen Morgen schon so aktiv war, nicht brüskieren und wartete geduldig.

»Soll ich vorlesen? Sie ist wirklich ganz kurz.«

»Gern!«

»Betreff: Seltenes Sammlerobjekt. Chère Madame, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Jeanne Calment unterschrieben hat. Mit freundlichen Grüßen, Henri Delmas.«

»Mehr nicht? Kein Anhang?«

»Nein.«

»Und von wann ist die Mail?«

»Vom 31. August. Moment – das war ja nur ein Tag vor dem Mord«, stellte Martin aufgeregt fest.

Das konnte kein Zufall sein, dessen war sich Leblanc sicher. Und die E-Mail war höchst aufschlussreich.

»Erinnern Sie sich an Jeanne Calment, Martin? Sie hat vor etlichen Jahren Schlagzeilen gemacht.«

»Das war doch diese Frau, die über hundertzwanzig Jahre alt geworden ist und den Mann, der ihre Wohnung auf Rentenbasis gekauft hatte, bei Weitem überlebt hat. Die Familie des Mannes hat letztendlich mehr als den doppelten Wert für die Immobilie bezahlt.«

»Genau die ist es.«

»Und was schließen Sie daraus, Chef?«

»Ich vermute, Jeanne Calment ist ein Codewort. Rentenbasis – das dürfte das Stichwort sein.«

»Sie glauben, dass hier Madame Durand gemeint sein könnte?«

»Ja, genau.« Leblanc wusste, dass sie nun einen entscheidenden Schritt weitergekommen waren. Vielleicht würde er diesem Tag doch noch etwas abgewinnen können. »Ich rufe Sie gleich zurück. Versuchen Sie in der Zwischenzeit herauszufinden, wem diese Mailadresse gehört.«

Gleich im Anschluss rief Leblanc seinen Kollegen Fred an. Der Rechtsmediziner antwortete zum Glück sofort. Er hatte Rücksprache mit Maries Arzt im Krankenhaus gehalten und bestätigte ihm, dass Marie und Madame Lacroix vermutlich mit derselben Schnur stranguliert wurden. Da Maries Wunde im Krankenhaus sofort desinfiziert worden war, ließen sich keine Partikel mehr nachweisen, aber der Umfang und die Beschaffenheit der Abschürfungen der Haut wiesen auf dieselbe Schnur aus Kunststoff. Das bedeutete wohl, dass Julien Robert nicht der Täter sein konnte. Abgesehen davon, dass ein überzeugendes Motiv fehlte, hatte er ein Alibi für den Mord an Madame Lacroix.

Leblanc musste sich dringend Maître Delmas vorknöpfen. Er holte tief Luft und rief den Präfekten an. Der Politiker war zunächst pikiert, weil der Kommissar ihm vorhin nicht gleich geantwortet hatte. Er war es gewohnt, dass alle gleich nach seiner Pfeife tanzten. Leblanc entschuldigte sich für die verpassten Anrufe und schützte Probleme beim Aufladen des Akkus vor. Der Präfekt gab ihm daraufhin ein paar sinnlose Tipps in Sachen Handy-Ladegeräte. Leblanc ließ die belanglosen Belehrungen über sich ergehen und rief anschließend den Staatsanwalt an, um die Durchsuchung von Maître Delmas’ Kanzlei zu besprechen. Erwartungsgemäß gefiel das dem Staatsanwalt gar nicht, denn es hatte immer einen bitteren Beigeschmack, wenn der Träger eines öffentlichen Amtes möglicherweise kriminell war. Dennoch willigte er schließlich ein. Er wollte sich gleich bei der Notarkammer melden, denn das französische Recht verlangte, dass eines ihrer Mitglieder der Durchsuchung einer Notariatskanzlei beiwohnte. Leblanc bedankte sich und versprach sich zu melden, sobald er mehr wüsste.

Endlich konnte er ins Café gehen, wo er sich einen Grand Crème und zwei Croissants bestellte. Er hatte einen Bärenhunger. Im Nu hatte er die Hörnchen aus Blätterteig verspeist. Während er auf einen zweiten Kaffee wartete, rief er Martin an und gab ihm die Anweisung, Philippe Lavaud aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Denn wenn Marie höchstwahrscheinlich mit derselben Schnur gewürgt worden war, die man bei der Strangulation von Madame Lacroix benutzt hatte, dann war auch mit hoher Wahrscheinlichkeit in beiden Fällen ein und derselbe Täter am Werk gewesen. Lavaud hatte jedoch gestern in Untersuchungshaft gesessen und daher Marie unmöglich etwas antun können. Außerdem hatte er beim Verhör glaubwürdig gewirkt. Dass der junge Mann wieder freikam, gab Leblanc ein gutes Gefühl.

*

Marie hatte den Arzt ohne große Mühe davon überzeugen können, sie heute schon zu entlassen. Ihr ging es gut, und da sie jetzt nur noch ein Pflaster auf der Stirn hatte, sah sie auch nicht länger aus wie eine Schwerverletzte. Zu Hause würde sie den Verband um den Hals abnehmen und die Schürfwunde unter einem Schal verbergen. In ein paar Tagen dürfte von den Verletzungen kaum noch etwas zu sehen sein. Abzuwarten war, wie sie den Mordversuch psychisch verarbeiten würde. Der Arzt hatte ihr während der Visite dringend empfohlen, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, da sie schließlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Sie wusste selbst, dass sie sich noch ernsthaft damit auseinandersetzen musste. Wenn man es versäumte, würde alles wie ein Bumerang zurückkommen. Das hatte sie in den letzten Jahren bei manchen Kollegen erlebt, die versucht hatten, traumatische Erlebnisse einfach zu ignorieren und zur Tagesordnung überzugehen. Also gab sie sich das Versprechen, es ab nächste Woche ernsthaft anzugehen. Aber jetzt wollte sie erst einmal die Zeit mit ihrem Vater genießen und auch endlich erfahren, wer sie angegriffen hatte.

Als sie und ihr Vater das Zimmer verließen, wunderte sich der Polizist, der vor ihrer Tür Wache hielt. Er hatte keine Nachricht erhalten, dass sie das Krankenhaus verlassen durfte, und bat sie deshalb zu warten, bis er den Kommissar informiert habe. Marie verstand, der Mann wollte keinen Fehler machen, und blieb geduldig stehen, obwohl sie am liebsten gleich losgerannt wäre. Krankenhäuser hatte sie noch nie gemocht.

Während des Telefonats reichte der Polizeibeamte ihr plötzlich sein Handy, und sogleich hörte sie Michel Leblancs Stimme.

»Du verlässt also schon das Krankenhaus, ja?«, fragte er.

»Der Arzt sah keinen Grund, mich weiter hierzubehalten«, erklärte sie ihm, während ihr Vater sich freundlich bei dem Polizisten für die Bewachung seiner Tochter bedankte.

»Nun gut, er muss es ja wissen«, sagte Michel in abweisendem Ton. »Da dein Angreifer noch frei herumläuft, wird dich der Polizeibeamte nach Hause begleiten. Ich rufe im Revier von Montignac an, damit sie Kollegen zu dir schicken. Ich bitte dich, nein, ich befehle dir, zu Hause zu bleiben.«

Marie musste unwillkürlich lächeln. Auch wenn sein Ton kühl war, machte er sich offenbar immer noch Sorgen um sie. Seine wie auch immer gearteten Gefühle für sie waren also nicht ganz verschwunden.

»Gut, ich bleibe zu Hause. Gibt es etwas Neues?« Mit der Frage wagte sie sich ziemlich weit vor, aber ihre Neugierde war einfach zu groß.

»Nein«, antwortete er kurz und bündig. Sie nahm an, dass er ihr nicht die Wahrheit sagte und auch nicht vorhatte, ihr etwas zu erzählen.

»Okay. Du weißt ja, wo du mich findest. Bis später«, sagte sie deshalb nur und beendete das Gespräch. Wahrscheinlich hatte sie es sich wieder einmal mit ihm verscherzt.

Schweigend folgte sie ihrem Vater zum Auto, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und kaute dabei gedankenverloren auf ihrer Wange. Als sie losfuhren, tauchte im Rückspiegel der für Marie abgestellte Polizist in seinem Streifenwagen auf und folgte ihnen.

»Ist was?«, fragte ihr Vater.

»Nee, alles gut.«

»Du weißt, dass du deinen geliebten Vater nicht anlügen sollst. Also, raus mit der Sprache! Warum beißt du dir wieder in die Wange?«

Er kannte sie einfach zu gut. Ihm hatte sie noch nie etwas vormachen können. Also hörte sie auf, sich selbst zu malträtieren, und erzählte ihm, wie sie Michel vor fünf Tagen kennengelernt hatte und wie sie seitdem in gewisser Weise Katz und Maus miteinander spielten. Die Tatsache, dass sie Kollegen waren und sich über einen Kriminalfall kennengelernt hatten, machte es nicht einfacher, hob sie hervor.

»Du hast dich also verguckt?« Ihr Vater schaute sie lächelnd an. »Sympathisch ist er ja. Mir wäre es aber lieber, dass Monsieur le Commissaire den Täter findet, der meine Tochter angegriffen hat, bevor er ihr den Kopf verdreht.«

»Von ›verdrehen‹ kann nicht die Rede sein. Ich glaube, wir finden uns gegenseitig interessant. Können wir es bitte dabei belassen? Ansonsten dreh ich den Spieß einfach um und frage dich, wie es bei dir an der Liebesfront aussieht.«

Er lachte. »Das kannst du gern! Still ruht der See, und ich bin froh, meine Ruhe zu haben.«

Wahrscheinlich stimmte das sogar – ihr Vater wirkte ausgeglichen. Dennoch – sie hatte seine frühere Freundin gemocht. Leider hatten sie sich durch die ständigen Selbstfindungsseminare, die jene Herzensdame unermüdlich besuchte, mehr und mehr auseinandergelebt. Ihr Vater hatte es zunächst mit Humor genommen, doch irgendwann war ihm das Ganze zu kompliziert geworden.

»Und, wie geht es deiner Mutter?«, fragte er unvermittelt. Länger wollte er über sein Liebesleben also nicht reden. Da war seine Ex ein gutes Ablenkungsmanöver.

»Sie hat sich von Mamies Erbe eine Wohnung in Nizza gekauft und freut sich, dass sie die Rente erreicht hat und keine Nachtschichten im Krankenhaus mehr schieben muss. Außerdem trägt sie jetzt kurzes Haar und färbt es sich nicht mehr. Das steht ihr gut.«

»Hast du sie denn kürzlich gesehen?«, wunderte er sich.

»Nein, nicht mehr seit Mamies Beerdigung. Aber wir skypen ab und zu. Ich glaube, ihr geht es besser als je zuvor. Auf jeden Fall wirkt sie viel entspannter.«

»Weiß sie, was dir passiert ist?«

»Léonie hat sie bestimmt angerufen.«

»Und? Hat sie sich bei dir gemeldet? Oder kommt sie? Wetten, dass nicht. Sonst wäre sie schon längst hier.«

»Papa! Jetzt sei nicht so negativ. Maman hat sich verändert.«

»Äußerlich vielleicht ja. Aber ihren Egoismus hat sie bestimmt nicht abgelegt.«

Marie erwiderte nichts. Sie hatte ihren Frieden mit ihrer Mutter geschlossen, was ohne ihre Großmutter sicherlich schwieriger gewesen wäre. Deren Liebe hatte vieles ausgeglichen.

Marie schaute aus dem Fenster und betrachtete die parkartige Landschaft, die friedlich an ihnen vorbeizog.

»Ach, schau nur, die Schwalben da, die sich auf der Stromleitung versammelt haben«, sagte ihr Vater unvermittelt. »Als Kind hast du immer ›Schalben‹ gesagt. Das war sehr süß.« Offenbar wollte er das Thema Loren auch nicht vertiefen.

Sie schwiegen eine Weile, und es war schön, einfach so nebeneinanderzusitzen. Ihr Vater war ein guter Autofahrer, und Marie fühlte sich in Sicherheit. Allerdings wunderte sie sich, dass er sich nicht einmal nach dem Weg erkundigt hatte.

»Du erinnerst dich noch an den Weg nach Saint-André?«, fragte sie.

»Ich glaube, ja. Früher kannte ich hier jeden Feldweg.«

»Und, hat sich hier viel verändert in all den Jahren?«

»Geht so. Es ist einiges gebaut worden, und überall gibt es jetzt Kreisverkehre. Aber ich habe bis jetzt nichts gesehen, was mich schockiert oder traurig gestimmt hätte. Das Périgord bleibt ein ganz besonderes Fleckchen Erde. Wunderschön. Ich hätte dich schon viel früher hier besuchen sollen. Du warst ja oft genug in Saint-André.«

Marie wusste genau, warum er es nicht getan hatte, und fragte deshalb nicht weiter nach. Verletzte Eitelkeit!

*

Leblanc sah durch eines der Fenster des Cafés, wo er in Ruhe seinen Kaffee trank, bis jemand kommen und Delmas’ Büro aufschließen würde. Zwei Streifenwagen standen schon vor der Kanzlei. Er rief Martin noch einmal an, der auf dem Weg nach Montignac war, um ihm bei der Durchsuchung zu assistieren. Er bat ihn, bei seiner Ankunft den Abgesandten der Notarkammer in dem Fall zu unterweisen, sodass sie gleich loslegen konnten.

»Klar, Chef, ich bin in fünf Minuten da.«

Martin war in solchen Dingen viel geduldiger als er und würde mit seiner freundlichen Art dafür Sorge tragen, dass sie ihrer Arbeit ungestört nachgehen konnten. Leblanc nahm den letzten Schluck seines Kaffees und musste unweigerlich an Marie denken. Sein Ärger hatte sich wieder gelegt. Sie war das Opfer, das durfte er nicht vergessen.

Kurz darauf beobachtete er, wie Martin hinter den Streifenwagen parkte und ein weiteres Auto sich gleich dahinterstellte. Eine junge Frau mit Aktentasche stieg aus dem Wagen und ging auf die Kanzlei zu. Daraufhin verließ Martin ebenfalls sein Auto und sprach sie an.

Dann sah Leblanc Delmas’ Sekretärin eintreffen. Er legte rasch ein paar Münzen auf den Tisch und eilte zu Martin und der Notarin, die für ihre Innung der Durchsuchung beiwohnen würde. Zum Glück wirkte sie eher zurückhaltend und würde sie in Ruhe arbeiten lassen. Er wandte sich an die Sekretärin, die sie allesamt ratlos ansah. Mit ihr würden sie nun die Kanzlei betreten können.

»Bonjour, Madame. Commissaire Leblanc. Sie erinnern sich? Ich war gestern Nachmittag schon einmal hier.«

»Bon… bonjour«, grüßte sie leicht verschreckt zurück.

»Ich bin auf der Suche nach Maître Delmas. Wissen Sie, wo er ist?«

»Für gewöhnlich ist er morgens immer vor mir in der Kanzlei. Aber da sein Wagen hier nirgendwo zu sehen ist … Vielleicht ist er aufgehalten worden.« Sie wirkte angespannt.

»Wir möchten uns sein Büro anschauen.«

»Das geht nicht. Ich darf Sie da nicht reinlassen«, sagte sie flehentlich, öffnete die Tür und versuchte, ins Haus zu entschwinden. Doch Leblanc machte einen Schritt nach vorn und hielt die Tür auf, die sie zuwerfen wollte.

»Doch, das dürfen Sie. Sie müssen es sogar. Es ist vom Staatsanwalt genehmigt. Sie tun genau das Richtige, glauben Sie mir.« Er stellte ihr die Notarin und Martin vor und lächelte ihr aufmunternd zu.

Sie nickte zaghaft, und gemeinsam gingen sie, gefolgt von den beiden Polizisten, in die Kanzlei.

»Wissen Sie, mit wem Ihr Chef gestern Nachmittag gegen fünf Uhr verabredet war?«, fragte er.

»Nein, das hat er mir nicht gesagt. Der Termin hat sich wohl spontan ergeben. Da war nichts im Kalender eingetragen.«

»Hatte zuvor jemand angerufen?«

Sie überlegte und spielte dabei mit der Perlenkette, die sie um den Hals trug.

»Ja«, antwortete sie schließlich. »Marie Mercier aus Saint-André.«

»Und wissen Sie, was sie wollte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe den Anruf direkt weitergeleitet.«

»Musste Maître Delmas ihr noch ein Papier für die Erbschaftssteuer aushändigen?«

»Nein«, erwiderte sie, »die Akte haben wir Anfang der Woche geschlossen.«

Hat Marie das als Vorwand genommen, um mich zu beschwichtigen?, fragte er sich und spürte für einen Moment einen gewissen Unmut. Aber nein, sie hatte ihn nicht angelogen, dessen war er sich sicher.

Leblanc bat die Sekretärin, im Vorzimmer zu bleiben und es nicht zu verlassen. Das nahm sie anscheinend persönlich und weigerte sich, dieser Anweisung Folge zu leisten. Daher musste er ihr das Prozedere einer Hausdurchsuchung erklären. Die Notarin bestätigte seine Worte. Delmas’ Angestellte schien eher zart besaitet und fürchtete sich offenbar vor den möglichen Reaktionen ihres Chefs. Anscheinend war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Ein Polizist stellte sich an die Eingangstür, und der andere folgte Leblanc, Martin und der Notarin in das Arbeitszimmer des Notars.

Leblanc schaute sich in dem überfüllten, dunklen Raum um und streifte die verhassten Einweghandschuhe über. Hier etwas finden zu wollen glich der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

»Wonach suchen wir konkret?«, fragte Martin und hängte seine Jacke ordentlich über einen Stuhl.

»Etwas, das in Verbindung mit Girard und Lacroix steht. Und wenn wir Glück haben, ein Indiz zum Stichwort ›Jeanne Calment‹.«

»Dann gehe ich gleich mal an den Rechner«, sagte Martin voller Tatendrang.

Leblanc betrachtete den völlig überalterten Computer. Auf der angestaubten Tastatur lagen weitere Akten, und die Maus sah vorsintflutlich aus.

»Wenn ich mir den Rechner so ansehe, glaube ich nicht, dass der Notar ein großer Computerfreak ist. Lassen Sie uns vielleicht erst nach einer Akte suchen.«

Leblanc überlegte, wo er anfangen sollte. Den Computer würde er später Martin überlassen, der im Gegensatz zu ihm ein richtiger Nerd war. Er setzte sich an den massiven Schreibtisch, auf dessen linker Seite vor einem alten Monitor mehrere Aktenberge lagen.

Martin schaute sich aufmerksam im Raum um, so als würde er ihn scannen. Er würde beim Suchen eine gute Hilfe sein. Außerdem schätzte Leblanc den Optimismus des Inspektors.

»Wo würden Sie denn eine Akte verstecken, die keiner finden soll?«, fragte Leblanc seinen Mitarbeiter.

Ohne ein weiteres Wort zog der Inspektor weiße Gummihandschuhe an und ging dann, wie es seine Art war, methodisch vor. Er fing in der rechten Ecke des großen Raumes an und nahm sich akribisch ein Regal nach dem anderen vor. Überall standen Aktenordner. Alles, was er anfasste, legte er anschließend wieder an den ursprünglichen Platz zurück. Dem leicht angewiderten Gesichtsausdruck, den er hin und wieder zeigte, entnahm Leblanc, dass dieser Ort keinesfalls dem Sauberkeitsstandard seines Kollegen entsprach. Martin war da recht eigen. Vielleicht lag es aber auch an seiner Stauballergie. In der Garderobe ihres gemeinsamen Büros bewahrte er seine persönlichen Putzlappen auf, die er regelmäßig einsetzte.

Leblanc schaute kurz durch die Akten – das meiste waren Erbschaftsangelegenheiten und Kaufverträge. Er fand nichts, was mit Girard oder Lacroix zu tun hatte. Dann begann er, den Schreibtisch zu durchsuchen, der links und rechts jeweils vier große Schubladen hatte, die nicht abgeschlossen waren. Er öffnete eine Schublade nach der anderen. Darin waren Stifte, Papiere, Krimskrams, Akten, Schokolade, Schreibblöcke, Rechnungen, Bonbonpapiere … Alles Mögliche, was sich im Laufe der Jahrzehnte so in Schubladen ansammelte. Und Maître Delmas, der anscheinend gern Süßes aß, hatte hier wohl noch nie aufgeräumt. Nach den Schubladen zu urteilen war Delmas eher ein Chaot und nicht der penible Notar, als der er von den Leuten beschrieben wurde.

Leblanc kramte weiter, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Der elektrische Rasierapparat in einer der oberen Schubladen rechts überraschte ihn nicht weiter. Offenbar schlief der Notar tatsächlich öfter im Büro. Delmas verbrachte in diesen vier Wänden vermutlich seit Jahrzehnten den größten Teil seines Lebens, und doch war nicht ein persönlicher Gegenstand zu finden, der auf irgendein Interesse oder ein Hobby hindeutete. Außer den Süßigkeiten. Hatte er zu Hause vielleicht auch ein Arbeitszimmer? Wohl eher nicht, vermutete Leblanc, als er an die Begegnung mit Delmas’ kaltschnäuziger Ehefrau dachte. Wahrscheinlich war der Notar die meiste Zeit auf der Flucht vor seiner Angetrauten.

Leblanc hörte, wie es an der Eingangstür läutete. Durch die gepolsterte Tür, farblich abgestimmt auf das schwere braune Chesterfield-Sofa, war das Klingeln kaum zu vernehmen gewesen. Er bedeutete dem Polizisten im Büro, die Tür zu öffnen, und wurde dann Zeuge, wie der Kollege vor dem Eingang einem Klienten erklärte, dass die Kanzlei geschlossen war. Dieser beschwerte sich bitterlich, dass er gerade vierzig Kilometer gefahren sei, um Maître Delmas zu treffen, ehe er wütend die Kanzlei verließ. Das Telefon im Büro läutete ständig, und die Sekretärin lief hektisch hin und her. Ohne ihren Chef schien sie kopflos zu sein.

Leblanc widmete sich weiter Delmas’ Schreibtisch. Dieser würde ihm schon noch sein Geheimnis verraten, hoffte er. Die Notarin hatte auf einem Besucherstuhl Platz genommen und machte sich Notizen. Er war ihr dankbar, dass sie sich nicht einmischte.

Doch nach einer Weile kam die Sekretärin herein und rief empört: »Das können Sie nicht machen! Niemand darf an den Schreibtisch von Maître Delmas. Nicht einmal ich.«

Eine Mitarbeiterin der alten Schule, dachte Leblanc, die würde immer loyal zu ihrem Chef stehen.

»Seien Sie versichert, ich darf das, Madame. Aber wo Sie gerade hier sind: Sagt Ihnen eine Akte mit den Namen Girard oder Lacroix etwas?«

»Nein, nie gehört.«

»Sicher?«

»Monsieur le Commissaire, ich kenne hier jede Akte«, machte sie in strengem Ton deutlich. Sie schaute hinüber zu Martin, der noch immer die Regale durchforstete. »Und wenn Sie mir sagen, was Sie genau suchen, hole ich Ihnen gern die entsprechenden Unterlagen. Ich leite dieses Büro seit sechsundzwanzig Jahren und habe jedes Blatt persönlich abgelegt. Was Sie gerade durchsehen, sind Akten bis zum Jahre 2000.«

Martin drehte sich zu ihr um. »Das habe ich auch schon bemerkt«, sagte er. »Das sieht alles nach sehr gut organisierter Ablage aus. Man sieht, dass Sie Ihr Handwerk perfekt beherrschen.«

Leblanc wusste, dass Martin es wirklich so meinte, und der Sekretärin schien das Kompliment gutzutun. Zum ersten Mal an diesem Morgen zeigte sich der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht.

»Haben Sie denn je von einem Kaufvertrag für das Durand-Anwesen gehört?«, bohrte Leblanc weiter.

»Wie? Meinen Sie das von Madame Durand in Saint-André?«

»Ja, genau.«

»Nein, das ist doch nicht zu verkaufen!«

»Sicher?«

»Absolut. Das wüsste ich.«

»Liegt das Testament von Madame Durand bei Ihnen?«

»Natürlich. Sie hat es ungefähr vor zehn Jahren auf den neuesten Stand gebracht.«

»Kann ich es bitte sehen?«

»Wenn Sie möchten. Da es vor einigen Jahren hier hinterlegt wurde, ist es noch nicht digitalisiert. Das arbeite ich nach und nach ab, wann immer ich Zeit dafür finde. Ich gehe die Akte schnell holen.« Zielstrebig eilte sie in ihr Büro.

Leblanc atmete tief durch. Marie hatte ihm von ihrer Vermutung erzählt, dass Hélène Bouet das Durand-Anwesen erben würde, und jetzt konnte er nachprüfen, ob das tatsächlich stimmte. Er durchsuchte weiter den Schreibtisch und entdeckte in der rechten untersten Schublade etwas, das sein Interesse weckte. Es waren Belege des Spielcasinos von Bordeaux – und zwar sehr viele. Sie lagen, versteckt unter anderen Papieren, in einer amtlich aussehenden Mappe. Leblanc zeigte sie dem Inspektor. Die Notarin reckte den Hals.

»Und was sagt uns das, Martin?«

»Das sind viele. Ich würde darauf tippen, dass Maître Delmas ein Problem hat.«

Leblanc erhob sich, ging die Quittungen durch und warf sie dann auf die Schreibtischplatte.

»Sieht sehr nach Spielsucht aus.«

Die Sekretärin kehrte zurück und wirkte verwirrt. Eine lange Haarsträhne hatte sich aus ihrem grauen Dutt gelöst und fiel in Wellen auf ihr beiges Twinset.

»Das Testament von Madame Durand ist nicht mehr da. Dabei weiß ich genau, wo es abgelegt sein muss. Ich verstehe das nicht.« Das ging ihr offensichtlich gegen die Ehre. »Hier ist alles alphabetisch geordnet, und ich hefte immer alles persönlich ab. Da lasse ich auch keinen Praktikanten ran. Der Name Durand müsste unter ›D‹ einsortiert sein.«

»Legt Ihr Chef manchmal Akten ab?«

»Maître Delmas hat weiß Gott anderes zu tun«, antwortete sie voller Ehrfurcht.

Leblanc sah Martin an, dass ihn etwas beschäftigte.

»Laufende Akten sind alle alphabetisch geordnet?«, fragte der Inspektor.

»Ja.«

»Dann müsste also Calment unter ›C‹ abgelegt werden«, schlussfolgerte er.

Die Sekretärin schaute ihn ratlos an, aber Leblanc wusste sofort, worauf der Inspektor anspielte. Um eine Akte zu verstecken, könnte Delmas – der nie eine ablegte – sie alphabetisch korrekt eingeordnet haben. Also Calment unter »C«. Ganz einfach. So würde die Sekretärin die Akte nie bemerken.

»Würden Sie uns bitte zu dem Aktenschrank führen?«, fragte Leblanc.

Sie folgten der Sekretärin ins Sekretariat, wo sie auf eine geöffnete Schrankwand deutete. Martin glitt mit dem Zeigefinger über die Akten und hielt beim Buchstaben »C« inne.

»Ca… Calment! Et voilà!« Er zog eine lindgrüne Mappe heraus und reichte sie Leblanc. Da stand handschriftlich »Jeanne Calment«. Die Sekretärin kam näher, sichtlich irritiert.

»Ist das die Handschrift von Maître Delmas?«, wollte Leblanc von der Sekretärin wissen.

Sie nickte verständnislos.

»Was ist das für eine Akte? Wo kommt die denn her?« Eine weitere Strähne hatte sich aus ihrem Dutt gelöst. Lange würde er nicht mehr halten.

Der ordnungsliebende Martin schaute besorgt auf die derangierte Frisur. Es schien ihm nur mit Mühe zu gelingen, die Sekretärin nicht darauf anzusprechen.

Leblanc blätterte durch die Akte und lächelte dann den Inspektor an.

»Bravo, Martin! Genau das haben wir gesucht.«

Dann wandte er sich an die Sekretärin. »Merci, Madame. Die Akte borge ich mir aus.«

Sie war völlig überfordert und nickte nur noch.

Leblanc wandte sich wieder an Martin. »Ich denke, wir sind hier fertig und machen jetzt eine Spritztour nach Bordeaux. Können Sie eigentlich pokern?« Natürlich wusste er, dass Martin kein Spieler war, aber er ging davon aus, dass sein Kollege den Wink verstand.

Leblanc ging noch einmal in Delmas’ Büro und steckte die Spielquittungen ein. Dann bat er die uniformierten Polizisten, bis auf Weiteres die Kanzlei zu überwachen und ihn zu informieren, falls der Notar doch noch auftauchte. Er bedankte sich bei der Notarin und versprach, sie über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Beim Hinausgehen verabschiedeten er und Martin sich freundlich von der Sekretärin, die inzwischen hinter ihrem Schreibtisch saß und reichlich verloren aussah. Leblanc hatte Mitleid mit ihr. Die Erkenntnis, dass ihr Chef ein ganz anderer Mensch war, als er jahrzehntelang vorgegeben hatte, war für sie sicherlich nicht leicht zu verkraften.